Probleme mit AstrazenecaSo steht es um den Impfstoff-Nachschub

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Astrazeneca Impfstoff

Eine Impfdose von Astrazeneca.

Berlin – Prognosen, so stellte einst der Schriftsteller Mark Twain fest, seien schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft beträfen. Das gilt in Zeiten einer Pandemie umso mehr. Eigentlich sollte in den nächsten Tagen zum Beginn des zweiten Quartals ein neues Kapitel im Kampf gegen die Pandemie aufgeschlagen werden: In den kommenden drei Monaten wird ein Mehrfaches der bisher gelieferten Impfdosen prognostiziert. Außerdem sollen die Arztpraxen regulär in das Impfen einsteigen. Doch am Dienstag kam eine Hiobsbotschaft, die viele Pläne wieder durcheinander bringt: Wegen neuer Fälle von lebensgefährlichen Hirnthrombosen soll der Impfstoff des britisch-schwedischen Unternehmens Astrazeneca nur noch bei über 60-Jährigen verimpft werden.

In einem am Nachmittag bekannt gewordenen Entwurf für eine neue Empfehlung der Ständigen Impfkommission heißt es, basierend auf der momentanen Datenlage empfehle die Stiko „im Regelfall“ die Impfung mit Astrazeneca „nur Menschen im Alter >60 Jahre“. Der Einsatz unterhalb dieser Altersgrenze „bleibt indes nach ärztlichem Ermessen und bei individueller Risikoakzeptanz nach sorgfältiger Aufklärung möglich“, heißt es in dem Beschlussentwurf weiter.

Hintergrund der Diskussionen sind Hirnvenenthrombosen, die zuletzt im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen aufgetreten waren, vorwiegend bei Frauen unter 55. Dazu heißt es in dem Beschlussentwurf: „Obwohl deutlich mehr Frauen betroffen waren, schränkt die Stiko vorsorglich ihre Empfehlung für beide Geschlechter ein.“

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Beratungen am Dienstagabend

Am Dienstagabend wollten dann die Gesundheitsminister von Bund und Ländern über den weiteren Umgang mit dem Corona-Impfstoff von Astrazeneca beraten.

Als Hausärztin Ulrike Petri vor ein paar Tagen ihre Bestellung für Impfstoffe ausfüllt, ist diese Entwicklung noch nicht abzusehen: „30 Covid-Impfstoffdosen plus erforderliches Impfzubehör“ hat die Ärztin auf dem „Formular 16“ für die Apotheke vermerkt, aus der sie auch normalerweise den Bedarf für ihre Praxis bezieht. „Endlich geht es los“, sagt die Medizinerin erleichtert, die im brandenburgischen Kloster Lehnin Hunderte Patienten betreut.

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Dass Astrazeneca teilweise ausfällt, ist zumindest am Anfang kein Problem für die Ausweitung der Impfkampagne auf die Praxen, weil zunächst ohnehin nur das Vakzin von Biontech/Pfizer an die Ärzte ausgeliefert werden soll. Das Impfen in den Praxen, so hatte es der Chef der Kassenärzte, Andreas Gassen, formuliert, werde der „Game Changer“ beim bisher schleppend verlaufenden Impfen.

Davon ist auch Hausärztin Petri überzeugt: „Ich hätte gerne von Beginn an meine Patienten geimpft - auch außerhalb der Sprechzeiten und an Wochenenden“, so die Medizinerin. „Ich habe nie verstanden, warum man extra Impfzentren aufgebaut hat“, sagt sie und berichtet aus ihrer Praxis: Da ist der von ihr betreute 80-Jährige, der nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt und einen Blasenkatheter brauchen würde, um die lange Fahrt ins Impfzentren zu überstehen. Oder der junge Mann, der nur schwer transportfähig ist, weil er im Wachkoma liegt und zu Hause von Intensivpflegekräften betreut wird „Er fällt bei den aktuellen Impfregeln durchs Raster, wenn ich ihn nicht zu Hause impfe“, sagt sie.

„Bei uns muss nichts weggeworfen werden“

„Frau Doktor, Ihnen vertraue ich, von Ihnen will ich geimpft werden und deshalb warte ich lieber noch“ – das hätten in den vergangenen Wochen viele ihrer Patienten gesagt, berichtet Petri. Sobald die Impfdosen da sind, will sie zuerst die hochbetagten und immobilen Patienten versorgen, die sie per Hausbesuch betreut. Sollte am Abend etwas übrig bleiben, plant sie diejenigen zu impfen, die mit einer chronischen Erkrankung zwar erst in die zweite Impfkategorie fallen, aber mobil sind. „Die können wir dann anrufen und rasch in die Praxis bitten“, so die Medizinerin: „Bei uns muss nichts weggeworfen werden.“

„Hoffentlich bekomme ich bald so viel Impfstoff, um alle meine Patienten impfen zu können“, sagt die Ärztin. Das ist auch die Hoffnung der Politik. Während von Januar von März erst rund 16 Millionen Dosen geliefert wurden, sollen es nach der Prognose des Bundesgesundheitsministeriums im zweiten Quartal bis zu 73,5 Millionen Dosen sein – 40,2 Millionen von Biontech/Pfizer, 6,4 Millionen von Moderna, zwischen 12,4 und 15,4 Millionen von Astrazeneca und 10,1 Millionen von Johnson&Johnson.

Eingeplant im zweiten Quartal ist auch eine Lieferung vom deutschen Hersteller Curevac, obwohl eine Zulassung des mRNA-Impfstoffs noch nicht absehbar ist. Allerdings ist davon auch nur die vergleichsweise kleine Menge von 1,4 Millionen Dosen avisiert. Der russische Impfstoff Sputnik V ist dagegen in keiner der Lieferprognosen berücksichtigt. Zu unsicher ist, ob - und wenn ja wann - er von der EU-Arzneimittelbehörde zugelassen wird.

