Pandemie in den USAApotheker, Hebammen, Veterinäre – Alle impfen gegen Corona

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Eine Krankenschwester impft einen Mann in Louisville, US-Bundesstaat Kentucky. 

Washington – Den Stich der Nadel spürt man kaum. Nach wenigen Sekunden ist das kostbare Vakzin in den Oberarm injiziert. „Das war's schon!“, sagt Immanuel, der Apotheker, freundlich. Nur eine Frage hat er noch: „Kaufen Sie gelegentlich bei Safeway ein?“ Noch ehe der perplexe Impfling antworten kann, hält ihm der Mann im weißen Kittel einen Coupon für die Supermarktkette entgegen: „Gibt zehn Prozent Rabatt!“

Ein Einkaufsgutschein als Belohnung für eine Covid-Impfung? Oder eine Immunisierung als Köder zur Kundenwerbung? Man ist nicht ganz sicher, welches Interesse hier im Vordergrund steht. Aber eines lässt sich zweifelsfrei sagen: Die Impfaktion im überwiegend schwarzen Osten der US-Hauptstadt Washington ist perfekt organisiert.

„Folgen Sie immer den blauen Pfeilen!“, hat der Mann an der Tür des Rosedale-Freizeitzentrums gesagt, nachdem er den QR-Code mit dem Termin kontrolliert hat. Der markierte Weg führt am Rand einer Turnhalle entlang bis zu einem Kreuz, wo ein weiterer Helfer vorübergehend den Führerschein mit Namen und Adresse einkassiert und einen Stuhl zuweist.

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„Folgen Sie immer den blauen Pfeilen!“ Wie hier in Seattle, US-Bundesstaat Washington, sorgen Aufkleber dafür, dass die Impflinge zueinander Distanz halten. 

Genau 35 Stühle für die wartenden Ungeimpften stehen auf der einen Seite. Auf ebenso vielen Plätzen gegenüber sollen die Geimpften sicherheitshalber zehn Minuten verweilen. Dazwischen sitzen vier Apotheker von Safeway und spritzen im Akkord.

Start der Impfkampagne war wie in Deutschland holprig

300 Dosen des Wirkstoffs von Pfizer/Biontech verabreichen sie an diesem Morgen. Weitere 300 Dosen von Moderna liegen im Kühlschrank für den Nachmittag bereit. „In exakt drei Wochen sehen wir uns wieder“, sagt Immanuel zum Abschied: „Gleicher Ort, gleiche Zeit.“

Vergessen sind drei frustrierende Vormittage am Computer, in denen das völlig überlastete Anmeldeportal der Stadt Washington immer wieder abstürzte, den eingegebenen Sicherheitscode nicht akzeptierte oder am Ende plötzlich alle Termine schluckte. Auch in Amerika ist die Impfkampagne von organisatorischen Pleiten und technischen Pannen begleitet.

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Noch im vorigen Monat bewertete die „Washington Post“ die lokale Organisation mit der wenig schmeichelhaften Note „5 minus“. Doch unterm Strich relativiert das rasante Tempo der Immunisierung viele Probleme: 110 Millionen Spritzen wurden inzwischen gesetzt. Gut 21 Prozent der Amerikaner haben mindestens eine Dosis erhalten, mehr als elf Prozent sind voll geimpft. Der Anteil liegt dreimal so hoch wie in Deutschland.

Teils pragmatischer, teils wildwüchsiger, aber vor allem viel schneller – so lässt sich die amerikanische Impfkampagne im Unterschied zur deutschen beschreiben. Als „Tagesthemen“ und „Heute Journal“ am Ende des vergangenen Jahres eindrucksvolle Berichte über vorbildliche Impfzentren brachten, hatte sich die Trump-Regierung über die Verteilung des massiv georderten Impfstoffs noch keinerlei Gedanken gemacht. Im Januar funkten Bürgermeister reihenweise Alarm und monierten, dass sie mit der Organisation des Impfens völlig alleingelassen würden.

