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Kritik nach ARD-Disput mit Melnyk„Die Arroganz von Harald Welzer ist unerträglich“

Lesezeit 4 Minuten
Harald Welzer PA 090522

Harald Welzer (Archivbild)

Berlin/Köln – Nach seinem Auftritt in der ARD-Talkshow „Anne Will“ am Sonntagabend muss sich der Soziologe Harald Welzer heftige Kritik gefallen lassen. Zur Frage „Mehr Waffen für die Ukraine – ist das der Weg zum Frieden?“ diskutierten neben Welzer auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, CDU-Politiker Ruprecht Polenz, die Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Grüne, Britta Hasselmann, und der ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk.

Erneut wurde auch über die beiden offenen Briefe diskutiert, die in Deutschland in der letzten Woche die Debatte geprägt hatten. Mit Welzer war ein Unterzeichner des ersten und mit Polenz ein Unterzeichner des zweiten Briefs zu Gast – Einigkeit konnte aber auch die ARD-Sendung nicht herstellen. Im Gegenteil: Polzenz und Welzer kamen ebenso wenig auf einen grünen Zweig wie der Botschafter und der Soziologe. Dann wurde es sogar hitzig.

Schlagabtausch zwischen Harald Welzer und Andrij Melnyk

Es sei einfach, in seinem „Professorenzimmer zu sitzen und zu philosophieren“, entgegnete Melnyk in Richtung Welzer, nachdem dieser die Motive des ersten offenen Briefs von „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer – und damit auch Welzers – noch einmal vorgetragen hatte. Es gehe im Brief nicht darum, dass die Ukraine kapitulieren solle, hatte der Sozialpsychologe versichert, sondern darum, einen Waffenstillstand zu erreichen – wie dieses Ziel erreicht werden soll, erklärte Welzer jedoch nicht. „Was Sie anbieten, ist moralisch verwahrlost“, kommentierte Melnyk forsch.

„Ich würde am 8. Mai jetzt gerne mal was sagen, nämlich über die Sprecherposition“, entgegnete Welzer. „Wo sie das hernehmen, dass sie über die Motive von Menschen einfach urteilen – wir sprechen als Mitglieder dieser Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Kriegserfahrung, die sich durch die Generationen durchgezogen hat, und da ist möglicherweise in jeder Familie der 45 Prozent, die gegen die Lieferung schwerer Waffen sind, eine ganz präsente Kriegserfahrung“, referierte Welzer in Richtung des Botschafters.

Welzer zu Melnyk: „Bleiben Sie mal ein bisschen beim Zuhören“

Als Melnyk gerade zur Antwort ansetzte, würgte Welzer ihn ab: „Ja ja, bleiben Sie mal ein bisschen beim Zuhören und nicht beim Kommentieren“. Das ließ Melnyk wiederum nicht mehr auf sich sitzen. „Sie sind wieder so belehrend, wie sie auftreten. Das ist ihre Art und Weise“, entgegnete Melnyk: „Ich bin kein Student!“

Der erhobene Zeigefinger Welzers sorgte noch während der Sendung für scharfe Reaktionen. „Irgendwie tun die UnterzeichnerInnen des ersten offenen Briefes mit ihren medialen Auftritten sich und ihrer Sache keinen Gefallen“, kommentierte der Politikwissenschaftler Professor Carlo Masala bei Twitter. „Diese Arroganz von Harald Welzer gegenüber Andrij Melnyk und der Ukraine ist unerträglich“, schrieb SPD-Politikerin Sawsan Chebli.

Franziska Davies, Historikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, kommentierte unterdessen, die Äußerungen Welzers entlarvten „die ganze Borniertheit der deutschen Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg in Osteuropa“. Mit Rückgriff auf die eigene Familiengeschichte belehre Welzer „einen Nachfahren der Opfer“ und leite eine „moralische Überlegenheitsposition“ ab. „Dieser koloniale, überhebliche Blick auf Osteuropa ist schwer zu ertragen.“

„Aus dem Umstand, dass man für das größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte verantwortlich ist, eine herausragende Friedenskompetenz abzuleiten – das können nur Deutsche“, kommentierte der Journalist Felix Dachsel. Satiriker Jan Böhmermann meldete sich ebenfalls zu Wort – mit viel Sarkasmus. „Dieses Video ist ein weltkriegsartiges Erlebnis, das Millionen deutsche Täterfamilien retraumatisieren könnte“, schrieb der TV-Moderator zu einem Videoausschnitt der Sendung. Am Montagvormittag stellte Melnyk, ebenfalls auf Twitter, noch einmal klar: „Der russische Vernichtungskrieg ist kein Proseminar“.

Melnyk unzufrieden mit Scholz-Rede – Lob für Haubitzen-Entscheidung

Zuvor hatte sich der ukrainische Botschafter in der ARD-Sendung auch zur Fernsehansprache von Bundeskanzler Olaf Scholz zum Jahrestag des Weltkriegsendes in Europa geäußert. Man hätte sich in der Rede „viel mehr Konkretes“ dazu gewünscht, wie der Bundestagsbeschluss zur Lieferung schwerer Waffen umgesetzt werden solle, sagte Melnyk. „Da haben wir leider nicht viel Neues gehört.“

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Die Zusage der Bundesregierung, sieben Panzerhaubitzen – moderne Artilleriesysteme – an die Ukraine zu liefern, nannte Melnyk eine „gute Entscheidung“. Zugleich machte er deutlich, dass er mehr erwarte. „Wenn wir den Bundeskanzler hören, der sagt, Russland darf nicht gewinnen, das heißt, dass man alles, wirklich alles unternehmen sollte, um uns zu helfen in dieser schwierigen Situation, in diesem Krieg, der schlimmste Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg“, forderte der Diplomat.

Melnyk wünscht sich weitere „historische Entscheidungen“

Hitler-Deutschland habe auch nur besiegt werden können, weil die USA und andere Länder der Sowjetunion im Rahmen des Lend-Lease-Gesetzes Tausende Flugzeuge und Panzer geliefert hätten, sagte Melnyk. „Und wir reden über sieben Panzerhaubitzen und keine weitere Aussicht.“ Weitere „historische Entscheidungen“ des Bundestags und der Bundesregierung wären wichtig, um mit allem zu helfen, was die Ukraine benötige.

Scholz hatte sich am Sonntag zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa an die Bürger gewandt und die deutsche Unterstützung für die von Russland angegriffene Ukraine untermauert. Der Ukraine nicht im Kampf gegen den Aggressor zu helfen, würde bedeuten, „zu kapitulieren vor blanker Gewalt“. (das/rnd/dpa) 

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