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Experten über Angriffe im SüdenIst das wirklich die große Gegenoffensive der Ukraine?

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Ukrainische Soldaten feuern Mörsergranaten auf russische Stellungen im Osten der Region Charkiw. 

Kiew – In der Region Cherson im Süden der Ukraine haben ukrainische Truppen nach eigenen Angaben mit einer Gegenoffensive begonnen. In der Nacht habe es Gefechte und schwere Explosionen gegeben, wie das ukrainische Militär mitteilte. Alle wichtigen Brücken über den Fluss Dnipro habe man zerstört, um Russland von Nachschublieferungen abzuschneiden. „Jetzt ist es offiziell: Der Kampf um Cherson hat begonnen“, erklärte die Regionalverwaltung von Odessa.

Nach Angaben des südlichen Einsatzkommandos des ukrainischen Militärs sei die erste Verteidigungslinie in den von Russland besetzten Gebieten durchbrochen worden. Mit westlichen Himars-Mehrfachraketenwerfern sollen mehrere Ziele nahe der Stadt Cherson angegriffen worden sein. Russland erklärte, die Angriffe abgewehrt zu haben. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.

Situation ist sehr unübersichtlich

Die Situation rund um Cherson ist sehr unübersichtlich, betonten Militärexperten. „Die Ukraine hat zwar möglicherweise die erste Verteidigungslinie durchbrochen, aber diese ist die am wenigsten gesicherte“, sagte Militärexperte Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies (IISS) in London.

„Es geht hierbei hauptsächlich darum, den Gegner in seinem Vormarsch zu verlangsamen und nicht zu stoppen“, erklärte er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die erste Linie sei sozusagen dazu da, durchbrochen zu werden, sage aber noch nichts über den Erfolg der Gegenoffensive aus. „Die große Herausforderung steht der Ukraine erst noch bevor.“

Kampf von großer strategischer Bedeutung

Der Kampf um Cherson ist von großer strategischer Bedeutung: Aufgrund der Nähe zur Krim würde eine Rückeroberung die russische Kontrolle der Landbrücke zur Krim erschweren. Für die Landwirtschaft, eine der wichtigsten Einnahmequellen der Ukraine, ist Cherson zentral. Ein Großteil des Getreides wird dort angebaut. Die Sprecherin des ukrainischen Süd-Militärkommandos, Natalija Humenjuk, rief die Menschen auf, die Region Cherson zu verlassen.

Unklar ist laut IISS-Experte Gady, ob die Ukraine tatsächlich bei Cherson ihre Gegenoffensive beginnt oder die Angriffe ein Ablenkungsmanöver sein sollen, um russische Truppen zu binden und anderswo anzugreifen. „In den vergangenen Wochen haben wir über offene Quellen nicht gesehen, dass ukrainische Verbände in großem Ausmaß in Richtung Cherson verlegt oder zusammengezogen wurden“, gibt Gady zu bedenken. Militärexperte Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München glaubt nicht, dass mit der großen Gegenoffensive bereits begonnen wurde, wie er auf Twitter erklärte. „Aber es sind erneut Angriffe, die die Russen auf dem falschen Fuß erwischen.“

Experte rechnet „nicht mit großen Durchbrüchen“

Wie CNN berichtete, sollen die ukrainischen Truppen mindestens vier Dörfer zurückerobert haben. Süd-Kommando-Sprecherin Humenjuk bestätigte das nicht. Es sei noch zu früh, um über zurückeroberte Orte zu reden. „Es finden zur Zeit Kämpfe statt und diese machen eine Informationsruhe erforderlich.“

Dass die Offensive die Russen innerhalb einer Woche bis zum Dnepr zurückdrängt, hält Gady für unrealistisch. „Ich gehe von einem langsamen Vorgehen aus und rechne nicht mit großen Durchbrüchen“, sagte er dem RND. Russland und die Ukraine befinden sich weiter in einem Abnutzungskrieg, so seine Einschätzung, und nun versuche die Ukraine eben im Süden, die russischen Streitkräfte abzunutzen.

Die Vorteile Russlands

Mit Vorteil Russland, da die Verteidigung der Südregion aus der Defensive einfacher sei. Außerdem habe sich Russland gut vorbereitet und Verteidigungsstellungen ausgebaut. „Russland hat genug Munition und Vorräte herangeschafft, um diesen Kampf länger fortzuführen.“

Ob die ukrainische Armee ausreichend auf eine Gegenoffensive vorbereitet ist, halten Experten für fraglich. „Unklar ist, ob es genug Reserveverbände auf ukrainischer Seite gibt, um Durchbrüche auszunutzen und weiter vorzustoßen“, so Experte Gady. Hinzu kommt, dass die Ukraine ihre Systeme auf Nato-Ausrüstung umstellen musste und nun mit vielen Systemen kämpfen muss, mit denen sie nicht so gut vertraut sei.

Ukraine mit enormen Defiziten

Es fehle an Training, so Gady, und bisher mussten die Soldaten vor allem verteidigen, jetzt aber in den Angriff übergehen. „Wir wissen nicht, ob die ukrainischen Streitkräfte fähig sind, strategische Offensiven durchzuführen.“ So sei die Flugabwehr bisher nur bei der Verteidigung eingesetzt, aber nicht in Offensiven integriert gewesen.

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Zuletzt wurde auch die Munition knapp und die Ukraine benötigt jetzt laut Gady vor allem schwere Artilleriemunition, um langfristig diese Offensive durchführen zu können. Besonders groß sind die Lücken bei den gepanzerten Fahrzeugen und den Luftstreitkräften. „Die Ukraine hat ein enormes Defizit an Mittelstrecken-Flugabwehrsystemen, was die Offensive erschwert.“ Denn für einen erfolgreichen Angriff und den Durchbruch der Verteidigungslinie sei es notwendig, die Landstreitkräfte unter dem Schutz der Flugabwehrsysteme zusammenzuziehen. „Die Ukraine geht mit dieser Offensive daher ein hohes Risiko ein.“

Nach Angaben des britischen Geheimdienstes habe Russland in der Südukraine massive Personalprobleme. Einheiten seien noch immer unterbesetzt, heißt es im Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums. Laut Militärexperte Gady seien aber die Truppen auf beiden Seiten „sehr verbraucht und kampfmüde“. (rnd)

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