Eilig wurden die Nationalgarde und Apotheken, die in den USA oft mit Handelsketten verbunden sind, eingebunden und neue Vertriebswege organisiert. Nun gibt es einen bunten Flickenteppich aus improvisierten Supermarkt-Impfstationen, öffentlichen Gesundheitszentren und großen Drive-Thru-Stationen, wo man mit dem Auto durchfährt. Auch die Zugangsbedingungen unterscheiden sich von Bundesstaat zu Bundesstaat.

In Ohio oder Michigan werden derzeit schon 50-Jährige geimpft. Anderswo muss man 65 sein. Dafür gibt es umfangreiche Listen mit Vorerkrankungen, die zu einem Termin berechtigen. Neben Krebs oder einer HIV-Erkrankung gehören dazu vielerorts auch Bluthochdruck und Übergewicht, wobei der Grenzwert mal bei einem Body-Mass-Index von 25, mal bei 30 und mal bei 40 liegt. Auf ein ärztliches Attest wird meist verzichtet. In Mississippi und New Jersey werden sogar Raucher vorgezogen.

Massenimmunisierung läuft hemdsärmelig, aber schnell

Wie hemdsärmelig die Massenimmunisierung abläuft, kann man morgens beim Giant-Supermarkt auf der H Street im Washingtoner Stadtteil Capitol Hill beobachten. Der große Lebensmittelladen öffnet um 6 Uhr, doch der hauseigene Apothekenschalter am Rand der Einkaufshalle zieht erst um 9 Uhr das Gitter hoch.

Direkt davor sitzt neben dem Weinregal und einem Ständer mit Chipstüten ein Kunde auf einem einzelnen Stuhl und wartet geduldig. Der 72-jährige Andrew ist auf der Jagd. Sein Ziel: eine überzählige Dosis Impfstoff.

Ähnlich wie Andrew liegen derzeit Hunderttausende Amerikaner auf der Lauer. Sie durchforsten das Internet, tauschen Tipps über soziale Medien aus und stellen sich in Schlangen für Impf-Restposten an. Weil die in USA verbreiteten Vakzine von Pfizer/Biontech und Moderna ohne Kühlung nur wenige Stunden haltbar sind und gelegentlich Impfberechtigte nicht zum Termin erscheinen, gibt es immer wieder kostbare Dosen, die am Ende einer Schicht schnell verabreicht werden müssen.

Der Giant-Apotheker handhabt das pragmatisch: Zunächst werden die Supermarkt-Beschäftigten gefragt. Wenn von denen keiner zugreift, werden die Kandidaten auf einer Warteliste benachrichtigt.

Andrew strebt den aussichtsreichen ersten Platz auf dem Klemmbrett an, das bei Öffnung der Apotheke ausgelegt wird – freilich nicht für sich selbst. Der Rentner bessert sich seine Bezüge beim Dienstleister Skip The Line auf, den man auch engagieren kann, wenn einem die Wartezeit vor dem Restaurant oder dem Ticketschalter zu lange ist.

Für 18 Dollar in der Stunde hält er den Platz frei, bis ihn schließlich gegen halb Neun seine Auftraggeberin Anne ablöst. Ein bisschen peinlich ist der beruflich stark engagierten Mittvierzigerin die Aktion schon. Aber: „Ich nehme niemand etwas weg“, betont sie wie zur Selbstvergewisserung.

Das kann nicht jeder Impfdrängler von sich sagen. So wurde nach einem Bericht des „Miami Herald“ bereits im Januar, als die Vakzine noch richtig knapp waren, die Reichenenklave Ocean Reef auf den idyllischen Florida Keys mit ihren 1200 Bewohnern – darunter auffallend viele Parteispender der Republikaner – komplett durchgeimpft. Die laxen Vorgaben des Trump-treuen Gouverneurs Ron De Santis lockten auch vermögende Kalifornier in den Sunshine-State, die sich bei einem Kurztrip schnell vorab den Corona-Schutz besorgten.

