Machtkampf in UngarnWas sagen Bürger aus Budapest über Orban und die Opposition?

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Viktor Orbán

Viktor Orbán, Ungarns Ministerpräsident

Budapest – Ein junger Mann mit Kippa sitzt gedankenversunken auf einem Poller am Donaukai in Budapest und schaut auf Dutzende leere Schuhe. Sie sind aus rostigem Stahl geformt und am Boden festgeschweißt. Ein Kunstwerk. Elegante Damen- und Herrenschuhe, Sandaletten und auch grob gearbeitete ausgetretene Arbeitsschuhe. Auf mehreren Metern Länge am Ufer der Donau platziert, bilden die Schuhe ein stummes Mahnmal. Sie erinnern an die Massenerschießungen von jüdischen Budapestern in den Jahren 1944/45 durch ungarische Faschisten.

Die Menschen wurden aus dem jüdischen Ghetto an das Ufer der Donau getrieben und dort kaltblütig umgebracht. Zuvor mussten Sie ihre Schuhe ausziehen. Später trieben die Leichen im Fluss davon.

György Polgárs Vater hatte Glück und Mut. Er wurde nicht getroffen, ließ sich mit den Erschossenen ins Wasser fallen, schwamm stromabwärts und erreichte ein rettendes Ufer. Er überlebte die Nazizeit und konnte nach dem Zweiten Weltkrieg in Budapest eine Familie gründen. 1956 wurde sein Sohn György geboren, der heute sehr erfolgreich in der Pharmabranche tätig ist. Er beobachtet die Wiederkehr jüdischen Lebens in Ungarn sehr genau und schreibt darüber nebenbei auch in jüdischen Zeitungen. Er sagt: „Die Fidesz ist keine antisemitische Partei, ich würde sogar sagen, sie ist eher projüdisch.“

Antisemitismusvorwürfe gegen regierende Partei

Zsolt Balla ist gebürtiger Ungar, lebt seit 19 Jahren in Deutschland und wurde gerade vor vier Wochen zum Militär-Bundesrabbiner berufen, ist also für die jüdische Seelsorge bei der Bundeswehr zuständig. Er sagt: „Kein Land in Europa hat eine explizit antisemitische Regierung, aber es ist problematisch, wenn Regierungen es ignorieren, dass es solche Tendenzen in der Gesellschaft gibt.“

Die mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit regierende Partei von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban (58) sieht sich regelmäßig mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert. Und das hat Gründe. Als sich 2015 massenhaft muslimische Migranten an Europas Grenzen drängten, sprach sich der US-Börsenmilliardär ungarisch-jüdischer Herkunft, George Soros, für eine geordnete Aufnahme der Flüchtlinge aus und lag damit komplett quer zur Regierung in Budapest. Während Orban als junger Mann in der Spätphase des Kommunismus Ende der 1980er Jahren selbst noch mit einem Soros-Stipendium in Oxford studieren durfte, hält der heutige Regierungschef gar nichts mehr von seinem einstigen Mäzen und dessen Gedanken der offenen Gesellschaft. Mit einer regelrechten Kampagne wurde und wird Soros in Ungarn von der Regierung, von Historikern, Politikwissenschaftlern und Publizisten unter Anspielung auf sein erworbenes Vermögen und seine jüdische Herkunft diskreditiert.

Das jüdische Viertel von Budapest

„Die Fedisz braucht immer ein Feindbild“, sagt György Polgár, „und dabei vergisst man, dass Soros sehr viel für Ungarn getan hat.“ Polgár findet die Kampagne gegen den Philanthropen widerlich, sagt aber auch, man könne nicht generell von einer Hetze gegen Juden reden. Es gebe keine Übergriffen, Ausschreitungen oder Anschläge auf Synagogen.

