Kommentar zum ImpfstoffPolitik darf sich nicht mehr von Herstellern vorführen lassen

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Merkel Spahn

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hält eine Rede im Bundestag, Kanzlerin Merkel hört im Hintergrund zu.

Normalerweise ist die Hackordnung zwischen Regierung und Wirtschaft geklärt. Die Unternehmen betteln, drängeln, schicken ihre Lobbyisten los - aber am Ende entscheidet die Politik. Beim Gerangel um den Corona-Impfstoff jedoch kehren sich die Kräfteverhältnisse gerade um. Die Hersteller der weltweit begehrten Vakzine diktieren die Lieferbedingungen, und der Politik bleibt nichts anderes übrig, als die Ansagen der Konzerne zähneknirschend zu akzeptieren. Es herrscht die Devise „Fresst oder sterbt“ - was im konkreten Fall mehr als nur eine Floskel ist.

Die gefeierten Impfstoff-Pioniere des deutsch-amerikanischen Konsortiums Biontech/Pfizer haben erst wegen der Produktionsumstellung in einem belgischen Werk ihre kurzfristigen Lieferzusagen gekürzt und dann eigenmächtig beschlossen, auch noch die Abrechnungsmodalitäten zu ändern.

Hersteller berechnet zusätzliche Dosis plötzlich doch

Das Unternehmen liefert seinen Impfstoff in Ampullen mit je fünf Einzeldosen. Als sich Ende 2020 herausstellte, dass geschickte Ärzte mit guten Spritzen auch sechs Dosen aus einem Fläschchen gewinnen können, drängte der Hersteller die europäische Arzneimittelbehörde, diese Praxis bitte zu erlauben. Die sechste Dosis, versicherte eine Unternehmenssprecherin, werde man auch nicht in Rechnung stellen.

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Im Januar kam die Genehmigung, und im Januar überlegte sich Biontech/Pfizer, die sechste Dosis nun doch zu berechnen. Die Ausgestaltung der Lieferverträge, in der nur von Dosen, nicht aber von Impfstoffmengen die Rede ist, macht das möglich.

Schlimmstenfalls weniger Impfstoff zur Verfügung als geplant

Schlimmer als der finanzielle Schaden ist, dass der Impfstoff nun fehlt. Das Unternehmen streicht die Zahl der gelieferten Ampullen entsprechend zusammen. Die vollmundige Ankündigung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass die Zahl der zur Verfügung stehenden Impfungen durch die sechste Dosis um 20 Prozent erhöht werden könne, entpuppte sich als Wunschdenken.

Im Gegenteil: Wenn Ärzte es wegen Zeitdruck, fehlender Geschicklichkeit oder schlechteren Spritzen nicht schaffen, die sechste Dosis aus den Ampullen zu gewinnen, könnte sogar weniger Impfstoff zur Verfügung stehen als ursprünglich geplant. Berichte darüber gibt es bereits.

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Auch das britisch-schwedische Unternehmen AstraZeneca führt die Politik gerade vor. Erst am Freitagmorgen verkündete Minister Spahn, mit der bevorstehenden EU-weiten Zulassung des AstraZeneca-Vakzins stünden schon im Februar „nennenswert mehr Dosen“ zur Verfügung. Und nur Stunden später teilte das Unternehmen mit, auf Grund von Produktionsproblemen deutlich weniger als geplant liefern zu können.

Die Liefermenge werde dennoch einen Unterschied im Vergleich zur Nichtbelieferung machen, beharrte Spahn am Freitagabend, was an sich schon ein bemerkenswerter Satz ist. Wenig später wurde dann aber bekannt, wie groß der Lieferausfall tatsächlich ist: 60 Prozent. Wohlgemerkt: Nicht im Februar, sondern im ersten Quartal. Selten zuvor hat man die Politik derart ohnmächtig erlebt.

Mit den USA gehen die Pharmakonzerne anders um

Nun könnte man entgegen, so ist das eben bei einen knappen Gut - und natürlich ist der Corona-Impfstoff weltweit gefragt. In den USA allerdings gibt es derlei Lieferengpässe nicht. Fast 20 Millionen Amerikaner sind bereits geimpft und der neue Präsident Joe Biden hat versprochen, das Tempo in den nächsten Wochen deutlich zu steigern.

Mit den USA, so scheint es, gehen die Pharmakonzerne anders um als mit der EU, obwohl diese um mehr als 100 Millionen Menschen größer ist. Der Verdacht liegt nahe, dass die Pharma-Manager mehr Respekt vor der Administration in Washington haben als vor der EU-Kommission in Brüssel.

Das muss sich ändern. Europa muss selbstbewusster auftreten und notfalls auch die Muskeln spielen lassen. Dabei geht es ausdrücklich nicht um eine Europe-First-Politik. Es geht darum, sich nicht vorführen zu lassen. So viel Selbstachtung sollte die EU haben. (Andreas Niesmann/RND)

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