Angst vorm SupervirusWirken die Impfstoffe auch gegen die neue Corona-Variante?

Lesezeit 5 Minuten
Neuer Inhalt

Ein Intensivpfleger versorgt einen Covid-19-Patienten auf der Intensivstation der Leipziger Uniklinik. (Archivbild)

Berlin – Jens Spahn hat die Uhr vorgestellt: Es sei nicht mehr fünf nach zwölf, wie noch vor zwei Wochen, auch nicht mehr zehn nach zwölf, wie vor sieben Tagen. „Es ist mittlerweile halb eins, aber der Weckruf ist noch nicht überall angekommen“, mahnte der geschäftsführende Gesundheitsminister am Freitagmorgen in der Bundespressekonferenz. „Die Lage ist dramatisch ernst, so ernst wie noch zu keinem Zeitpunkt in dieser Pandemie.“

Dabei sprach Spahn nicht allein über die Situation in Deutschland. Denn einige Stunden zuvor hatte das südafrikanische Institut für Ansteckende Krankheiten NICD mitgeteilt, dass in Südafrika 22 Fälle der neuen Coronavirus-Variante mit dem Kürzel B.1.1.529 nachgewiesen worden seien. Sie ist möglicherweise gefährlicher und ansteckender als die derzeit vorherrschende Delta-Mutante.

Fall in Belgien: Neue Variante erstmals auch in Europa nachgewiesen

Viel Zeit bleibt offenbar nicht: Schon am Nachmittag kam aus Belgien die Meldung, dass die neue Variante erstmals auch in Europa nachgewiesen wurde. Die Probe stamme von einem Reisenden, der am 11. November aus Ägypten zurück nach Belgien gekommen sei und am 22. November erste Symptome gezeigt habe, twittert der bekannte Virologe Marc Van Ranst.

Experten nehmen nicht an, dass es sich bei den schlechten Nachrichten um einen Fehlalarm handelt. „Wir sind tatsächlich in sehr großer Sorge“, sagte der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler. Kurz davor hatte die geschäftsführende Bundesregierung bereits angekündigt, Südafrika zum Virusvariantengebiet zu erklären.

In der Folge dürften Fluggesellschaften nur noch deutsche Staatsbürger nach Deutschland befördern. Nach der Ankunft sind 14 Tage Quarantäne für alle vorgeschrieben, auch für Geimpfte. Ein Freitesten ist nicht möglich. Die EU erwägt sogar, den Flugverkehr nach Südafrika ganz zu kappen.

In Südafrika entdeckte Corona-Variante weist sehr viele Mutationen auf

Aber sind derartige Schutzmaßnahmen wirklich notwendig? Schließlich ist es nicht ungewöhnlich, dass Viren mutieren. Im Fall von B.1.1.529 sind viele Experten jedoch besorgt, weil die Variante sehr viele Mutationen aufweist – insbesondere am Spike-Protein. Das ist der Teil des Virus, der an die menschliche Zelle bindet. Gegen das Spike-Protein sind auch viele Impfstoffe gerichtet.

Die Mutationen könnten das Virus einerseits übertragbarer machen und andererseits die Wirkung der Impfstoffe beeinträchtigen. Die Wissenschaftlerin Susan Hopkins vom Imperial College in London bezeichnete die neue Variante als „die besorgniserregendste, die wir je gesehen haben“. „Uns macht die sprunghafte Evolution dieser Variante Sorgen“, sagte auch Tulio de Oliveira vom südafrikanischen Genomforschungsinstitut NGS-SA.

B.1.1.529 habe Mutationen in der Nähe der sogenannten Furin Cleavage Site, die eine Rolle bei der Aufnahme des Virus in menschliche Zellen spielt, erklärte Wieler. „Das spricht dafür, dass es eine erhöhte Transmission sein könnte.“ Laut Wieler gibt es auch einige Mutationen an Stellen, an die neutralisierende und therapeutische Antikörper binden. Es müsse noch untersucht werden, ob die steigenden Fallzahlen in Südafrika wirklich mit diesem Virustyp zusammenhängen, so Wieler.

Wirken die bisher verwendeten Impfstoffe noch?

Eine der wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang: Wirken die bisher verwendeten Impfstoffe noch? Einige Experten und Expertinnen gehen derzeit davon aus, dass die Impfung gegen die Variante B.1.1.529 wahrscheinlich weniger effektiv ist. Das muss aber nicht heißen, dass die Impfstoffe komplett wirkungslos sind. Auch lassen sich die Impfstoffe, etwa von Biontech oder Astrazeneca, vergleichsweise einfach an neue Varianten anpassen.

Der Impfstoffhersteller Biontech schaut sich die Variante bereits an. „Wir können die Besorgnis von Experten nachvollziehen und haben unverzüglich Untersuchungen zur Variante B.1.1.529 eingeleitet“, teilte das Unternehmen auf Anfrage des RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) am Freitag mit. Spätestens in zwei Wochen erwarte man weiterführende Daten aus Labortests. „Diese Daten werden uns Aufschluss darüber geben, ob es sich bei B.1.1.529 um eine Escape-Variante handeln könnte, die eine Anpassung unseres Impfstoffs erforderlich macht, wenn sich diese Variante international ausbreitet.“

Wenn sie sich ausbreitet – aber wird sie das auch tun? Die Göttinger Physikerin Viola Priesemann ist davon überzeugt: „Man wird die Variante nicht aufhalten können. Aber sie zu bremsen kauft einem wichtige Zeit“, schrieb sie auf Twitter.

Sofortige Entlastung der Kliniken notwendig

Zeit, die es zumindest mit Blick auf die vierte Welle hierzulande nicht mehr gibt. Denn die Lage spitzt sich immer weiter zu. Die Gesundheitsämter meldeten am Freitag 76.414 bestätigte Neuinfektionen binnen eines Tages. Die Zahl der Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche lag bei 438,2. Die Hospitalisierungsrate, also die Zahl der in Kliniken aufgenommenen Corona-Patienten je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, erreichte 5,79. Deutschlandweit wurden 357 Todesfälle verzeichnet.

Das könnte Sie auch interessieren:

Um die Kliniken zu entlasten, sollen in den kommenden Tagen bis zu 100 Intensivpatienten verlegt werden, auch mit Hilfe der Luftwaffe. Ein speziell ausgestattetes Flugzeug, ein Airbus A310 MedEvac, startete nach Bundeswehr-Angaben am Freitag Richtung Memmingen in Bayern. Von dort sollte er Schwerkranke zum Flughafen Münster-Osnabrück bringen. Im Rahmen des sogenannten Kleeblatt-Systems sollen Corona-Patienten bundesweit verteilt werden, wenn in einzelnen Regionen der Kollaps von Krankenhäusern droht. Vereinzelt wurden schon am Donnerstag Patienten in andere Bundesländer gebracht, zum Beispiel von Thüringen nach Niedersachsen. Am Wochenende sind weitere Verlegungen zum Beispiel aus überlasteten Kliniken in Bayern in andere Bundesländer geplant.

Wieler versuchte, die Dramatik dieser Lage verständlich zu machen. Die Belastung der Intensivstationen habe einen Höchststand in der gesamten Pandemie erreicht, so der RKI-Präsident. Und dann klang er regelrecht verzweifelt: „Wie viele Menschen müssen denn noch sterben?“, fragte der Mediziner: „Was muss denn noch geschehen“, damit alle daran mitwirken, das Virus zu bekämpfen?“

KStA abonnieren