Drei Monate DeutschlandWie eine geflüchtete Ukrainerin die Rückkehr nach Kiew erlebt

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Bahnhof Polen-Ukraine

Menschen stehen am Bahnhof der polnischen Grenzstadt Przemysl und warten auf ihrer Weiterfahrt in die Ukraine. Von hier fährt die Bahn über Lviv nach Kiew.

Berlin/Kiew – Mehr als 800.000 aus der Ukraine Geflüchtete wurden in Deutschland registriert. Aus der Flucht ist eine Pendelbewegung geworden: Immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer kehren zurück – zeitweise oder für immer. „Fast täglich heulen die Sirenen“, berichtet eine von ihnen dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND). „Aber ich habe mich lange nicht mehr so ruhig gefühlt.“

Sonntag, 6 Uhr, ein Hostel in Berlin-Charlottenburg: Darina Kostutschenko hat ihre Sachen gepackt. Ein kleiner Rollkoffer, ein Rucksack, ein Beutel, mehr ist es nicht nach drei Monaten im Exil. Um 7 Uhr fährt der Bus vom Zentralen Omnibus­bahnhof. Doch im Fernsehen und in den Telegram-Gruppen flimmern schlechte Nachrichten über den Bildschirm: Wieder einmal schießen die Russen Raketen auf Kiew, wieder einmal gibt es Luftalarm in Kostutschenkos Heimat, wieder einmal ist der Krieg ganz nah.

Soll sie wirklich fahren? Ihre Großmutter hatte ihr ins Gewissen geredet, hatte ihr fast täglich Artikel in die Familien­chatgruppe geschickt: Die Russen würden eine erneute Offensive auf Kiew vorbereiten, es sei noch nicht sicher, zurückzukehren. Die Großeltern haben sich entschieden, vorerst in Deutschland zu bleiben. Sie haben eine Wohnung gefunden und sich im Exil eingerichtet. Ihre Enkelin aber will zurück, ihr Freund feiert am Dienstag Geburtstag, sie wollen sich endlich wiedersehen.

Sonntag, 7 Uhr, Zentraler Omnibusbahnhof Berlin: Der Bus fährt ab, und Darina ist an Bord. Sie hat nur drei Stunden geschlafen, die ganze Nacht gepackt, dazu die Aufregung. Der grüne Flixbus fährt nach Przemysl in Südostpolen. Seit Kriegsbeginn ist die Grenzstadt die Hauptdrehscheibe zwischen der Ukraine und der EU. Spät am Abend fährt hier der direkte Zug nach Kiew ab.

Kostutschenko teilt ihr Ziel mit vielen Mitreisenden im Bus: „Es waren viele Ukrainerinnen und Ukrainer an Bord“, erzählt die 22-Jährige dem Redaktions­­Netzwerk Deutschland (RND).

Aktuell halten sich die Zahlen die Waage

Aus der Fluchtbewegung vor dem russischen Überfall auf die Ukraine ist längst eine Pendelbewegung geworden. Busse und Züge Richtung Ukraine sind an vielen Tagen ausgebucht. Der polnische Grenzschutz gibt täglich die Zahlen der Grenzübertritte wie Wasserstands­meldungen an.

Seit Kriegsbeginn sind mehr als vier Millionen Menschen aus der Ukraine Richtung Polen ausgereist, mehr als zwei Millionen fuhren in die Gegen­richtung. Aktuell halten sich die Zahlen die Waage: An einem normalen Montag passierten jeweils rund 20.000 Menschen die Grenzkontrollen in beide Richtungen.

Am vergangenen Wochenende hat die ukrainische Eisenbahn zwei neue tägliche Nachtzüge von Przemysl in den Fahrplan aufgenommen, einen Richtung Kiew, einen Richtung Dnipro und Saporischschja. Der Bedarf ist da, in beide Richtungen.

„Die meisten Ukrainer kehren zurück, schon längst“

Ganz genau 850.719 aus der Ukraine Geflüchtete sind seit Kriegsbeginn bis Mitte Juni im deutschen Ausländer­zentral­register erfasst worden. Wie viele davon weitergereist oder zurückgekehrt sind, erfasst die Statistik nicht.

„Die meisten Ukrainer kehren zurück, schon längst. Es sind mehr Menschen, die abreisen aus diesem Land, als zu Ihnen kommen“, sagte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk kürzlich. Man sollte sich in Deutschland Gedanken darüber machen, wieso viele Ukrainer „keine Lust haben, hier zu bleiben“, fügte Melnyk hinzu.

