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Fynn Kliemann und „woke“Der traurige Abstieg eines eigentlich guten Wortes

Lesezeit 5 Minuten
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Fynn Kliemann 

  • Nach Wochen der öffentlichen Reue über seine krummen Maskengeschäfte vermutet der Musiker und Influencer Fynn Kliemann eine „woke, linke Szene“, die sich gegen ihn verschworen habe.
  • Das Wörtchen, das für „wachsam“ steht, ist längst ins Zwielicht geraten.
  • Benutzt wird es eigentlich fast nur noch von seinen Gegnern.

„Woke“ seien sie alle und das heißt in diesem Fall nichts Gutes. Der Influencer, Musiker und Maskenhändler Fynn Kliemann hat die Nase voll von seinen Kritikern, die nicht nur „mein Leben zerstört“ haben, wie er zuletzt auf Instagram sagte. Seine Fehler im Zusammenhang mit der Corona-Maskenbeschaffung würden sich nun auch auf die Mitarbeiter seines Kliemannslands auswirken, einer Art Heimwerkerparadies, einem Spielplatz für Erwachsene auf einem Bauernhof nahe Bremen. Sponsoren sind abgesprungen.

Das sei „Sippenhaft“, beschwert sich Kliemann über den medialen Umgang mit seinem Fall. Und schiebt die Schuld am Schlamassel einer „woken linken Szene“ zu. „Woke“ im Sinn von „wach“, „wachsam“, „aufmerksam“, „sensibilisiert“, „gut informiert“. Eigentlich ja eine wenn man so will, rundum positive Vokabel. Eine „wache, linke Szene“ hat bemerkt, dass da jemand offenbar etwas Unrechtes getan hat. Gut so.

Das Wort ist nicht mehr ganz jung. Aber erst seit 2017 findet sich das vom Verb „to wake/woke/woken = erwachen/erwachte/erwacht“ abgeleitete „woke“ offiziell im Oxford English Dictionary. Seine soziale Komponente eines „auf-dem-Stand-Seins“ in politischen oder kulturellen Dingen erhielt es Mitte des 20 Jahrhunderts, verwendet zunächst von Afroamerikanern, um dem Bewusstsein für ihre Unterdrückung in der US-Gesellschaft Ausdruck zu verleihen.

„Woke“: Ursprung in den USA

Die schwarze texanische Sängerin Erykah Badu verwendete den Begriff in den späten Nullerjahren im Song „Master Teacher“ erneut als eine Art Selbstverpflichtung: „I stay woke!“. Woke wurden ab jetzt Leute genannt, die sich über Unrecht und Unterdrückung klar waren und auch Stellung bezogen. „Stay woke!“ wurde die vor allem in den Sozialen Medien anzutreffende Aufforderung, nicht nachzulassen, den Finger in die Wunden der Gesellschaft zu legen. Rassismus, Sexismus, Diskriminierung von Nichtheterosexuellen – immer schön woke bleiben!

Woke = links? Die Verbindung des aus den USA stammenden Worts zur politischen Linken, die Kliemann am Werk seiner Karrierezerstörung sieht, ist nicht neu. Die Themenpalette, die das Wachsein erfordert, zielt auf gesellschaftlichen Fortschritt und Toleranz für Minderheiten ab, was progressive linke Kräfte traditionell stärker anspricht als die Konservativen.

Längst wurde der Begriff ausgeweitet – die „New York Times“ etwa sprach vom „woke capitalism“, einem „wach- und achtsamen Kapitalismus“, der etwa eine faire Behandlung aller an der Produktion von Gütern Beteiligten erstrebt, die Einbeziehung des Klimawandels in Entscheidungen. Es kommt nicht nur auf die Gewinne an. Gut so?

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Hier beginnt eine Eintrübung. Von der politischen Linken kommt der Vorwurf, viele Firmen wollten mit „woke“ nur ihre Ausbeutergesinnung kaschieren. Alan Jope, der CEO von Unilever mahnt Glaubwürdigkeit an, spricht von „woke washing“, wenn die Strategien von Unternehmen nur fake-„woke“ sind.

Wer zu offensiv mit seiner „wokeness“ trommelt, kann denn auch ein schmerzliches Erwachen erleben. Coca-Cola, der weltgrößte Getränkehersteller wurde in den USA öffentlichkeitswirksam zu „woke coke“, und bezog Stellung gegen das neue Wahlgesetz in Georgia, das Minderheiten beim Wählen benachteiligt. Klang gut.

