Skandalakte FacebookWarum der Internetriese seiner Verantwortung nicht gerecht wird

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Zuckerberg FB

Mark Zuckerberg, Vorstandsvorsitzender von Facebook, spricht am zweiten Tag der 56. Münchner Sicherheitskonferenz. 

Berlin – In Deutschland kam der Einschlag zur wahrscheinlich ungünstigsten denkbaren Zeit. Ausgerechnet kurz nach 18 Uhr, als die einen das Handy zückten, um sich die Heimfahrt in der Pendelbahn zu verkürzen, und die anderen ihre losen Abendverabredungen konkretisieren wollten, standen sie an diesem Montag vor dem Nichts. Jedenfalls, wenn sie zu den weltweit 3,5 Milliarden Menschen gehören, die dafür die Social-Media-Plattformen und Apps von Facebook, WhatsApp oder Instagram nutzen.

Statt Nachrichten und Fotos von echten oder virtuellen Freunden nur weiße Kästen oder leere Rahmen, über denen sich ein kleines graues Speichenrad drehte: Bitte warten, heißt das sonst, hier wird noch geladen. An diesem Montag hieß es allerdings geschlagene sechs Stunden: Nichts geht mehr.

Erst nach und nach dämmerte den Hunderttausenden Nutzern, deren Daumen hektisch über die Touchscreens von einer App zur nächsten huschten, sie öffneten, aktualisierten, schlossen und wieder öffneten, dass es dieses Mal nicht an der eigenen Internetverbindung lag. Dass man seine Verabredungen an diesem Abend wohl ganz altmodisch per SMS oder gar fernmündlich – per Telefonanruf – treffen muss. Dass man keine Schnappschüsse oder Sprachnachrichten austauschen, auf Kinderfotos oder Flirtversuche nicht mit gelbgesichtigen Emoji-Ausbrüchen oder witzigen Wackelbildchen reagieren kann.

Die Konkurrenz reagiert mit Häme

Bald verbreitete sich die Meldung, dass die drei Dienste, die allesamt zum Facebook-Konzern gehören und von denen je nach Altersgruppe mindestens einer eine zentrale Sozialfunktion im Alltag unzähliger Deutscher einnimmt, ein grundsätzliches Problem haben.

Bei der Konkurrenz von Twitter, dem größten verbliebenen Social Medium an diesem Abend, packten die Betreiber kurz vor halb 8 ihre Häme in eine Kurznachricht, indem sie ihren Usern nicht nur „Hallo an alle!“zuriefen – sondern sie „hello literally everyone“ begrüßten: Hallo an buchstäblich alle.

Eine Ahnung davon, wie viele User um den Ausfall der Facebook-Dienste herumimprovisierten, vermittelten die Zahlenmeldungen der Telefondienstleister am Folgetag: Allein beim Anbieter Telefónica (O2) wuchs die Zahl der Telefongespräche um mehr als ein Drittel. Und die Zahl der SMS-Nachrichten verdreifachte sich.

Symptom für ein größeres Problem

Gut sechs Stunden dauerte es, dann hatte Facebook die technischen Probleme im Griff. Am Ende half das, was auch viele Menschen zu Hause oder im Büro hilft, wenn der Computer zickt: ein manueller Reset, oder wie man im Deutschen sagen würde, aus- und wieder einschalten.

Man könnte über die Panne lachen und sich darüber lustig machen, dass die leidige Technik offenbar auch einen der führenden Digitalkonzerne überfordern kann - wenn es das erste Mal wäre, das Facebook für Negativschlagzeilen sorgt. Und wenn die ganze Sache nicht ein Symptom für ein größeres Problem wäre. Ein sehr viel größeres.

„Der Facebook-Absturz hat gezeigt, wie groß die Abhängigkeit von weiten Teilen der Bevölkerung von einem Unternehmen ist. Millionen von Menschen haben hierzulande zeitweise die Basisinfrastruktur für ihre Kommunikation verloren“, sagte Markus Beckedahl von der Plattform Netzpolitik.org dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Er betont: „Das macht die Bedeutung des Unternehmens deutlich, das Märkte beherrscht und damit Wettbewerb und Innovation blockiert.“

Utopische Wachstumsraten

Facebook gehört zu den wichtigsten Unternehmen der Welt. Schon ein Blick auf die nüchternen Zahlen macht das deutlich. Im zweiten Quartal konnte der Konzern den Umsatz im Vergleich zum Vorjahr um 56 Prozent auf 29,1 Milliarden Dollar steigern. Dabei sprang ein operativer Gewinn von 12,4 Milliarden Dollar heraus – das entspricht einer Rendite von sagenhaften 43 Prozent. Das sind Kennziffern, die auch für die größten Industrieunternehmen utopisch sind.

Möglich wurde der fast schon beängstigende Erfolg durch einen Mechanismus, der in der Internetökonomie immer wieder beschrieben wird: Wo schon viele Nutzer sind, kommen beinahe automatisch weitere hinzu. Weil dort die Wahrscheinlichkeit am größten ist, das zu finden, was man sucht.

Riesige Marktmacht

Geht es um Kommunikation, ist dieses Verhalten besonders stark ausgeprägt. Bei Facebook kommt hinzu, dass zu dem Konzern nicht nur das namensgebende soziale Netzwerk gehört, sondern auch die Kurznachrichtenplattform WhatsApp und die Foto-App Instagram. Das sind die weltweit wichtigsten digitalen Kommunikations-Kanäle.