Bei der jungen Kiewerin Kostutschenko und ihren ebenfalls zurückgekehrten Freundinnen mischt sich ein Anteil Enttäuschung über Deutschland unter die anderen Motive: Heimweh, Sehnsucht nach dem Freund und den Freunden – und ein Gefühl, dass ein gemeinsames Schicksal besser an einem Ort zu ertragen ist.

„Immer, wenn ich von einem Angriff auf Kiew hörte oder auf Dnipro, wo ich aufgewachsen bin, habe ich alle meine Freunde kontaktiert, weil ich mir Sorgen gemacht habe“, berichtet sie. „Aber für sie war das Alltag und meistens weit weg. Bitte ruf nicht mehr jedes Mal an, haben sie irgendwann gesagt.“ Doch die Sorgen blieben – und das Gefühl, im Exil ausgeschlossen zu sein. „Meine Freundinnen in der Ukraine treffen sich jeden Tag, kochen, unternehmen etwas zusammen. Das Leben geht weiter. Sie fühlen den Krieg, aber sie sind nicht im Krieg.“

Kann sie Fotos vom Italien-Urlaub posten?

Kostutschenko fuhr Ende Mai für ein paar Tage an den Comer See – und dachte lange darüber nach, ob sie Fotos von der Reise in den sozialen Netzwerken zeigen sollte. Vielleicht würde ihr jemand einen Vorwurf machen, dass sie es sich auf der Flucht zu gut gehen ließ.

Zwölf Stunden dauert die Fahrt im Bus bis Przemysl. Eine Mitreisende leidet jede Minute mehr: Ihr Sohn wurde an der Front schwer verwundet, er liegt im Armee­krankenhaus. Sie will so schnell wie möglich zu ihm, zeigt sein Foto, bricht in Tränen aus. Noch 20 Stunden bis Kiew. Tage später wird Kostutschenko hören, dass der Sohn ihrer Reisebekanntschaft es nicht geschafft hat.

Sonntag, 21 Uhr, Bahnhof Przemysl Glowny: Die Schlange vor der Pass­kontrolle ist fast einen halben Kilometer lang, aber sie bewegt sich schnell. In zwei Stunden fährt der Zug nach Kiew. Der IC 716 ist ein moderner Schnellzug aus südkoreanischer Produktion mit Großraum-Sitzwagen. Liegen gibt es nicht für die Fahrt, die bis zum nächsten Mittag dauern soll. Die Nacht senkt sich über die Grenzstadt, doch der voll besetzte Zug fährt nicht los. Mit zwei Stunden Verspätung rollt er an, erst nach Lwiw, dann Richtung Kiew.

Montag, 11.25 Uhr, Bahnhof Kiew-Passashyrskyj: „Es ist eine schwere und lange Reise, aber sie lohnt sich“, sagt Kostutschenko. „Viele kehren wie ich zurück nach Monaten im Ausland. In Kiew standen die Männer, Brüder und Söhne am Bahnsteig, um sie willkommen zu heißen. Das war ein sehr schöner Anblick.“ Die 22-Jährige hat ein Tiktok-Video von ihrer Rückreise gedreht und einen Song der ESC-Siegerband Kalush daruntergelegt. „Do domu“, heißt er: Nach Hause.

In Berlin kommen weiterhin neue Geflüchtete an

Doch nach Hause ist nicht die einzige Richtung, in die die Menschen aus der Ukra­i­ne unterwegs sind. Allein in Berlin kamen am Montag dieser Woche laut Senatsverwaltung 828 Geflüchtete neu an.

Vor dem Berliner Hauptbahnhof steht immer noch ein großes weißes Zelt, die „Welcome Hall“. Täglich wird sie von 2000 bis 3000 Menschen aufgesucht, berichtet Barbara Breuer von der Berliner Stadtmission, die die Halle betreibt. Es sind Neuankömmlinge, Rückreisende, Hilfesuchende. Die Neuen sind oft zu erkennen an Taschen und Tüten und einem suchenden Blick.

300 bis 500 Menschen pro Tag schicken die Helferinnen und Helfer weiter ins Ankunftszentrum im ehemaligen Flughafen Tegel. Andere haben ein klares Ziel, sie reisen Verwandten hinterher, die irgendwo in Deutschland eine Bleibe gefunden haben. Einige Dutzend nutzen allabendlich die „Welcome Hall“ als letzte Bleibe vor dem Abschied, verbringen hier eine kurze Nacht und steigen morgens um 5.15 Uhr in den ersten Zug nach Warschau.