Solche skandalösen Fehlentwicklungen sind die Kehrseite einer Impfkampagne, die Schnelligkeit und Pragmatismus über Regelgenauigkeit und Einzelfallgerechtigkeit setzt. Auf der Habenseite jedoch steht das enorme Tempo, das die USA mit inzwischen rund 2,4 Millionen Impfungen pro Tag vorlegen.

Möglich ist das, weil die Vakzine inzwischen in großen Mengen zur Verfügung stehen. Daran hat auch Donald Trump einen Anteil: So sehr der Ex-Präsident durch das öffentliche Leugnen der Gefahr und die Ablehnung des Masketragens bei der Eindämmung der Pandemie versagte, so massiv drängte er auf die Beschaffung eines Impfstoffs, der ihm das lästige politische Problem vom Hals schaffen sollte.

Entsprechend wurden bei der Operation Warp Speed (zu Deutsch etwa: Windeseile) viel früher viel mehr Vakzine unterschiedlicher Hersteller geordert als in Europa. Nachfolger Joe Biden hat den Druck durch die kriegswirtschaftliche Eil-Beschaffung von Maschinen für ein Pfizer-Werk in Michigan und die Nötigung des Herstellers Johnson & Johnson zur Zusammenarbeit mit seinem Wettbewerber Merck noch weiter erhöht.

So dürften die USA bald mit Covid-Impfstoff überversorgt sein. Bis zum Sommer werden jeweils 300 Millionen Dosen von Pfizer/Biontech und Moderna sowie 200 Millionen Dosen von Johnson & Johnson erwartet. Weil von den ersten beiden Präparaten zwei, von dem J&J-Stoff jedoch nur eine Gabe erforderlich sind, wäre das genug für 500 Millionen Menschen – fast doppelt so viel wie die 260 Millionen Erwachsenen, die in dem Land leben.

Schon Ende Mai werde es ausreichend Vakzine für alle Amerikaner geben, kündigt Biden an: „Das ist ein nationaler Kraftakt wie im Zweiten Weltkrieg.“ Den Puffer bei der Beschaffung begründet er mit der Notwendigkeit, für alle Eventualitäten gewappnet sein zu müssen. „Falls wir einen Überschuss haben, werden wir ihn mit der Welt teilen“, verspricht der Präsident.

Bereits am 4. Juli, dem Nationalfeiertag, werde das Land weitgehend zur Normalität zurückkehren und beim Barbecue mit Familie und Freunden feiern können, hat Biden kürzlich den Amerikanern in Aussicht gestellt. Bis dahin sollen Zahnärzte, Sanitäter, Arzthelfer, Hebammen und selbst Tierärzte beim Impfen helfen.

Schwarze Amerikaner, Latinos und Trump-Fans zögern beim Impfen

So könnte schon bald nicht mehr das Angebot, sondern die Nachfrage zum Problem werden. Bei Afroamerikanern und Latinos gibt es aus kulturellen Gründen nämlich erhebliche Vorbehalte gegen die Immunisierung. Zudem lehnen erschreckende 47 Prozent der Trump-Anhänger laut Umfragen die Spritze aus ideologischen Motiven ab.

Entsprechend eindringlich appelliert Biden an die Bürger: „Ich werde nicht aufgeben, bevor wir das Virus besiegt haben. Aber dazu brauche ich Sie. Sie müssen sich impfen lassen!“

Bei der Mittvierzigerin Anne in Washington muss der Präsident keine Überzeugungsarbeit mehr leisten. Sie hat tatsächlich um kurz vor drei Uhr am Nachmittag einen Anruf von der Giant-Apotheke erhalten, weil an diesem Tag zwei Impfdosen übrig sind.

Kurz darauf sitzt sie hinter einer improvisierten Spanischen Wand in dem Supermarkt. Vorne schieben die Kunden ihre vollen Einkaufswagen vorbei. Hinter dem Sichtschutz wird ihr die Spritze gesetzt.

Auch eine andere Frau, die Nummer zwei der Warteliste vom Vormittag, hat es geschafft. Verstohlen glücklich nicken sich die beiden Fremden zu: Schon in wenigen Wochen werden sie ihr altes Leben zumindest ein Stück weit zurückhaben.  

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