Ostdeutsche BundesländerViel Corona, viel AfD – kann das alles Zufall sein?

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Hildburghausen Corona Demo

Corona-Demo am 25. November 2020 in Hildburghausen

Ihre letzte Reise führt Verstorbene aus dem Raum Dresden neuerdings mitunter weit nach Westen. Zum Beispiel ins niedersächsische Diepholz. Dort hilft man dem derzeit überlasteten Krematorium Dresden-Tolkewitz bei der Einäscherung von Corona-Opfern. Die Toten, acht pro Fahrzeug, sind 470 Kilometer unterwegs, in unauffälligen Sprintern. „Bilder wie in Bergamo“, da war die gesamte deutsche Politik sich schon im vorigen Frühjahr einig, soll es hierzulande nicht geben. Um sie aber wirklich zu vermeiden, auch in den Virushochburgen Ostdeutschlands, mussten sich in diesem Winter Behörden und Bestatter einiges einfallen lassen.

„Inzwischen bekommen wir die Lage wieder in den Griff“, sagt Tobias Wenzel, Bestatter aus Marienberg im Erzgebirge. Geärgert hat er sich dieser Tage über einen Bericht aus Meißen im „Morgenmagazin“ von ARD und ZDF. Da ging es optisch ein bisschen in Richtung Bergamo. Das Fernsehen zeigte viele Särge, offenbar in Eile gestapelt, teils mit provisorisch wirkenden Plastikummantelungen und Covid-19-Aufklebern. „So etwas rückt die ganze Branche in ein schiefes Licht“, grummelt Wenzel.

Rätselhafte Ost-West-Kontraste bei Corona-Inzidenz

Warum eigentlich, fragen sich unterdessen viele Deutsche mit Blick auf die aktuellen Grafiken, macht sich Corona überhaupt im Süden der früheren DDR so auffällig breit? Und dies schon seit vielen Wochen Hotspots gab und gibt es überall mal. In Westdeutschland aber blieben sie vereinzelt: Spots eben. In Heinsberg (NRW) gab es einen Ausbruch nach dem Karneval, im bayerischen Mitterteich nach einem Starkbieranstich, in Gütersloh nach dem Tönnies-Skandal.

In Ostdeutschland indessen sind nicht Flecken, sondern ganze Flächen auffällig. Vom Eichsfeld bis ins Erzgebirge zieht sich eine Zone hoher Inzidenz. Demoskopen und Soziologen kennen die gleiche Region aus einem ganz anderen Zusammenhang: Es ist die Gegend mit dem höchsten Anteil an AfD-Wählern in Deutschland. Alles Zufall? Bestatter Wenzel warnt spontan von einer Politisierung der Daten: „Das wäre unseriös.“ Erstens seien viele Viren durch Reisende aus Tschechien in die betroffenen Regionen eingeschleppt worden. Zweitens wohnten im Süden der früheren DDR viele Ältere, damit steige auch die Sterblichkeit.

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Beide Faktoren spielen unbestritten eine Rolle. Dennoch bleiben Fragen offen. Woher, vor allem, kommt der generell auffällige Kontrast zwischen Ost und West? Im thüringischen Teil des Eichsfelds etwa ist die Corona-Inzidenz dreimal so hoch wie auf der Westseite. Warum ist das so, nach mehr als 30 Jahren Einheit? Tschechien ist fern, man befindet sich mitten in Deutschland. Viele Ältere wohnen hüben wie drüben, auch die Natur ist dieselbe beiderseits der unsichtbar gewordenen Grenze.

Corona und AfD-Wähler; „Korrelationen sind keine Kausalität“

Spielt also doch noch ein politischer Faktor hinein? Legt man mal versuchsweise die 20 Kreise mit der derzeit höchsten Virenbelastung in Deutschland unter die Lupe, kommt man ins Grübeln. Die Top-20-Kreise lagen am 24. Januar 2021 nicht nur leicht vorn, sondern hatten allesamt eine Inzidenz, die mehr als Doppelte des Bundesdurchschnitts (111,1 pro 100.000) betrug. 17 dieser 20 Kreise gehörten zugleich bei der letzten bundesweiten Wahl, der Europawahl 2019, zu den Hochburgen der AfD, die damals bundesweit nur auf 11,0 Prozent kam. Bautzen (AfD-Wert 2019: 32,1 Prozent) ist jetzt der stärkste Corona-Hotspot in Sachsen. Der Burgenlandkreis, damals mit 25,6 Prozent stärkste AfD-Hochburg in Sachsen-Anhalt, ist heute Spitzenreiter bei der Corona-Inzidenz, im Land und neuerdings sogar bundesweit.