Kostutschenko hatte sich auf den Kriegsbeginn vorbereitet

Wieder andere wollen bleiben, sie kommen mit Formularen und Aufforderungen der Behörden und suchen Rat. Zurzeit sitzen einige Geflüchtete finanziell auf dem Trockenen: Seit Juni ist das Jobcenter für die Hilfen zum Lebensunterhalt zuständig, nicht mehr die Asylbehörden. Wenn sich die Prüfung verzögert, fließt auch das Geld später. Wer keine Reserven hat, bekommt schnell Probleme.

Am ersten Kriegstag, dem 24. Februar, hatten sich Darina Kostutschenko, zwei Freundinnen und zwei Freunde frühmorgens ins Auto gesetzt. Sie waren vorbereitet, die Taschen seit Tagen gepackt, die Wohnungen geputzt. Nach Putins Reden in den Tagen zuvor begannen sie, das zuvor Undenkbare für möglich zu halten.

Sie hatten geglaubt, dass Europa ihnen helfen würde

Kostutschenkos Großmutter hatte schon seit Wochen gewarnt und gedrängt: Verlasst das Land! Aber sie blieben. Sie waren jung, hatten gute Jobs in der Medien- und Start-up-Branche der quirligen Hauptstadt. Sie kannten Krieg nur aus den Erzählungen der Weltkriegsveteranen, die in der Grundschule in die Klassen gekommen waren. Sie glaubten an das „Nie wieder“ und daran, dass Europa ihnen helfen würde.

Und dann saßen sie im Auto. Im Stau. Stundenlang bewegte sich gar nichts, sie sahen Flugzeuge am Himmel und gepanzerte Fahrzeuge der ukrainischen Armee in der Gegenrichtung. Sie hatten vollgetankt, fuhren 24 Stunden, ohne anzuhalten, schauten unentwegt auf ihre Handys.

Dann kamen sie an, völlig übermüdet, im Kurort Truskawez in der Westukraine. Er schien weit genug weg von der Front. Doch als auch Lwiw bombardiert wurde, fuhren die Männer ihre Freundinnen an die polnische Grenze und machten ein Abschiedsfoto. Wenn alles vorbei ist, sehen wir uns wieder.

Die Behörden verloren fünfmal ihre Papiere

Vorbei war nur die Schlacht um Kiew, aber nicht der Krieg. Kostutschenko fuhr zu ihren Eltern, die in Dormagen am Rhein gelandet waren, sie lebten zwei Monate in einer Massenunterkunft in einer Schule. Die Behörden hätten fünfmal ihre Papiere verloren, sagt die junge Frau. Und als es eine Woche lang nur Sandwiches im Heim gab und sie sich beschwerten, habe die Antwort gelautet: Seid froh, dass ihr nicht im Bunker sitzt.

„Wir sind nicht gekommen, weil wir auf der Suche nach einem guten Leben waren“, sagt Kostutschenko. „Wir hatten das beste Leben, das wir uns vorstellen konnten. Und dann kam der Krieg.“

Ihre Freundin Liliia Bondarenko saß mit im Auto auf der Flucht aus Kiew am ersten Tag des Krieges. Sie ist schon seit ein paar Wochen zurück in Kiew, sitzt in ihrer alten Wohnung vor dem Bildschirm für ein Videotelefonat. „Ich hätte in Berlin bleiben können“, sagt Bondarenko. „Ich hatte einen Aufenthalts­status, eine Wohnung und einen Job in Aussicht.“

Wochenlang schlug sie sich mit den Papieren herum, dann half sie anderen Geflüchteten bei Behördengängen. „Ich hatte so viel zu tun, dass ich nicht nachdenken musste“, sagte sie. Doch als alles geregelt war, zögerte sie. „Als noch Frieden war, wäre das der Hauptgewinn gewesen: Ich bin in Europa, ich habe es geschafft. Doch nun war Krieg, ich machte mir täglich Sorgen, und es fühlte sich falsch an, zu bleiben.“

Den Deutschen dankbar – aber von Scholz enttäuscht

Zurück in Kiew, schreckte sie am ersten Morgen um 5.30 Uhr der Luftalarm aus dem Schlaf. „Fast täglich heulen die Sirenen“, berichtet Bondarenko. „Aber ich habe mich lange nicht mehr so ruhig gefühlt.“

Sie sagt, sie sei den Deutschen dankbar – den vielen freiwilligen Helfern auf dem Weg und in Berlin. Über die deutschen Politiker und Politikerinnen hingegen kann sie nicht viel Gutes berichten. „Mich interessiert es nicht mehr, ob Scholz jetzt nach Kiew kommt“, sagt sie. „Alles, was Macron und er tun, ist reden und mit Putin telefonieren.“

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