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Grünen-Chefin Baerbock im Interview„Niemand hat ein Abo aufs Kanzleramt“

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Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, will anpacken, Dinge besser machen, verändern.

  • Die Vorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, will sich weder auf Schwarz-Grün noch auf Rot-Rot-Grün festlegen.
  • Die Frage nach der Kanzlerkandidatur lässt sie offen.
  • Eines macht Baerbock aber klar: Dass sie eine andere Politik will als die von Angela Merkel.

Frau Baerbock, der SPD-Politiker Franz Müntefering sagte einst: “Opposition ist Mist.” Hatte er Recht? Annalena Baerbock: Nein. Aber in Regierungsverantwortung kann man logischerweise deutlich mehr gestalten. Und das ist für mich Aufgabe von Politik: anpacken, Dinge besser machen, verändern.

Im nächsten Jahr findet die Bundestagswahl statt. Werden Sie Kanzlerkandidatin?

Alles zu seiner Zeit. Wir stecken mitten in einer Pandemie. Viele Unternehmen, die Kneipe, das Kino um die Ecke, Menschen in Kurzarbeit wissen nicht, wie sie die nächsten Monate überstehen. Schulen und Kitas bibbern jeden Tag, ob sie ganze Jahrgänge wieder nach Hause schicken müssen. Jetzt den Wahlkampf einzuläuten, indem man 13 Monate vor der Wahl Kanzlerkandidaten ausruft, finde ich falsch. Wir haben jetzt echt anderes zu tun.

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Für die Zeit nach der Wahl wird am häufigsten über zwei Koalitionsvarianten diskutiert: Schwarz-Grün und Rot-Rot-Grün. In welcher Konstellation würden Sie lieber regieren?

An der Frage sieht man schon, wie sinnfrei solche Farbspielchen 13 Monate vor der Wahl sind. Wir sind seit fast zwei Jahren zweitstärkste Kraft in den Umfragen. Was wäre ich für eine schlechte Parteivorsitzende, wenn mein Anspruch bei der nächsten Wahl wäre, mich hinter SPD und Linken einzusortieren oder die Union erneut im Kanzleramt zu sehen. Wir fordern doch die Union heraus. Nur so können wir richtig was verändern im Land. Und eine Regierungsbeteiligung werden wir strikt danach entscheiden, mit wem wir unsere inhaltlichen Projekte am besten umsetzen können. Und natürlich muss es ein stabiles Bündnis sein, das auch in unvorhergesehenen Krisen trägt.

Nun hat Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine klare Präferenz für Schwarz-Grün geäußert und zu den Worten Ihres Co-Vorsitzenden Robert Habeck, er wolle stärker werden als CDU und CSU, gesagt, die Grünen sollten aufhören zu träumen. Was sagen Sie dazu?

Es geht ja nicht um Träumereien, sondern um demokratische Alternativen. Das ist Sinn und Zweck von Demokratie. Niemand hat ein Abo aufs Kanzleramt. Wir haben als Partei klare politische Ziele und den Willen, sie zu erreichen. Und ich habe keine große Neigung, uns als Juniorpartner von irgendwem einpreisen zu lassen, auch nicht von der Union.

Wann hört Kretschmann auf, den Grünen in die Parade zu fahren?

Ach wissen Sie, alle Parteien haben doch Ministerpräsidenten mit eigenen Meinungen. Das halten wir aus.

Tatsächlich legen sich die Grünen vor Wahlen immer seltener auf Koalitionen fest und regieren anschließend ja auch meistens mit allen möglichen Parteien. Ist das nicht sehr beliebig?

Nein, das ist eine demokratische Notwendigkeit. Als Partei machen wir unser politisches Angebot, jede Partei ihr eigenes. Dann entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Und wir als Parteien müssen dann eine handlungsfähige Regierung bilden können. Das ist doch unser Job! Deshalb halte ich es für zentral, dass alle demokratischen Parteien untereinander gesprächsbereit sind. Was passiert, wenn Demokraten das in heiklen Momenten nicht sind, haben wir in erschreckendem Maße in Thüringen gesehen.

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Dabei wird oft gar nicht mehr deutlich, wo die Grünen noch den Unterschied ausmachen – wie zum Beispiel in Hessen, das sich zu einem Hotspot des Rechtsextremismus entwickelt hat, ohne dass die Grünen dagegen noch hörbar protestieren.