Wer sich durch das alte jüdische Viertel von Budapest bewegt, dem begegnen keine schwer bewaffneten Polizisten und man sieht auch keine antisemitischen Schmierereien. Am kleinen Theodor-Herzl-Platz steht die größte Synagoge Europas, die nach ihrer Fertigstellung 1859 Mittelpunkt des jüdischen Lebens war und heute wieder ist. Es gibt mehrere kleinere Synagogen in der Stadt und ein Holocaust-Erinnerungszentrum, in dem die Vernichtung von über einer halben Million ungarischer Juden durch deutsche und ungarische Faschisten dokumentiert ist. „Auf Initiative der Fidesz wurde der 16. April zum offiziellen Holocaust-Gedenktag erklärt, und er wird seit 2001 auch jedes Jahr begangen “, erläutert Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit. Er betont, dass auf die Erinnerungskultur in Ungarn sehr viel Wert gelegt wird.

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Das hindert die Fidesz jedoch nicht, weiter die „Soros-Karte“ zu spielen und Angst vor „Überfremdung“ zu schüren. Die nächste Parlamentswahl ist zwar erst im April 2021, aber der Wahlkampf ist bereits in vollem Gange. In ganz Budapest hat die Regierung riesige blaue Plakate mit gelben Emojis aufgehängt. Dazu immer ein kurzer Schriftzug: „Greift George Soros wieder an?“, „Macht Brüssel Sie wütend?“ oder „Haben Sie Angst um Ihre Kinder wegen Sexualpropaganda?“.

Letzteres hebt auf das am 15. Juni vom Parlament verabschiedete Gesetz ab, das Werbung und Publikationen über Homosexualität und Geschlechtsangleichungen verbietet, die für Minderjährige zugänglich sind. Die ungarische Regierung argumentiert, es gehe darum, eine Frühsexualisierung von Kindern und Jugendlichen zu verhindern und die Aufklärung den Eltern zu überlassen. Die Europäische Union sieht das Gesetz als Angriff auf ihre freiheitliche Werte und hat ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte das Gesetz „eine Schande“; Luxemburgs Ministerpräsident Xavier Bettel sprach von einer „roten Linie“ und der niederländische Premier Mark Rutte legte Orban gar den Austritt aus der EU nahe.

Die Ungarn sind geteilter Meinung

Die Ungarn selbst sind geteilter Meinung: Zwar sind laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Nézöpont 60 Prozent dafür, dass Kinder keinen Zugang zu homosexuellen Inhalten bekommen sollen, aber am Tag vor der Verabschiedung des Gesetzes gingen in Budapest Tausende Menschen mit Regenbogenfahnen auf die Straße und protestierten dagegen. Aufgerufen hatten Menschenrechtsorganisationen und die LGBT-Gemeinschaft, die die Rechte der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Menschen vertritt. Unter den Befürwortern des Gesetzes haben die Meinungsforscher allerdings nicht nur Fidesz-Anhänger ausgemacht, sondern auch Sympathisanten der Opposition. Laut Umfrage sind von den Befürwortern 40 Prozent Oppositionswähler, vor allem ältere und solche, die auf dem Land leben.

Nézöpont-Direktor Ágoston Sámuel Mráz stellt heraus, dass es in Ungarn zwar keine Homo-Ehe gebe, aber schon vor der Orban-Zeit sei die eingetragene Partnerschaft etabliert worden. Sie ermögliche ein gleichgeschlechtliches Zusammenleben mit allen juristischen Absicherungen, nur nicht die Adoption von Kindern. Der Begriff Ehe bleibe der Beschreibung des Zusammenlebens von Mann, Frau und Kind vorbehalten.

Über Orban: „Viele Leute hassen ihn.“

Der Ferenc-Deák-Platz in der Budapester City ist abends der angesagte Szene-Treff für junge Leute. Am Fuße eines Riesenrads rekeln sich Teenager auf der Wiese, andere toben sich auf einer halsbrecherischen Skaterbahn aus. Unter dicken Sonnenmarkisen mit bunten Lämpchen laden jede Menge Freisitze zu Cola, Bier und Weißweinschorle ein.

