Historiker Jürgen Reiche„Das Sachsen-Bashing ist unangebracht und kontraproduktiv“

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Jürgen Reiche

Jürgen Reiche

Der Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums, Jürgen Reiche, wuchs in Bernburg (Sachsen-Anhalt) auf und floh 1960 mit seinen Eltern aus der DDR. Sein Haus zählte zuletzt 220.000 Besucher im Jahr.

Herr Reiche, Sie arbeiten in einem Bundesland, das deutschlandweit den wohl heftigsten Rechtsruck zu verkraften hat. Wie reagieren Sie darauf?

Dass sich die Rechtsradikalen in ihrer Dreistigkeit mittlerweile sehr viel trauen, überrascht mich nicht. Die Ursache ist sicher, dass man das Thema jahrzehntelang vernachlässigt hat. In Sachsen haben die politisch Verantwortlichen immer gesagt, es gab und gibt kein Problem rechts. Das rächt sich jetzt. Ähnliche Probleme gab und gibt es aber auch in Westdeutschland. Angefangen beim Oktoberfest-Attentat 1980 bis hin zum NSU und dem Fall Lübcke ist das eine fatale Entwicklung.

Im Westen herrscht trotzdem zuweilen der Glaube vor, wenn es den Osten nicht gäbe, dann hätten wir das Problem nicht.

Das bedauere ich sehr. Es gibt zwar im Osten sehr viel rechtsradikale Gewalt. Der Rechtsextremismus ist hier auch breiter aufgestellt. Das alles kann man nicht wegleugnen. Auf der anderen Seite wäre es gut, wenn man vom Westen aus mal genauer hinsehen und zum Beispiel wahrnehmen würde, dass es auch in Sachsen viele Bewegungen und Initiativen gegen rechts gibt. Unter anderem hier in Leipzig existiert eine sehr liberale und engagierte Stadtgesellschaft, die gegen rechts und für die Demokratie auf die Straße geht. Darauf kann man sehr stolz sein – nicht nur in Leipzig.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie als Wahlsachse einer Stigmatisierung anheim fallen?

Ich selbst nicht. Aber das Land wird als rechts stigmatisiert. Da gibt es so ein Sachsen-Bashing, das völlig unangebracht ist. Es ist auch kontraproduktiv. Denn dieses Bashing hilft nicht, Menschen zum Umdenken zu bewegen. Da stellt sich eher Trotz ein. Die Stimmung heizt sich auf, die Sprache wird aggressiver, und nicht wenige sagen auch: „Nur so geht´s. Endlich werden wir überhaupt mal gehört.“

„Endlich werden wir überhaupt mal gehört“

Das stärkt eher die Versuchung, noch mehr auf diese Karte zu setzen.

Ja. Deshalb müssen wir Angebote zur Diskussion schaffen. Es gibt im Osten ein riesiges Redebedürfnis über das, was war, und das, was ist – es ist viel ausgeprägter als im Westen. Man hat den Leuten ja auch viel zugemutet, sie vielfach überfordert und ihnen jahrzehntelang trotzdem nicht zugehört. Zur Diskussion muss man die Bereitschaft aufbringen, und das tun wir hier im Zeitgeschichtlichen Forum – selbst wenn es manchmal ätzend ist.

Wie tun Sie das?

Man muss versuchen, mit Sachargumenten zu überzeugen. Nichts sollte schöngeredet werden, keine populistischen Töne, keine Versprechungen, die unerfüllbar sind. Man drückt Ostdeutsche sonst schnell in eine Opferrolle. Das höre ich nämlich auch immer wieder: „Erst waren wir Opfer im SED-Staat, und jetzt sind wir Opfer in der Bundesrepublik.“ Wir geben Nachhilfe in Sachen Geschichte und reden über die Unterschiede von Diktatur und Demokratie. Dafür haben wir mitten in unserer Ausstellung das „Forum live“ etabliert, eine Bühne, auf der wir Diskussionen und Gespräche in unterschiedlichen Formaten anbieten.

