Das Ende von #MeToo?Im Fall „Johnny Depp vs. Amber Heard“ gibt es nur Verlierer

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Johnny Depp schmunzelt in Richtung Jury vor Gericht.

Die Schlammschlacht zwischen Johnny Depp und Amber Heard elektrisierte die Welt. Das Urteil ist ein juristischer Triumph für den Hollywoodstar – und ein gefühlter Sieg für Millionen Social-Media-User, die sich mit nie gekannter Grausamkeit auf seine Exfrau eingeschossen hatten. Ist #MeToo jetzt am Ende? Eine Analyse von Imre Grimm.

Ein Ehepaar hat sich getrennt. Man liebte sich mal, gewiss, doch dann gab es Streit, Tränen, Lügen, auch Gewalt. Es wird bitter. Man trifft sich vor Gericht und wäscht Schmutzwäsche. Wer hat wen wann und wie gedemütigt, belogen, geschlagen? Es ist das Ende einer toxischen Beziehung. So weit, so traurig normal. Millionenfach passiert das, jedes Jahr.

Prozess begeisterte millionen Zuschauer per Livestream

Am Fall „Amber vs. Depp“ aber war gar nichts normal. Sicher, es gab schon zuvor spektakuläre, öffentliche Prozesse: um Michael Jackson, um seinen Leibarzt Conrad Murray, um O.J. Simpson, Britney Spears, Lindsay Lohan, Paris Hilton. Seit Jahrzehnten aber hat kein Prozess ein True-Crime-versessenes Publikum stärker elektrisiert als dieser. Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer verfolgten wochentags von 9 bis 17.30 Uhr die Livesendungen aus dem Fairfax County Courthouse.

Was sie dort sahen, nannte das durchaus ehrwürdige Magazin „New Yorker“ einen „Racheporno“. Es ging um eine abgetrennte Fingerkuppe, ein verwüstetes Penthouse, um Videoaufnahmen, in denen Depp Geschirr durch den Raum wirft, um Körperflüssigkeiten, überschminkte Blutergüsse, um Blut auf der Wand, intime Textnachrichten, Lügen, Alkohol, Drogen, Hass – im Kern also um physische und psychische Gewalt in einer toxischen Beziehung. All das live auf Youtube. Das besondere Problem, sagte Richterin Penney Azcarate, sei, „dass der Gerichtssaal in diesem spezifischen Fall die Welt zu sein scheint“.

Urteil: 10,35 Millionen Dollar muss Heard an Depp zahlen

Am Ende, nach sieben Wochen, fällten die fünf Männer und zwei Frauen in der Jury ein Urteil, das sich für Depp wie ein Triumph anfühlen muss: 10,35 Millionen Dollar muss ihm seine Exfrau Heard wegen Verleumdung zahlen. Sie habe sich, so das Gericht, 2018 in einem Gastbeitrag in der „Washington Post“ (in dem sie Depps Namen nicht nannte) ohne Grundlage als Opfer häuslicher Gewalt dargestellt. Umgekehrt muss zwar auch er 2 Millionen Dollar an sie überweisen – sein Anwalt hatte sie fälschlicherweise bezichtigt, ein Appartement verwüstet zu haben, um Depps Ruf zu beschädigen –, am Ende aber war die Jury aus fünf Männern und zwei Frauen überzeugt: Amber Heard hat gelogen.

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Amber Heard umarmt ihre Anwältin Elaine Bredehoft.

Das ist das juristische Urteil (das Heards Team anfechten will). Das gefühlte Urteil freilich hatten Millionen Tiktok-Hobbydetektive lange vorher gefällt. Über Wochen wurde vor allem Heard beleidigt, gedemütigt, parodiert und bedroht. So heftig, so grausam, dass die „New York Times“-Kolumnistin Michelle Goldberg „das Ende von #MeToo“ ausrief. Es schien, als öffneten sich alle Schleusen, als kristallisiere an „Depp vs. Heard“ der ganze Frust sich gedemütigt fühlender Männer, deren Weltbild die #MeToo-Welle ins Wanken gebracht hat. Endlich bekommt eine dieser aufmüpfigen Verleumderinnen mal ihre Grenzen aufgezeigt!

