Wolfgang Schäuble im Interview„Wie kann man so sein? Das begreife ich nicht“

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Wolfgang Schäuble

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble

  • Am 8. Mai 1945 war Wolfgang Schäuble zwei Jahre alt. Im Interview spricht er darüber, wie sich sein Blick auf den Krieg im Laufe des Lebens entwickelt hat.
  • Sein Fazit: So unglaublich es ist, aber der Mensch kann so sein. Man sehe immer wieder, wie zerbrechlich alles sei.
  • Ein Gespräch über Hamsterkäufe, die EU und darüber, was Corona mit der Welt macht.

Herr Schäuble, Sie wurden 1942 geboren, bei Kriegsende waren Sie zweieinhalb Jahre alt. Haben Sie irgendwelche Erinnerungen an diese Zeit? Wolfgang Schäuble: Ich habe keine eigenen Erinnerungen, aber ich kenne die Erzählungen meiner Eltern. Viel ist das nicht. Sie wollten uns nicht so sehr belasten. Wir waren zum Kriegsende in der Heimat meiner Mutter, am Fuß der Schwäbischen Alb. Meine Eltern haben erzählt, wie die Amerikaner mit ihren Panzern über die Hügel ins Dorf gerollt sind. In der Kupferschmied-Werkstatt meines Großvaters hatten sich Jugendliche versteckt, die mit einer Panzerfaust auf die Amerikaner losgehen wollten. Mein Großvater hat die entdeckt und nach Hause geschickt. Der wusste: Wenn ein Schuss fällt, liegt das Dorf in Schutt und Asche. Das hat ihn dann wohl fast noch das Leben gekostet. Einer von diesen selbsternannten jungen Helden wollte ihn standrechtlich erschießen, ist aber dann von den anderen gerade noch abgehalten worden.

Ihre Familie war eine Weile evakuiert auf einen Bauernhof im Schwarzwald.

Es gab viele Bombenangriffe in der Gegend. Meine Mutter und mein Bruder haben davon erzählt, wie sie immer wieder in den Luftschutzkeller gelaufen sind. Auf dem Bauernhof im Schwarzwald sollten wir sicherer sein. Aber dann kam ein angeschossener deutscher Kampfflieger, der über dem Schwarzwald seine Brandbomben abgeladen hat. Offenbar dachte er, im Wald könne nichts passieren. Er hat aber den Hof getroffen.

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Sie waren klein, wer hat Sie gerettet?

Mein älterer Bruder ist nochmal zurück und hat mich rausgeholt. Später war das dann immer ein Witz von ihm: Er habe das bitter bereut. Wie Brüder halt so untereinander reden.

Waren das Kriegsende und der Krieg in der Familie später noch ein Thema?

Mein Vater hatte nie Sympathien für die Nazis. Und zum Krieg war die Position klar: Die Katastrophe war vorbei.

„Und plötzlich horten alle Toilettenpapier“

Hat sich Ihr Blick auf diese Katastrophe mit der Zeit verändert?

Je älter ich werde, umso fassungsloser werde ich. Das Ausmaß der Katastrophe wird mir immer noch mehr bewusst. Wie kann man so etwas tun? Wie kann man so sein? Das begreife ich einfach nicht. Und gleichzeitig muss man feststellen: Der Mensch kann so sein. Wir sehen ja immer wieder, wie zerbrechlich alles ist. Das gilt in einem so historischen Abgrund und wir erleben es in der Banalität unseres Alltags. Ein kleines Detail der Pandemie zeigt es: Von Hamsterkäufen war Jahrzehnte nicht die Rede – und plötzlich horten alle Toilettenpapier.

Macht es Sie hoffnungslos zu sehen, wie labil die Lage ist?

Wer keine Hoffnung hat, ist nahe an der Depression. Besser ist, sich der Verantwortung bewusst zu sein, Errungenschaften wie Frieden und Demokratie nicht zu gefährden. 75 Jahre Frieden – das muss man wertschätzen und darf es nicht als gegeben abhaken.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach 1985 vom 8. Mai als Tag der Befreiung. Das war ein Einschnitt. Wie haben Sie das erlebt?