Hildburghausen (AfD-Wert 2019: 24,2 Prozent) in Thüringen, wochenlang auf Platz eins der bundesweiten Corona-Tabelle, fiel schon vor Weihnachten auf. Während die Inzidenzen dort zeitweilig über 500 schossen, zogen Corona-Leugner nachts lärmend und mit geballten Fäusten durch die Straßen. Der Landrat steht seither unter Polizeischutz, es gab anonyme Morddrohungen.

Hildburghausen Corona

Die Innenstadt im thüringischen Hildburghausen

Wissenschaftler warnen allerdings davor, die doppelten Hotspots im Osten schlicht im Sinne von Ursache und Wirkung zu interpretieren. „Korrelationen sind keine Kausalität“, betont Matthias Quent, Soziologe und Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Man arbeite weiter an sehr komplexen Modellen zur Erklärung.

Rechtspopulismus mit Ringbildung

Möglicherweise ergibt sich, dass hohe Corona-Inzidenzen und hohe AfD-Werte aus parallelen Problemlagen entspringen oder auch aus parallel laufenden Stimmungen und Strömungen. Auffällig sind jedenfalls einige wahrhaft verblüffende Phänomene. So sieht man sowohl hohe Corona-Inzidenzen als auch hohe AfD-Anteile mehr ringförmig rund um ostdeutsche Städte als in den Städten selbst. Amerikanische Forscher beschreiben bereits seit Jahren einen “halo effect”: eine Ringbildung des Rechtspopulismus rund um Metropolen. In diesem Milieu stellen Soziologen weltweit wachsende Unzufriedenheit fest – und eine nachlassende Akzeptanz für Regeln und Vorgaben aller Art.

Liegt hier einer der tieferen Gründe des aktuellen Geschehens? Oder ist alles nur eine Momentaufnahme, die vielleicht bald wieder verwischt wird, durch den nächsten Ausbruch im Westen – oder gar eine massenhafte Mutation?

An Quents Institut jedenfalls wird die AfD-Corona-Relation derzeit tiefer erforscht, in aller Ruhe und auf der Ebene von 400 Landkreisen und kreisfreien Städten in ganz Deutschland. Ein Veröffentlichungstermin steht noch nicht fest, vorab will Quent keine Kommentare abgeben. Die bisher analysierten Daten seien aber „statistisch stark und signifikant“, besonders in Sachsen. In einer längeren Darlegung auf Twitter schrieb Quent schon im Dezember: „Wir waren von der Stärke des Effekts überrascht, mit so einem deutlichen Ergebnis hatten wir nicht gerechnet.“

In Quents Soziologenteam geht es jetzt um die Frage, „ob soziale und politische Orientierungen Einfluss in Sozialräumen sowohl auf Wahlergebnisse als auch auf die Verbreitung von Corona nehmen“.

Wanderwitz: „Man braucht sich die Typen nur anzusehen“

Der CDU-Politiker Marco Wanderwitz winkt ab. Für den Ostbeauftragten der Bundesregierung steht längst fest, dass dies so ist: „Man braucht sich die Typen doch nur anzusehen.“ Wanderwitz verweist auf einen Aufmarsch von Corona-Leugnern vor dem Privathaus des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer im verschneiten Großschönau in der Oberlausitz. „Die fahren da hin, belästigen ihn beim Schneeschippen, ohne Masken, ohne Abstand, das ist doch alles unglaublich“, schimpft Wanderwitz. Er bewundere den Gleichmut seines Parteifreunds, der anfangs ganz ruhig mit ihnen gesprochen habe.

„Noch kein einziger Mensch ist an Corona gestorben“, grölte einer aus der Gruppe in Großschönau in Richtung des Regierungschefs – der sich trotz guten Willens dann doch abwandte, als eine Frau ein Halstuch in den Farben der Reichskriegsflagge über ihren Mund zog.

Nach Ansicht von Wanderwitz ist es kein Zufall, dass das Coronavirus ein Jahr nach seinem ersten Auftreten heute besonders in jenen Landkreisen stark verbreitet ist, wo die AfD stark ist. Eine mal laute, mal leise Rebellion gegen die Infektionsschutzpolitik behindere unterm Strich die Virusabwehr.

„In einer Pandemie spielen natürlich viele Faktoren eine Rolle“, sagt Wanderwitz. Dazu zähle nicht zuletzt die Haltung der Menschen in einer Region zu Abstandsregeln und Maskenpflicht. „Wer die Infektionsschutzmaßnahmen ablehnt, wie viele AfD-Anhänger, Reichsbürger und Esoteriker es tun, hilft am Ende bei der Ausbreitung des Virus.“ Das Phänomen habe inzwischen eine Dimension, die über das Parteipolitische hinausgehe. So wachse in manchen Regionen der früheren DDR eine Realitätsverweigerung wie im Jahr 2016 bei den Trump-Wählern in den USA. Viele schöben Komplexes und Unwillkommenes einfach beiseite, igelten sich ein – und seien dann keinem Argument mehr zugänglich.