Facebook hat sich diese Position mit viel strategischem Geschick aufgebaut – unter besonderer Berücksichtigung der Daten. Die digitalisierten Informationen werden ständig analysiert mit zweierlei Zielrichtung: Einerseits wird es damit möglich, Werbung sehr teuer zu verkaufen, weil Facebook den Werbetreibenden zusichern kann, dass nur Leute, die Affinität zu einem Produkt haben, die Reklame dafür erhalten. Und andererseits geht es um die Verbesserung von Funktionsweisen, die berühmte User Experience.

Facebook ist seiner Verantwortung nicht gewachsen

Ziel aller Unterfangen: ewiges Wachsturm. Also noch mehr Nutzer. Und mit jedem Einzelnen wächst die Macht. Schon heute beeinflusst Facebook das Leben von Milliarden Menschen. Die Hälfte der Weltbevölkerung ist angemeldet, die Zahl der täglichen Nutzer liegt bei 2,76 Milliarden Menschen.

Mit dieser enormen Reichweite geht auch eine riesige Verantwortung einher, zu der sich Facebook immer wieder bekannt hat - zumindest auf dem Papier. „Facebook wurde ursprünglich nicht als Unternehmen gegründet. Es wurde gemacht um eine soziale Mission zu erfüllen - die Welt offener und verbundener zu machen“, hat Gründer Mark Zuckerberg einst zu Protokoll gegeben.

Inzwischen glauben selbst Wohlwollende nicht mehr daran, dass Facebook die Welt wirklich besser macht. Kaum jemand würde angesichts all der Skandale in der Vergangenheit noch die Behauptung wagen, dass Facebook seiner Verantwortung gewachsen ist. Inzwischen lautet die Frage eher, ob das Unternehmen ihr überhaupt gewachsen sein will.

Gewinn geht über gesellschaftliches Wohlergehen

Für Entsetzen weit über die USA hinaus sorgten Veröffentlichungen der amerikanische Whistleblowerin Frances Haugen. In einer Artikelserie in der New York Times und in zahlreichen Interviews hat die frühere Facebook-Mitarbeiterin darauf aufmerksam gemacht, welche verheerenden Folgen die „Wachstum-um-jeden-Preis-Strategie hat“: Facebook stellt den wirtschaftlichen Erfolg über das gesellschaftliche Wohlergehen, lautet ihre Kritik.

Haugen hat firmeninterne Dokumente, Studien und Chats an US-Behörden sowie Medienhäuser weitergegeben, die diese Aussagen belegen sollen. Unter dem Schlagwort „Facebook Files“ berichtete etwa das Wall Street Journal, dass Facebook über die Aktivitäten mexikanischer Drogenkartelle und Menschenhändler auf der Plattform genauestens Bilde sei, aber so gut wie nichts dagegen unternehme.

Haugen war Teamleiterin bei Facebook, in der Abteilung für öffentliche Integrität. Sie weiß also, wovon sie spricht. Die Firma befinde sich in einem ständigen Interessenkonflikt zwischen öffentlicher Sicherheit und eigenen Profiten, den sie regelmäßig zu Gunsten der eigenen Profite löse, sagt die Aussteigerin. Hate Speech, schräge Verschwörungstheorien verbreitet von hochaktiven Nutzern – das sind letztlich Inhalte, die Renditen steigen lassen.

„Facebook ist eine Gefahr für die Meinungsbildung“

Das vielleicht offensichtlichste Beispiel sind die Lügen, die Donald Trump auch über Facebook verbreitete. Lange Zeit schritt das Unternehmen nicht ein, weil so die Nutzerfrequenz in die Höhe getrieben wurde. Erst als Trump abgewählt war und auch der politische Druck wuchs, wurde sein Zugang gesperrt.

„Facebook ist eine Gefahr für die Meinungsbildung und damit für die Demokratie, weil das Unternehmen sehr geizig ist, wenn es darum geht, Fake News und Desinformation auf seinen Plattformen zu unterbinden - allen gegenteiligen Bekundungen zum Trotz“, sagt Aktivist Beckedahl von Netzpolitik.org. Er fordert, die Marktmacht des Konzerns einzudämmen.

Experten fordern Regeln gegen „Quasi-Monopole“

Auch in der Politik sehen das immer mehr Experten so. „Zur kritischen Infrastruktur gehören nicht nur Schienen, Straßen und Kabel, sondern auch die soziale Infrastruktur des Netzes“, sagt Anke Domscheit-Berg, Netzpolitische Sprecherin der Fraktion „Die Linke“ im Deutschen Bundestag, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es zeige sich immer deutlich, wie falsch es gewesen sei, auf ein Quasi-Monopol zu setzen. „Ich hoffe sehr, dass die US-Politik jetzt vorangeht und dieses Monopol zerschlägt - das Minimum wäre die Abspaltung von WhatsApp und Instagram“, so die Abgeordnete.

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Ähnlich argumentiert Rasmus Andresen, Grünen-Abgeordneter im EU-Parlament: „Alle in der Europäischen Union als auch in den USA müssen spätestens jetzt erkennen, dass wir starke Regelungen gegen Quasi-Monopole brauchen“, sagt er. „Eine Aufspaltung von Facebook, WhatsApp und Instagram darf kein Tabu sein."

Netzaktivist Beckedahl sieht allerdings auch die Verbraucherinnen und Verbraucher in der Verantwortung. „Die Nutzer sollten den Systemausfall zum Anlass nehmen, um sich zu fragen, ob sie sich in ihrer digitalen Kommunikation wirklich von einem Unternehmen komplett abhängig machen wollen“, sagt er. „Von der Akzeptanz der Nutzer hängt letztlich ab, wie stark Facebook in Zukunft sein wird.“

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