„Woke“: Die Entwicklung eines Wortes

Eine Umfrage des – konservativen – Meinungsforschungsunternehmens Rasmussen Reports ergab dann aber, dass 75 Prozent der US-Bürger dagegen seien, dass Unternehmen sich in politische Themen einmischten. Verbraucherverbände wiesen auf Coca-Colas Umweltverschmutzung durch Plastikflaschen hin. Und der Ex-Präsident Donald Trump forderte zum Coke-Boykott auf – vor allem wegen Georgia.

Der Architekt der „Woke“-Strategie, Bradley Gayton, gab schließlich im Mai des Vorjahres nach nur acht Monaten seinen Posten als Top-Anwalt des Unternehmens auf. Man wollte dann doch lieber konservative Konsumenten nicht an konkurrierende Limonaden verlieren. Auch das Georgia-Engagement ließ nach. Coke und „woke“ pflegen seither ein stilleres Verhältnis zueinander.

Als „Virus, das versucht, die Zivilisation zu zerstören“, sieht Elon Musk die „Woke-Kultur, so zitierte die „Wirtschaftswoche“ den Unternehmer und Neu-Republikaner in der Vorwoche. Die „Bild“-Kolumnistin Judith Sevinç Basad kündigte in der vorigen Woche, weil ihr angeblich nicht mehr erlaubt sei, „über die Gefahren berichten“ zu können, „die von dieser gesellschaftlichen Bewegung ausgehen“.

Fynn Kliemann und die Gegner der „wokeness“

Basad sieht im „Wokeismus“ den „Aktivismus einer kleinen Minderheit, die offiziell behauptet, für Diversität zu stehen, aber eine im Kern radikale Ideologie verfolgt“. Springer-Chef Mathias Döpfner hatte in einem Brief an die „Bild“-Mitarbeiter einen Gastbeitrag in der Zeitung kritisiert, demzufolge es nur zwei Geschlechtsidentitäten gebe. In ihrer Kündigung verwies Basad auf den US-Investor KKR, und mutmaßte, „ob es vor allem darum geht, die ‚woken‘ US-Redaktionen des Unternehmens Axel Springer nicht zu verärgern.“ Das Narrativ vom achtsamen „woke“-Mensch, der in Wahrheit ein Manipulator und Tyrann sei, von einer großen „woke“-Verschwörung.

So ist „woke“ ein zwielichtiges Wort geworden. Der „New York Times“-Kolumnist Charles M. Blow sprach bereits im vorigen November vom „war on woke“ und gab das Wort verloren. Junge Menschen, die vor fünf Jahren „woke“ waren, würden den Begriff schon lange nicht mehr verwenden. Stattdessen fast ausschließlich diejenigen, die „wokeness“ abkanzelten und vergifteten. „Die Gegner der Wokeness kämpfen um ein verlassenes Wort“, resümiert Blow, „wie eine Armee, die eine geräumte Festung bombardiert.“

„Woke“ als Gesprächstotschläger

Worte, die Bedeutung erlangen, würden schon immer von denen diffamiert, deren Interessen sie in die Quere kämen, schlussfolgert Blow, und von denen missbraucht, die Kapital daraus zu schlagen hoffen. Und schließlich von denen aufgegeben, die sich deswegen nicht mehr mit ihnen wohlfühlen. Und so hört man das Wort meist als Gesprächstotschläger der Gegenseite. Ein Satz wie „Du bist ja sowas von woke!“ klingt ähnlich wie zuvor „Jaja, immer schön political correct“.

Die gute Sache wird sich ein neues unschuldiges Wort suchen. Und überlässt „woke“ Leuten wie Fynn Kliemann, der nun ebenfalls eine Verschwörung gegen sich wittert: „Ihr habt mich mit öffentlichen Geldern groß gemacht, dann hab ich nicht gespurt, und mit genau den gleichen Geldern soll ich jetzt zerstört werden“, wendet er sich in seinem Video Richtung öffentlich-rechtlicher Medien. Der eben noch Reuevolle wird im Selfievideo wild. Die linke Wokeness ist Schuld an der verlorenen Coolness? Vermutlich ist ihm klar geworden, das Letztere nie wieder zurückkehrt.

Und vielleicht wäre ein Namenswechsel fürs Kliemannsland schon mal eine Hilfe.

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