Rechte Subkultur hinter idyllischen Fassaden

Tatsächlich bahnt sich derzeit eine neue deutsche Teilung an – zwischen jenen, die die Realität der Pandemie anerkennen und denen, die das nicht tun. In Heiligenstadt im Kreis Eichsfeld geht der Riss quer durch ein liebevoll restauriertes Städtchen. Die AfD? Die habe hier nichts zu sagen, berichtet stolz eine Fleischereifachverkäuferin. Sie steht hinter einem großen Berg Thüringer Mett. „Hier regiert die CDU.“

Deren Landrat, Werner Henning, Christdemokrat, Pragmatiker, populär, scheint tatsächlich alles im Griff zu haben. Seit den frühen Neunzigern wird er immer wieder gewählt, zuletzt mit 82,2 Prozent. Das katholisch geprägte Eichsfeld, sagt Henning, sei ein Sonderfall, und zwar in positiver Hinsicht. 20.000 der 100.000 Einwohner im Landkreis seien in einem Verein aktiv – „wo gibt es das sonst noch?“ Genau dies aber, die Geselligkeit, habe seine Eichsfelder empfänglicher gemacht für das Virus. Eine weitere Erklärung liege darin, dass der Eichsfelder schon immer sein eigenes Ding gemacht und Distanz zu Berlin gehalten habe, wohlgemerkt auch zu DDR-Zeiten. Vielleicht bremse das bis heute die Akzeptanz von Anordnungen.

Eichsfeld Corona

Fußgängerzone in Heiligenstadt im Kreis Eichsfeld

Doch es kommt noch etwas Neues hinzu, etwas, worüber Henning ungern spricht. Hinter den Fassaden des von ihm verwalteten liebenswerten provinziellen Idylls wächst im Eichsfeld eine rechtsradikale Subkultur. Querdenker, Reichsbürger und Impfgegner formieren sich zu einer Strömung, die diffus erscheinen mag und widersprüchlich, aber immer mehr Anhänger findet.

Die AfD folgt Höcke: „Corona ist vorbei“

Bei einer Demonstration von Corona-Leugnern und Reichsbürgern bot Mitte November der Heiligenstädter Daniel H. den Eichsfeldern Osmosewasser an: Dessen Vorteil liege darin, dass es den Körper basisch mache und man keinen Mund-Nase-Schutz mehr brauche. Im benachbarten Duderstadt, im Westen, gibt es eine Heilpraktikerin namens Carola Javid-Kistel, die den Leuten erzählt, die Corona-Pandemie diene ohnehin nur der Finanzwirtschaft. Die Polizei durchsuchte letzte Woche ihre Praxis wegen des Verdachts, sie habe Maskengegnern falsche Atteste ausgestellt. In Niedersachsen hören der Frau nicht viele zu. Bei einem Querdenker-Event in Erfurt dagegen wurde sie am Sonnabend einmal mehr wie eine Prophetin auf der Bühne empfangen – auch eine der vielen irritierenden Ungleichheiten mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall.

Die AfD sieht sich als parlamentarischer Arm dieser diffusen Bewegung. Der Vordenker ihres rechten Flügels, Björn Höcke, zu Hause im Eichsfeld-Dorf Bornhagen, hatte schon im August in einem Fernsehinterview verkündet: „Corona ist vorbei. Und Corona wird auch nicht wiederkommen.“

Also blickt man vorbei an den Infizierten und Toten. Die AfD-Fraktion im Kreistag von Heiligenstadt reichte zur Sitzung am vorigen Mittwoch als Tagesordnungspunkt zehn den Antrag ein, schnell wieder die Sporthallen für Jugendliche zu öffnen. Begründung: „Das Virus Sars-CoV-2 hat keine epidemische Lage nationaler Tragweite hervorgerufen.“

Das bundesweite Gegenbeispiel: Münster

Wer als Landrat oder Oberbürgermeister in einer solchen Szenerie Virenabwehrmaßnahmen durchsetzen will, bewegt sich wie in einer Gegenstromanlage. Viel leichter dagegen hat es Markus Lewe, der Oberbürgermeister in Münster. Nie erhob sich in seiner Stadt in letzter Zeit ein Reichsbürger, der den Menschen Osmosewasser statt Mund-Nase-Schutz empfohlen hätte. Nie wurde dort behauptet, Corona sei nur eine von finsteren Mächten erzeugte Legende.

Es wäre auch nicht gut angekommen in der Studenten-, Wissenschafts- und Beamtenstadt. Als erste westdeutsche Großstadt meldete Münster schon letzte Woche eine Inzidenzmarke unter 50. Jetzt freuen sich die Münsteraner über den Ausweis einer gleich doppelten Immunität: Bei der letzten Bundestagswahl war Münster der einzige unter den 299 deutschen Wahlkreisen, in dem die AfD unter 5 Prozent blieb.

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