Selbst unter der ungünstigen Annahme, dass sich niemand mehr mit dem Astrazeneca-Vakzin impfen lassen möchte, kann Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihr Versprechen einlösen, dass jedem Bürger bis Ende September – also bis zum Ende des 3. Quartals - ein Impfangebot gemacht werden kann. Immerhin sollen zwischen Anfang Juli und Ende September weitere 120 Millionen Dosen geliefert werden – mehrheitlich erneut das Vakzin von Biontech/Pfizer.

Aber wie sicher sind diese Lieferpläne?

Aber wie sicher sind diese Lieferpläne? „Die Zahlen beruhen auf Prognosen und sind mit Unsicherheiten behaftet. Änderungen sind nicht ungewöhnlich!!“ warnt das Gesundheitsministerium in roter Schrift auf allen Tabellen. Der Ausfall einer Fabrik oder Lieferengpässe bei Grundstoffen können zu enormen Verzögerungen führen. Allerdings wird im Ministerium darauf verwiesen, dass sich die Belieferung in den vergangenen Wochen stabilisiert hat. Und: „Letztlich profitieren wir in Europa auch vom enormen Impffortschritt in den USA und Großbritannien. Je schneller dort geimpft wird, desto früher fallen deren Exportbeschränkungen“, heißt es.

Absehbar ist jedenfalls, dass die Impfzentren der Länder die Liefermenge schon in den kommenden Wochen nicht mehr allein werden verimpfen können. Um die 300.000 Dosen täglich schaffen die über 400 Zentren bundesweit. In den Arztpraxen können dagegen nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) täglich etwa eine Million Impfdosen gespritzt werden.

Angenommen wird dabei, dass die 50.000 Hausarztpraxen täglich etwa 20 Impfungen schaffen. Wie sich das auswirkt, zeigt eine aktuelle Simulation des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi). Werden weiterhin nur die Impfzentren genutzt, dauert es den Berechnungen zufolge noch bis kurz vor Weihnachten, bis die gesamte Bevölkerung einmal geimpft ist. Die Zweitimpfungen sind dann erst im kommenden Jahr abgeschlossen. Wird das Impfen dagegen weitgehend auf die Praxen verlagert, ist die Erstimpfung bis 18. Juli und die Zweitimpfung bis 15. August zu schaffen.

Praxen erhalten nur kleine Impfstoff-Lieferungen

Dennoch sollen die Zentren noch mehrere Monate weiter betrieben werden und auch bevorzugt beliefert werden. Die Länder, die ihre teuer aufgebauten Impfzentren auslasten wollen, setzten durch, dass sie bis auf weiteres pro Woche 2,25 Millionen Dosen bekommen. Das führt dazu, dass die Praxen bis weit in den April hinein wöchentlich nur etwa eine Million Dosen erhalten - das sind lediglich 20 Dosen pro Praxis und damit nur ein Fünftel der möglichen Kapazität. Die Praxen dürften nicht zur „Resterampe“ werden, beschwerte sich der Chef des Deutschen Hausärzteverbandes, Ulrich Weigeldt.

Der Brandenburger Hausärzteverband forderte seine Mitglieder sogar indirekt auf, die Impfzentren, in denen viele niedergelassene Mediziner freiwillig helfen, fortan zu boykottieren. Man könne jetzt nur noch „mit den Füßen abzustimmen“, heißt es in einem Brief an die Mitglieder, der dem RND vorliegt und. Es sei schließlich „unser Altruismus und unsere Gutmütigkeit, die dieses System bisher am Leben gehalten hat“, argumentiert der Verband und appelliert an die Ärzte: „Denken Sie daran, wenn Sie wieder um Übernahmen von Diensten im Impfzentrum gebeten werden.“

Offen sagt es keiner, aber gegen ein Impfen bei den Ärzten spricht nach Auffassung der Länder auch, dass die Priorisierung dann nicht mehr durchzuhalten ist. Andere sehen das entspannt. „Jetzt kommen so viele Dosen, dass es nun auch egal ist, wenn sich ein Arzt mal nicht exakt an die Reihenfolge hält“, sagt ein Krankenkassen-Manager. „Da müssen wir uns als Deutsche auch mal locker machen. Jeder Geimpfte ist ein Gewinn, Hauptsache, wir starten endlich durch“, so der Kassen-Mann.

Durchstarten fordert auch Kassenarzt-Chef Gassen. Nahezu alle Länder, die schneller impfen würden als Deutschland, bekämen die Pandemie in den Griff, sagt er. In Israel, den USA und Großbritannien sänken die Infektions- und Sterbezahlen. „Während andere Länder impfen, wo und wie es nur geht, doktert Deutschland an immer neuen Verordnungen und anderen bürokratischen Vorgaben – statt die Praxen einfach machen zu lassen“, beklagt er.

Hausärztin Petri weiß, wovon Gassen spricht. Denn mit einem Pieks ist es eben nicht getan. Der bürokratische Aufwand sei extrem, kritisiert sie. Allein der Aufklärungsbogen umfasse fünf Seiten, der mehrfach unterschrieben werden müsse. Und die Meldung über die Impfungen müsse täglich abgeliefert werden, „bis spätestens 23.59 Uhr – wie es in der Anweisung warnend heißt“, berichtet sie.

Gleichwohl ist die Medizinerin optimistisch, dass das Impfen nun endlich schnell vorankommt. „Das wird sich einspielen“, sagt sie, „trotz der Probleme mit den Liefermengen und der Bürokratie.“

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