Sofagate mit von der LeyenDer peinliche Kratzfuß vor dem Despoten Erdogan

Lesezeit 4 Minuten
Neuer Inhalt

Recep Tayyip Erdogan (rechts) empfängt EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Ein wunderbarer Tag für alle Despoten und Diktatoren! Hoch die Gläser mit Champagner, Whisky, Wodka oder Ayran – wie es der türkischen Tradition entspricht! Mit dem Besuch von Ursula von der Leyens und Charles Michel, den beiden Spitzenvertretern der EU – bei Recep Tayyip Erdogan, konnten sie noch einmal sichergehen: Es ist völlig wurscht, welche Zustände in einem Land herrschen – die Demokraten des Westens kommen gern zu Besuch auf einen Kaffee und eine positive Agenda, wenn sie eigene Interessen haben. Und sie bieten den Diktatoren dieser Erde auch noch eine Bühne, auf der sie zeigen können, wer der Herr ist und wer der Knecht.

Wie jetzt Erdogan. Er hat uns allen demonstriert, wie elegant so ein Diktator mit diesen – in seinen Augen – europäischen Fuzzis fertig wird. Er hat jetzt genug Propagandamaterial, um seinen Anhängern seine Macht zu demonstrieren. Das fängt schon damit an, wer wem die Ehre gab. Nicht etwa, dass Erdogan sich zu von der Leyen und Michel hätte bemühen müssen. Nein! Wie Bittsteller kamen die beiden aus Brüssel zu ihm, in seinen schönen, illegal gebauten Palast. Dieser feine Unterschied ist wichtig, denn ein orientalischer Sultan empfängt. Dazu noch die öffentliche Demütigung Von der Leyens, an der Erdogan sein Frauenbild demonstrieren konnte, indem er sie aufs Katzensofa verbannte.

EU-Größen wollen Weltmacht spielen

Was war noch gleich die Istanbul-Konvention, Frau von der Leyen? Wie war das mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau? Haben Sie Herrn Erdogan ein paar Takte dazu gesagt? Hätte doch irgendwie gepasst, in der Situation. Stattdessen erzählen Sie uns hinterher, es hätte „ein gutes erstes Treffen“ gegeben. Was muss der Diktator eigentlich noch machen, bis Sie und Ihre Mitfunktionäre endlich Tacheles reden?

Das könnte Sie auch interessieren:

Mich erfasst eine unglaubliche Wut auf die Von der Leyens, Michels und alle diese EU-Größen, die meinen, sie müssten Weltmacht spielen und dabei das Herzstück dieser Union vergessen. Noch einmal zum Abschreiben: Das Herzstück der EU sind die Menschenrechte!

Investitionen in neue Gefängnisse

Wie sieht es aus die Türkei mit den Menschenrechten? Es gibt keine Gewaltenteilung mehr, keine Meinungsfreiheit, keinen freien Journalismus. Die Universitäten sind Erdogan unterstellt, kritische Professoren müssen gehen. Wer unbequem wird, bekommt sofort den Stempel des „Terroristen“ aufgedrückt und wird entrechtet. Die größte Investition der türkischen Regierung ist der Bau neuer Gefängnisse.

Das könnte Sie auch interessieren:

Beamte werden aus dem öffentlichen Dienst entfernt, ihre Rentenansprüche erlöschen, und Erdogans Spitzelstaat sorgt dafür, dass sie nie wieder Arbeit finden können. Aber nicht nur entlassene Beamte begehen aus Verzweiflung Selbstmord, auch einfache Menschen, die ihre Kinder nicht mehr satt bekommen. Das System Erdogan macht die Reichen, die ihm zu Diensten sind, noch reicher und lässt die Armen hungers sterben. Die Oppositionsparteien kämpfen ums Überleben. Das letzte, was sie jetzt brauchen können, ist eine Ursula von der Leyen und ein Charles Michel, die vor Erdogan den Kratzfuß machen.

Erdogans Nutzen für Europa

Und trotzdem sind die beiden zu diesem Despoten gefahren. Warum nur? Weil Erdogan und sein System Europa nützlich sind oder sein könnten. Wie all die anderen Despoten übrigens auch, über die man gerne hinter vorgehaltener Hand sagt, er sei zwar ein Diktator, aber „er ist unser Diktator!“ Mal verfügen diese Despoten über Rohstoffe, die die Industrieländer der EU brauchen, mal über billige Produktionsstätten für unsere Klamotten, mal steckt viel europäisches Kapital in diesen Ländern, oder sie haben eine geostrategische Bedeutung. Am meisten wurmt es mich, wenn man Diktaturen als „Stabilitätsanker in der Region“ bezeichnet und lächelnd über die blutigen Flunken dieser Anker hinwegsieht.

Es gibt also immer einen triftigen Grund, nett zu Diktatoren zu sein. Im Fall der Türkei kommt noch ein weiterer hinzu: vier Millionen Flüchtlinge, mit denen Erdogan die EU aufs Bezahlen konditioniert hat. Schon bei der geringsten Drohung, diese Menschen auf Europa loszulassen, winkt der Scheck aus Brüssel. Inzwischen sind die sechs Milliarden Euro, die die EU zur Verfügung gestellt hat, wohl alle. Es geht um frisches Geld für Erdogans Wach- und Schließgesellschaft. „Ein gutes erstes Treffen“, sagte Frau von der Leyen. Ist man sich handelseinig geworden?

Bittere Erkenntnis

Machen wir uns nichts vor: Das ist die positive Agenda der EU. Wie bitter! Die EU, einst als Haus der Demokratie und der Menschenrechte konzipiert, ist nicht in der Lage, einem Despoten die Stirn zu bieten, weil die Vorstellung, dass weitere Flüchtlinge kommen könnten, den Verantwortlichen den Angstschweiß auf die Stirn treibt.

Die Autorin

Lale Akgün, geb. 1953, war von 2002 bis 2009 Mitglied des Bundestags. Die Kölnerin mit türkischen Wurzeln ist Senior Researcher an der Hochschule Bonn/Rhein-Sieg zu den Themen Ethik und Verantwortung.

Wo bleibt die Vision von der europäischen Idee? Wo das europäische Denken? Ich sehe da nur noch peinliche Kleinkrämerei unter taktischen Erwägungen.

KStA abonnieren