Chemische Kampfstoffe?Hinweise auf Giftgasangriff in Mariupol

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Mariupol – Russland soll in der Ukraine chemische Kampfstoffe eingesetzt haben. Eine unbekannte Substanz sei mit einer Drohne über der seit langem umkämpften Stadt Mariupol abgeworfen worden, teilte das Asow-Regiment auf seinem Telegram-Kanal mit. In der Videonachricht sagte der Anführer des ukrainischen Freiwilligenbataillonen, Andrey Beletsky, der Angriff habe sich am Stahlwerk Azovstal in Mariupol ereignet.

Drei Personen hätten deutliche Anzeichen einer Vergiftung. Es gibt ukrainische Medienberichte, wonach die Opfer unter Atemproblemen und dem Verlust des Gleichgewichtssinns litten.

Kaum Schutz vor möglichen Giftgasangriffen

Laut dem Berater des Bürgermeisters von Mariupol, Petr Andryushchenko, könnten sich die Menschen in der weitgehend zerstörten Stadt kaum vor solchen Angriffen schützen. „Es gibt fast keine Fenster oder geschlossenen Räume mehr, kein fließendes Wasser und keine sanitären Anlagen“, sagte er am Montag.

„Ein Chemiewaffeneinsatz in der Ukraine ist realistisch, aber wir wissen noch viel zu wenig über den Angriff und die Hintergründe“, so die Einschätzung von Alexander Kelle vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg. Der Experte für Chemiewaffen sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), es gebe aber Hinweise, die auf einen russischen Chemiewaffeneinsatz in der Ukraine hindeuten.

Kölner Politikwissenschaftler schätzt Einsatz als „wahrscheinlich“ ein

Auch für den Kölner Politikwissenschaftler Thomas Jäger ist es „wahrscheinlich“, dass Russland Chemiewaffen eingesetzt habe. Schließlich habe dies ein Sprecher der Volksrepublik Donezk selbst angekündigt. „Um zur Eroberung eines Stahlwerks in Mariupol nicht viele Truppenverluste hinnehmen zu müssen, wollte man Chemiewaffen einsetzen“, sagte Jäger dem RND. Am Morgen hatten die Donezker Separatisten den Einsatz chemischer Waffen dann aber vehement abgestritten.

Die beiden Experten betonten, dass Russland in der Vergangenheit schon häufiger chemische Kampfmittel eingesetzt habe, „entgegen der Beteuerung, alle Chemiewaffen vernichtet zu haben“, so Jäger. Für einen zweifelsfreien Nachweis müssten aber unabhängige Kontrolleure Zugang zum Gebiet und den Opfern haben. „Blut-, Urin- oder Umweltproben sind nötig“, sagte Kelle und verwies auf die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Er erklärte: „Die OPCW war auch während der Kämpfe im Syrienkonflikt im Einsatz, um festzustellen, ob und von wem Chemiewaffen eingesetzt wurden.“

Unabhängige Untersuchungen derzeit in Mariupol nicht möglich

Jäger hält es aber für fraglich, dass unabhängige Beobachter überhaupt in die belagerte Stadt Mariupol gelangen und dort Untersuchungen vornehmen können. Sollte sich der Verdacht aber bestätigen, werden einige Nato-Staaten weitere Maßnahmen gegen Russland fordern, so Jäger. „Die Nato hat mit schwerwiegenden Konsequenzen gedroht, aber nicht gesagt, wie diese beim Einsatz von Chemiewaffen aussehen.“

Für den Politikwissenschaftler kommen als schwerwiegende Konsequenzen aber nur weitere Sanktionen in Frage. „Die Nato-Staaten könnten den Handel weiter beschränken und den Ausschluss weiterer Banken aus dem Swift-Zahlungssystem beschließen“, sagte er. Ein nachgewiesener Chemiewaffen wäre für ihn auch Anlass, um auf Indien und China den Druck zu erhöhen. „Beide Länder machen weiterhin viele Geschäfte mit Russland und beteiligen sich nicht an den Sanktionen des Westens.“

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Die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar sagte am Dienstag im ukrainischen Fernsehen, es sei unklar, welches chemische Mittel eingesetzt wurde. „Nach vorläufigen Angaben gibt es die Annahme, dass es wohl Phosphorkampfmittel waren“, sagte sie. Laut dem Experten Kelle werde Phosphor immer wieder im Krieg eingesetzt, um ein Gefechtsfeld zu beleuchten. „Wenn die Phosphormunition auf ein Gebiet herunterregnet, leuchten die Munitionsteile sehr hell.“ Werden Menschen von einem Splitter getroffen, erzeuge das schwerste Verbrennungen. Eine Phosphorbombe sei daher nicht mit anderen chemischen Kampfstoffen zu vergleichen.

Aus dem britischen Verteidigungsministerium heiße es, dass für den Fall eines russischen Einsatzes von Chemiewaffen „alle möglichen Optionen auf dem Tisch“ liegen würden. Außenministerin Liz Truss kündigte an, die Berichte prüfen zu wollen.

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