Das stimmt nicht. Die hessischen Grünen haben sich klar positioniert. Im Übrigen ist doch entscheidend, was in der Regierung wirklich getan wird. Und die hessischen Grünen haben darauf hingewirkt, dass es ein neues System der Zertifizierung gibt, so dass keine illegalen Abfragen mehr über Polizeicomputer erfolgen können. Es gibt zukünftig einen unabhängigen Polizeibeauftragten sowie eine Kommission, die die ganzen Vorfälle untersuchen soll. Und: Die hessischen Grünen haben selbstkritisch eingeräumt, dass sie für die Einsetzung eines NSU-Untersuchungsausschusses hätten stimmen sollen. Rassismus und Rechtsextremismus sind aber leider weiterhin die größte Bedrohung in unserem Land. Daher müssen wir hier alle mehr tun. Es darf nicht sein, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft Angst haben müssen.

Trotzdem: Gibt es für eine Koalition auf Bundesebene Forderungen, die unbedingt erfüllt sein müssen, damit Sie eintreten? Oder machen Sie alles mit?

Die Liste von Dingen, die wir anpacken müssen, ist lang. Die Klimakrise verschärft sich. Zentral ist daher, die Wirtschaft klimaneutral zu machen, damit sie auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleibt. Wir müssen unser Gesundheitssystem krisenfester machen, dafür sorgen, dass Pflegerinnen und Pfleger gut bezahlt werden. Und vor allem – und das ist für mich der zentrale Auftrag aus der Pandemie: Kinder und Bildung müssen endlich zur Chefsache in diesem Land werden. Es darf uns nicht noch einmal passieren, dass sich mitten in einer Krise plötzlich niemand mehr richtig zuständig für die Jüngsten im Land fühlt. Dass Schulen und Kitas geschlossen bleiben, weil Fenster nicht geöffnet werden können, Klassenräume viel zu klein und nicht digitalisiert sind, ist ein wirkliches Armutszeugnis für so ein starkes Land. Statt einem Kooperationsverbot braucht es ein Kooperationsgebot bei der Bildung.

Wo wir gerade bei der Klimapolitik waren: Mehrere “Fridays for Future”-Aktivisten wollen für den Bundestag kandidieren, allen voran Jakob Blasel aus Schleswig-Holstein. Unterstützen Sie das?

Es ist klasse, dass sich junge Menschen politisch einbringen. Und Jakob Blasel, aber auch andere, haben sich ja nicht jetzt urplötzlich für die Grünen entschieden, sondern sind schon länger Mitglied. Teil unserer bündnisgrünen DNA ist auch, Leute auf unseren Listen zu haben, die aus Bewegungen gekommen sind. Sei es in der Vergangenheit von Attac oder von Menschenrechtsorganisationen.

Blasel will Radikalität ins Parlament tragen, wie er sagt. Ist das eine schlechte Nachricht für die Grünen, weil sie ja gar nicht mehr so radikal sind, oder eine schlechte Nachricht für Blasel, weil er sich im Bundestag die Hörner abstoßen wird?

Radikal heißt ja, Probleme bei der Wurzel zu packen. In diesem Sinne sind wir radikal und verantwortungsbewusst zugleich. Für mich sind klare Forderungen und Kompromisse kein Widerspruch. Insofern finde ich es auch richtig, dass eine Jugendbewegung sagt, Leute, wir sind der Stachel im Fleisch. Ich halte es für essenziell in einer Demokratie, dass politische Parteien von Bewegungen getrieben werden und Vertreter dieser Bewegungen zugleich auch für Parlamente kandidieren.

Die Bundestagswahl wird in jedem Fall im Zeichen des Verzichts auf eine erneute Kandidatur von Angela Merkel stehen. Damit endet im nächsten Jahr nach 16 Jahren ihre Kanzlerschaft. Ist diese Lücke überhaupt zu füllen?

Angela Merkel ist anfangs oft belächelt worden, heute ist sie für viele weltweit die Repräsentantin demokratischer Werte, gerade in Zeiten von Putin, Trump, Bolsonaro oder Erdogan. Das ist eine bemerkenswerte Leistung. Und sie war in der Lage, unter dem Druck von Krisen ihren Kurs zu ändern. Für die Zukunft will ich aber, dass wir nicht erst eine Krise brauchen, um in die Puschen zu kommen, sondern dass wir vorausschauend Politik machen. Bei Klima, Finanzmärkten, Europa. Dann können wir mutig und gewappnet in die Zukunft gehen. Nach 16 Jahren sehe ich es als Verpflichtung, jetzt auch wirklich ein neues Zeitalter einzuleiten.

Gibt es etwas, was Sie sich von Merkels Art, Politik zu machen, abgucken können?

Sicherlich, dass jede Politikerin ihren eigenen Stil hat und ihren eigenen Weg gehen sollte. Angela Merkel hat ihre Art, ich habe meine. (RND)

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