Es war ein außergewöhnlicher historischer Moment. Die Rede hatte eine gewaltige Wirkung. Viele die sich bisher nicht so mit dem Thema beschäftigt hatten, mussten es tun.

Ist der 8. Mai für Sie auch ein Tag der Befreiung?

Ja, was denn sonst? Ich kann verstehen, dass für jemand, der im Krieg war, dieses Wort etwas schwieriger nachzuvollziehen ist. Für mich war es das nie. Der Abgrund der deutschen Geschichte und der europäischen Zivilisation ging zu Ende. Endlich.

AfD- Fraktionschef Gauland spricht von einem Tag der absoluten Niederlage, der Gestaltungsmöglichkeiten beendet habe.

Ich habe eine völlig andere Position.

In Halle wurde vergangenes Jahr eine Synagoge angegriffen. Immer wieder gibt es antisemitische Vorfälle. Was muss passieren, um jüdisches Leben ohne Einschränkungen zu ermöglichen?

Die Gegenreaktionen in der Gesellschaft auf solche Vorfälle sind stark. Das ist ein gutes Zeichen. Darauf müssen wir setzen und die Gegenkräfte stärken. Und wir müssen immer wieder darauf hinweisen, was für eine große Bereicherung das jüdische Leben für Deutschland ist – und zwar seit 1700 Jahren. Mit dem Holocaust haben wir einen wesentlichen Teil von uns selber zerstört. Es gab lange die Debatte, ob man als Jude überhaupt in Deutschland leben kann. Es ist toll, dass für junge Israelis Berlin mittlerweile eine der faszinierendsten Städte Europas ist. Insofern haben wir offenbar vieles gut hingekriegt. Daran müssen wir festhalten und können uns freuen.

Die Vorsitzende des Auschwitz-Komitees, Esther Bejarano, fordert, den 8. Mai in Deutschland zum Feiertag zu erklären. Was halten Sie davon?

Wenn überhaupt müsste es einen Gedenktag geben. Wir können nur dankbar für das Ende sein und uns schämen für das, was vorher war. Und wir können daraus lernen. Dafür ist noch ein zweiter Tag wichtig, der 9. Mai. Auf den Tag der Befreiung folgt der Tag von Europa. Fünf Jahre und einen Tag nach der Befreiung hat Robert Schuman die Initiative für die Vereinigten Staaten von Europa ergriffen. Das war und bleibt die richtige Antwort auf den Abgrund. Aus dem Kriegsende folgt die Verpflichtung für Europa.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beginnt in diesem Sommer. Was kann sie dazu beitragen?

Wir sollten dieses halbe Jahr Präsidentschaft nicht überschätzen, aber es bietet die Gelegenheit, die Institutionen in Europa zu stärken, also Kommission und Parlament.

In der Corona-Krise ist das nicht gerade gelungen.

Daran lässt sich noch arbeiten, die Pandemie und ihre Folgen werden uns noch lange beschäftigen.

Großbritannien hat die EU schon verlassen, osteuropäische Länder wie Ungarn wenden sich ab.

Wir sollten nicht so schnell über unsere Nachbarn im Osten urteilen, die andere Erfahrungen und Erinnerungen haben. Sie nehmen zu manchem eine andere Haltung ein, aber Europa ist auch für sie ein großes Geschenk.

Ungarn entwickelt sich nicht gerade demokratisch, zuletzt wurde in der Corona-Krise das Parlament entmachtet.

Die EU-Kommission sieht im ungarischen Gesetz derzeit keinen Anlass für ein Vertragsverletzungsverfahren. Im Übrigen mussten in der Corona-Krise alle europäischen Länder Grundrechte stark einschränken. Wir haben es selbst gesehen: Die Behörden von Schleswig-Holstein haben Hamburger Radfahrer an der Grenze zurückgeschickt. Die bayerische Polizei hat verboten, auf einer Bank ein Buch zu lesen. Besuche in Seniorenheimen waren verboten. In so einer Notsituation handelt nun mal die Exekutive. Entscheidend ist, dass alles immer wieder auf seine Verhältnismäßigkeit überprüft wird. Und das gilt überall.