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Aber ich verstehe Sie richtig, dass Sie immer noch westdeutsches Desinteresse wahrnehmen?

Desinteresse und Selbstgefälligkeit. Westdeutsche wissen eigentlich nicht viel über die neuen Bundesländer. Früher hörte Deutschland vom Westen aus gesehen hinter Helmstedt auf. Und das ist bei vielen immer noch so. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil es im Osten eine reiche Kulturlandschaft gibt und unheimlich interessante Leute. Die DDR-Gesellschaft war ja nicht homogen. Westdeutsche, die sich darauf einlassen, merken schnell, dass sich ihr Blick relativiert.

Bundestagsabgeordnete bleiben oft aus

Gilt das Desinteresse auch für die Politik? Immerhin ist das verbale Interesse der Parteien für Ostdeutschland vor den anstehenden Landtagswahlen so ausgeprägt wie nie.

Die Zugewandtheit vieler Bundestagsabgeordneter ist aus meiner Wahrnehmung heraus unverändert und nicht sehr ausgeprägt. Ich wäre froh, wenn wir hier im Haus mehr Parlamentarier hätten, die sich der Diskussion stellen. Ich kann da nur eine Einladung aussprechen. Bisher zieht es die Abgeordneten mit ihren Besuchergruppen eher in westliche Gefilde oder nach Berlin. Sie haben den Osten scheinbar nicht auf der Agenda.

Bei Ihnen mit Ihrer ost-west-gemischten Biografie ist das offenkundig anders.

Ja, völlig anders. Bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unserem Haus, die aus Ost- und Westdeutschland kommen, ebenfalls. Die Neugierde aufeinander, unterschiedliche Geschichten und Erfahrungen auch 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer machen das Leben ja auch spannend. Nicht nur die westdeutsche Geschichte ist die Geschichte Deutschlands, die ostdeutsche Geschichte ist es genauso – beides zusammen ist unsere Geschichte.

Ist es schwerer geworden, die Arbeit hier im Haus zu machen?

Wir stehen mittlerweile vor anderen Herausforderungen als früher. Wenn Leute sagen, Demokratie und Diktatur seien doch dasselbe, dann muss man dem etwas entgegen setzen. Das ist anstrengend, aber auch lohnend.

„Das beste Deutschland, das wir je hatten“

Sie sind nicht von Resignation erfasst.

Überhaupt nicht. Im Übrigen haben wir das ganze Haus in den letzten beiden Jahren völlig umgebaut, es neu ausgerichtet und in der Dauerausstellung der Zeit 89/90 und vor allem dem Transformationsprozess viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Wir versuchen, das auf eine sehr anschauliche und eindrückliche Art und Weise zu machen, die das Publikum anspricht. Der Erfolg zeigt sich in entsprechenden Rückmeldungen und hohen Besucherzahlen. Das Größte und Schönste ist, wenn die Leute miteinander ins Gespräch kommen.

Nun steht auch in Sachsen die Landtagswahl vor der Tür. Wie geht die aus? Und wie geht es dann weiter?

Es wird wahrscheinlich ein Kopf- an Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD geben. Danach wird Ministerpräsident Michael Kretschmer mit Sicherheit nicht mit der AfD koalieren, sondern sich andere Partner suchen. Möglicherweise wird sogar eine Vier-Parteien-Koalition entstehen. Vorher und nachher muss man sich mit dem Zuspruch für die AfD aber auseinandersetzen. Man kann die Leute nicht einfach abstellen und sagen, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Wir müssen die Wähler der AfD stärker in den Blick nehmen. Es sind zu viele, wir können ihre Anliegen nicht ignorieren.

Sie glauben, das hat Erfolg?

Wir arbeiten daran. Denn dieses Deutschland ist trotz aller denkbaren Verbesserungen das Beste, das wir je hatten.

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