Norina, Katalin und Alex, nehmen beim Stichwort Orban kein Blatt vor Mund und sagen: „Viele Leute hassen ihn.“ Katalin (26) studiert in Liverpool Gymnasiallehrerin und fragt: „Wenn ein 14-jähriger Schüler mich etwas zu Thema Homosexualität oder Transgender fragt, was soll ich dann sagen? Dass ich es nicht weiß? Das ist doch Unsinn.“ Die gleichaltrige Norina, die als Assistenz in einer Anwaltskanzlei arbeitet, hält das neue Gesetz für völlig überflüssig und Alex (27), der mit seinen Eltern ein Familienunternehmen betreibt, spricht von einer Diskriminierung der LGBT-Community.

Streit mit der EU

Die konservative Regierung Orban ist dafür bekannt, dass sie sich immer wieder mit der EU anlegt und zuweilen auch den Eindruck erweckt, als provoziere sie geradezu den Rausschmiss. Seit Jahren gibt es Streit unter anderem wegen der Einschränkung der Medienfreiheit, wegen der Ungleichbehandlung von Nichtregierungsorganisationen, wegen der Unabhängigkeit der Justiz und vieler anderer Themen. „RTL ist hier die Speerspitze freiheitlicher Berichterstattung“, heißt es bei der Opposition. „Früher waren wir unter dem Diktat von Moskau, heute sind wir unter dem Diktat von Brüssel“, heißt es bei Fidesz-Anhängern.

Doch mit wem man auch spricht, in einem Punkt sind sich alle einig: Ungarn soll auf keinen Fall raus aus der EU. „Die vielen Freiheiten, die Reisemöglichkeiten“, sagt György Polgár. „Das viele Geld, das wir aus Brüssel kriegen“, sagt Taxifahrer Ede (62) und beklagt zugleich die Korruption. Alles würde bei den Firmen landen, die Orban unterstützen, weil sie von ihm Aufträge erhalten. „Das ist eine neue Oligarchie“, sagt Ede und fügt hinzu: „Orban muss weg.“ Orban ja oder nein - das ist das große Thema: „Das Land ist tief gespalten“, sagen politische Beobachter, und die letzten Umfragen des Instituts Nézöpont bestätigen das. Sie sehen Regierung und Opposition Kopf an Kopf bei jeweils 50 Prozent.

Opposition: Brückenschlag von links nach rechts

Um die mit einer Zweidrittelmehrheit regierende Fidesz überhaupt ins Wanken bringen zu können, haben sich ein halbes Dutzend Oppositionsparteien zu einem Block zusammengeschlossen, der im April gegen Orban antreten soll. Dabei reicht der Brückenschlag von der extrem rechten Jobbik, die nach deutschen Verhältnissen eher der NPD als der AfD entspricht, über Grüne und Sozialliberale bis zu den Sozialisten. Fidesz-Anhänger kritisieren, die Jobbik habe junge smarte Leute nach vorn geschoben, die Fassade aufpoliert, aber der Kern bestehe weiter aus alten Rechtsextremisten mit harter antisemitischer Gesinnung.

György Polgár erinnert daran, dass ein Jobbik-Mann noch vor zwei oder drei Jahren demonstrativ auf die Stahlschuhe am Donaukai uriniert und damit seine Haltung zur Judenverfolgung klar zum Ausdruck gebracht hat. Wie im Falle eines Wahlsiegs der Opposition eine neue Regierung von ganz recht bis ganz links aussehen könnte, darüber scheint hier keiner tiefer nachzudenken und darum geht es wohl auch gar nicht. Das Nahziel heißt: Sturz der Orban-Regierung, Änderung des Wahlrechts, das die stärkste Partei und damit die Fidesz überproportional begünstigt, und dann Neuwahlen. Politische Beobachter sprechen von „schierer Not“ und „blanker Verzweiflung“, vom „großen Stühlerücken“ und einem „institutionellen Bruch“, der kommen werde. Das seit 2010 regierende Orban-Kabinett habe so viele Pflöcke eingeschlagen, so viele strukturelle Veränderungen vorgenommen, dass es wohl nur noch mit einem solchen Befreiungsschlag aus dem Sattel geworfen werden könne. Oder: Orban bleibt im Amt bis an sein Lebensende.

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