Bund und Länder hatten dabei gerade einige Mühe. Lässt Sie das am Föderalismus zweifeln? Oder an der Durchsetzungskraft von Angela Merkel?

Der Föderalismus ist für Deutschland richtig und wichtig, aber er ist immer auch mühsam. Und er funktioniert. Die Bundeskanzlerin hat sich gerade wieder erfolgreich dafür eingesetzt, die Ministerpräsidenten auf eine weitgehend gemeinsame Linie zu zwingen. Da braucht man viel Nerven und Geduld. Angela Merkel hat ein hohes Maß von beidem. Dafür verdient sie nicht nur Bewunderung, sondern auch Dank.

Das Bundesverfassungsgericht zweifelt zumindest am Europäischen Recht. Es hat die Anleihepolitik der Europäischen Zentralbank, die der Europäische Gerichtshof gebilligt hat, für verfassungswidrig erklärt. Was halten Sie von dem Urteil?

Es ist bekannt, dass ich als Finanzminister auch nicht immer einverstanden war mit Entscheidungen der EZB – bei allem Respekt für deren Unabhängigkeit. Unabhängige Institutionen, die nicht demokratisch legitimiert und kontrolliert sind, müssen sich streng auf ihr Mandat begrenzen und dürfen es nicht zu weit auslegen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist also nicht ganz einfach zu widerlegen. Dennoch ist es auch schwierig, wenn das deutsche Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht als verbindlich anerkennen kann. Es kann gut sein, dass in anderen EU-Mitgliedsstaaten nun auch der Bestand des Euro in Frage gestellt wird – weil ja jedes nationale Verfassungsgericht für sich urteilen könne. Diese Situation macht niemandem Freude.

Muss sich ein Verfassungsgericht also zurückhalten?

Ein Gericht muss entscheiden und die Rechtsprechung hat man zu akzeptieren. Aber wir müssen nun politisch umso mehr alles daran setzen, Europa zu stärken.

Sie haben vom Segen des langen Friedens gesprochen. Aber die Unsicherheit ist gewachsen. Die Spannungen mit Russland sind massiv. Wie lässt sich das auflösen?

Wir sollten Russland immer mit Respekt begegnen und auf dieser Basis eng zusammenarbeiten. Aber dass man Grenzen nicht mit Gewalt verschiebt und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte anerkennt, ist auch im Interesse Russlands. Darauf werden wir weiter bestehen.

„Wir verbrauchen zu viel Land und zu viele Ressourcen“

Wäre es nicht hilfreich, wenn die Nato ihre atomare Strategie ändern würde? Teile der SPD fordern, die US-Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen.

Ich bin für Abrüstung und kontrollierte Entspannung. Aber solange es Nuklearwaffen gibt, ist der Menschheit noch nichts Besseres eingefallen als Abschreckung. Abschreckung hat den Vorzug, dass es keinen Krieg gibt und davon haben wir lange profitiert. Es wäre der falsche Weg, wenn Deutschland jetzt die nukleare Teilhabe beenden würde. Damit würden wir uns aus der Verantwortung ziehen und sie den Amerikanern zuschieben. Das wäre nicht hilfreich und ich bin froh, dass der Außenminister das auch so gesagt hat.

Was macht Corona mit der Welt?

Vielleicht erwächst aus dieser Krise ein neues Maß an Solidarität in unserer Gesellschaft und in Europa. Und hoffentlich lehrt es uns neue Schwerpunkte. Wir verbrauchen zu viel Land und zu viele Ressourcen, wir haben zu wenig aufs Klima geachtet. Darauf müssen wir achten, wenn wir jetzt die Wirtschaft wieder ankurbeln. Wir dürfen nicht auf die Phantasielosigkeit früherer Lösungen zurückgreifen.

Unter anderem Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat von einem Krieg gegen den Corona-Virus gesprochen. Fanden Sie das angemessen?

Emmanuel Macron hat in seiner letzten Rede eine andere Tonart angeschlagen. Und ich finde es sehr angemessen, dass die Bundeskanzlerin dies immer so gehalten hat.

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