SPD-ParteischuleWo man das richtige Sozialdemokrat-Sein lernt

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Willi Brandt Statue

Die Willy Brandt Statue in der SPD-Parteizentrale in Berlin.

Es ist nicht einfach, Zahlen zu finden, die Hoffnung für die Zukunft der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands machen. Knapp 16 Prozent in aktuellen Sonntagsumfragen, neun Vorsitzende in den vergangenen drei Jahren und im gleichen Zeitraum allein 7000 Mitglieder in Nordrhein-Westfalen, dem größten Landesverband, verloren. Nein, diese Zahlen sind es nicht. Aber vielleicht diese: eine Stunde, 34 Minuten und 57 Sekunden. So lang dauert es im Jahr 2020, bis in einem Neumitgliederseminar der NRW-SPD zum ersten Mal der Name „Willy Brandt“ fällt. 

Donnerstagabend um kurz vor acht im Videochat

Eine Stunde, 34 Minuten und 57 Sekunden! Wirkt doch beachtlich, konnte man in den vergangenen Jahren dann und wann den Eindruck gewinnen, die SPD definiere sich heute eher aus dem, was mal war. Aber nein, anscheinend gab es in dieser einen Stunde und 34 Minuten und 57 Sekunden wichtigere Dinge zu besprechen als Heldengeschichten. Inhalte etwa? Das muss auch der Reporter erst einmal sortieren. Also der Reihe nach. 

Ein Donnerstagabend. Im Fernsehen begrüßt gleich Thorsten Schröder zur Tagesschau, und in einem Videochat begrüßen Jael, Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Gütersloh, und Mandy, Vorsitzende der SPD in Uedem, fünf Menschen zur coronabedingt ins Internet verlegten Basis-Schulung.

In der SPD ist man per Du

Die Veranstaltung ist Teil der vor kurzem gegründeten „Parteischule“ des Landesverbandes. Dass ein Landesverband überhaupt eine eigene Parteischule hat, ist auch in der 157-jährigen Geschichte der SPD etwas Neues. Seit 1906 gibt es zwar eine Bundes-Parteischule in Berlin, der nachgesagt wird, dass dort künftige Kanzler das Kanzlersein trainieren.

In NRW aber, so erfuhr man, soll es nicht darum gehen, den nächsten Ministerpräsidenten zu finden. Sondern um die Vermittlung von Grundwissen zur Partei, um Unterstützung beim Wahlkampf und um Netzwerkbildung, kurzum: Einführung in die qualitative Sozialdemokratung. Erwartungskonform begann die Zugangsmail mit „Liebe Genossinnen und Genossen“, im Satz danach wurde losgeduzt, denn, für alle, die es nicht wissen: Es gibt kein Sie in der Sozialdemokratie. Zumindest nicht unter SPDlern.

„Nicht nur meckern, sondern direkt mitwirken“

Also ein Hallo in die Arbeitszimmer von Lars, Jasmin, Tom, Linda und Charlotte. Sie alle sind noch im besten Juso-Alter (dazu später mehr), vor kurzem in die SPD eingetreten und haben sich vor ihrer Webcam positioniert, um der Partei, der sie nun angehören, ein bisschen näherzukommen.

Zu diesem Zweck mussten sie bereits auf einer virtuellen Pinnwand einen kurzen Vorstellungstext verfassen, in dem es auch die Frage zu beantworten galt, warum denn überhaupt die SPD. „Weil ich in der SPD meine politische Heimat sehe“ liest man also dort, oder „weil ich sehr überzeugt von den Positionen der Partei bin“ oder auch weil „ich nicht nur meckern wollte, sondern auch mal direkt mitwirken“. 

Arbeitsgemeinschaften für Alle!

Und ums Mitwirken soll es auch direkt gehen, keine langen Theorieexkurse. Tagesordnungspunkt 1: Arbeitsgemeinschaften innerhalb der SPD. Davon gibt es: einige. Manchen kann man sich entziehen. Anderen nicht. Bei den Jusos sind alle Mitglieder, die, so Jael, noch nicht die in der Partei sogenannte „Bioklippe“ von 35 Jahren überschritten haben.

Bevor man allerdings überlegen kann, was einem das über die SPD verrät, geht’s schon weiter. Wer über 60 ist, gehört automatisch der AG 60 plus an, wer weiblich ist, der ist automatisch auch in der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen. Ansonsten sind da noch ein paar andere AGs. Für Bildung, Migration und Vielfalt, Gleichstellung, Gesundheitswesen, eben für alle Themen, die man auch immer in den Wahlflyern der SPD finden kann.