Massenhafte Verachtung gegen Heard

Natürlich: Ein Gericht hat im Namen des Volkes ein Urteil gefällt. Daran gibt es wenig zu deuteln. Die massenhafte Verachtung gegen Heard aber, die seit Monaten aus Millionen Netzkommentaren troff, und das Triumphgeheul nach dem Urteil lässt sich in Teilen kaum anders lesen denn als frauenfeindliche Häme. So viele Fragen blieben offen in diesem Fall, so viele Grausamkeiten ungesühnt – aber medial zerstört wurde nicht er, sondern sie. „Die toxischsten Teilnehmer dieses Prozesses sind die Zuschauer zu Hause“, schrieb das Satiremagazin „The Onion“, inhaltlich auch kein Kind von Traurigkeit.

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Heard war gewiss keine Unschuldige. Sie wurde mehrerer Lügen überführt. Sie hat Depp geschlagen. Auch weinte sie öffentlich recht wirkungsvoll. Doch ihre kollektive Zerstörung erreichte nie gekannte Ausmaße. „Depp vs. Heard“ war wie der O.J.-Simpson-Prozess auf Drogen. Umgekehrt flogen Depp, dem einst so charmanten Exzentriker, dem erratischen, fröhlichen Piratenkapitän Jack Sparrow aus „Fluch der Karibik“ massenhaft die Herzen seiner noch immer stabilen Fanbasis zu, obwohl auch er in Textnachrichten an Kumpel Paul Bettany darüber fantasiert hatte, seine Exfrau zu verbrennen und ihre Leiche zu schänden, um sicherzustellen, „dass sie wirklich tot ist“.

Psychisch labile Verführerin vs. Unschuldiger Lebenskünstler

Die Rollen aber waren klar verteilt: Hier die psychisch labile Verführerin, dort der unschuldige Lebenskünstler. „Glauben Sie allen Frauen – außer Amber Heard“, rief US-Komiker Chris Rock in einer Show, Wochen vor dem Urteil. Schon 2016, nachdem Heard die Scheidung eingereicht hatte, schrieb Depp an seinen Agenten Christian Carino über Heard „Sie bettelt um die totale globale Demütigung.“ Und weiter: „Sie wird sie bekommen.“ So viel kann man sagen: Das hat sie.

Nein, an diesem traurigen Fall war nichts normal. Nicht die „Fuck Amber Heard“-Kaffeetassen, die es für 12,90 Dollar auf Etsy zu kaufen gab. Nicht die 16,2 Milliarden Klicks, die der Hashtag #JusticeForJohnnyDepp auf Tiktok einsammelte. Nicht die Onlinepetition mit mehr als 4,4 Millionen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern, die forderten, man möge Amber Heard digital aus dem Film „Aquaman“ entfernen. Und vor allem nicht die spektakuläre Unerbittlichkeit, mit der Millionen Userinnen und User im Netz quasi als virtuelle Geschworene eine monströse Hexenjagd veranstaltet hatten. Jede Träne, jede fahrige Geste, jede verrutschte Mimik wurde zum Meme. Und auch in klassischen Medien erschienen überwiegend Heard-Fotos, auf denen sie unvorteilhaft und unsouverän wirkte.

Influencer kommentierten Prozess live

Nicht wenige prominente Tiktoker sattelten spontan um und kommentierten statt Videogames lieber den Prozess – das erhöhte die Klickzahl. Sie ergötzten sich an frivolen Details aus der Jauchegrube dieser zerstörten Zweisamkeit. Ganz so, als sei das Prozessgeschehen nur eine spektakuläre Soap, quasi Liveentertainment, aus dessen Material sich allerhand lustiger Netzcontent basteln lässt. All dies speise „tragischerweise genau den misogynen Mythos, dass Übergriffe durch einen als attraktiv und begehrenswert geltenden Menschen gar keine sexuelle Gewalt sein können“, schreibt die „Übermedien“-Kolumnistin Samira el Ouassil – „denn bei schönen Menschen ist es ja keine Belästigung, sondern ein Kompliment!“

Noch immer scheint die Erkenntnis, dass auch die Prominenz des Planeten nicht vor den Fährnissen des Lebens gefeit ist, dem Publikum im eigenen kleinen Leben Trost zu spenden. Für Millionen Tiktokerinnen und Tiktoker war er ein zynisches Spiel. Für zwei Menschen dagegen bitterer Ernst. Es gibt nur Verlierer. (rnd)

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