Kein Parteibuch zum durchklicken

Lars, 33, Ingenieur aus Paderborn, seit einem Monat Parteimitglied, möchte wissen, ob die AGs wirklich etwas bewirken können. Aber ja, sagen Jael und Mandy. Und erklären noch einmal die innerparteiliche Antragstellung, von Unterbezirk bis hin zur Bundesebene. Alles irgendwie wahnsinnig kompliziert, trotz Organigramm, das eingeblendet wird. Lars aber macht sich Notizen, nickt, bedankt sich. Er scheint es verstanden zu haben. Mut zur Sozialbürokratie. 

Nächster Punkt, über den zu reden ist: das Parteibuch. Jetzt, es sind 21 Minuten vergangen, hat man natürlich ein bisschen Angst davor, dass gleich die geballte Faust in Richtung der Ikea-Deckenlampe gestreckt werden und die Internationale angestimmt werden muss.

Aber nein, so gar nicht. Stattdessen erklärt Jael, sie findet es einfach schön, dass auch in diesem digitalen Zeitalter Neumitglieder zur Begrüßung noch etwas Materielles überreicht bekommen. Und tatsächlich kann man sich nicht vorstellen, dass diese Tradition ins Internet verlagert wird, durch ein PDF im Anhang. Liebe Grüße und viel Spaß beim Durchklicken, nein, das funktioniert nicht. Völker hört die Signale. 

Engagiert bei den Grundsätzen

Für Tom, 23, Politikwissenschaft-Student aus Duisburg, ebenfalls seit gut einem Monat in der SPD, funktioniert aber auch das analoge Lesen nicht, er hat bis jetzt noch kein Parteibuch bekommen. „Ist das normal, dass das so lang dauert?“, fragt er und ob er vielleicht selbst mal beim Ortsverein vorbeigehen soll. Liegt bestimmt am vergangenen Kommunalwahlkampf, sagt Seminarleiterin Jael. Oder an den Ferien. Oder an Corona. Oder an allem zusammen. Aber klar, vorsichtig nachhorchen könne er mal. Mandy sagt, sie kenne sonst auch den Geschäftsführer von Toms Unterbezirk und, ach komm, sie schreibt ihm gleich mal. Merke: Geht es um Grundsätze, ist man bei der SPD sehr engagiert. 

Bronzestatue-Moment

Weiter zum Themenblock „Kommunalpolitik“. Na gut. Fragen wie „Was macht ein Oberbürgermeister?“ und „Wie viel Aufwandsentschädigung gibt’s im Stadtrat?“ werden aufgearbeitet. 300 Euro sind’s im Monat, sagt Mandy. Besser man fange gar nicht erst an, das auf Arbeitsstunden umzurechnen (Stichwort: Mindestlohn!).

Aber – Sozialdemokrat der man ja ist – macht man es nicht fürs Geld. Sondern aus Leidenschaft. Die fünf Teilnehmer wirken auch nach den Erfahrungsberichten von Jael und Mandy noch ganz motiviert, das bei Zeiten mal zu versuchen.

Gespräch mit Apostolos Tsalastras zum Abschluss

Zum Abschluss ist ein „Promi“-Gespräch angekündigt. Der ist nun auch in der Leitung, leider wirklich nur in der Leitung, sein Video funktioniert nicht, dann eben nur Stimme und Foto von: Apostolos Tsalastras.

Tsalastras berichtet sicherheitshalber selbst noch einmal kurz, woher die Neumitglieder ihn kennen könnten: Parteibeitritt 1984, Ortsvereinsvorsitzender in Hilden, Gründung eines Ausländerbeirats gegen den Willen der CDU, Mitarbeiter von Heinz Schleußer, Referent bei der AWO und jetzt Kämmerer und Kulturdezernent von Oberhausen sowie Beisitzer im Landesvorstand. 

Fragen? 

Lars will wissen, wie man eigentlich Landes- oder Bundespolitiker wird. Es gebe da diesen Begriff „Ochsentour“, sagt Tsalastras. Meint: Erst ganz lange Kommunal-, dann vielleicht mal Landes- und dann eventuell noch Bundespolitik. Und er könne das jedem empfehlen, also die Ochsentour, obwohl er den Begriff eigentlich gar nicht mag. Klingt so mühselig. Dabei sei viel Positives an diesem Werdegang: Man lerne Politik auf verschiedenen Ebenen kennen.

Ihm, also Tsalastras, sei lieber, die Leute, die in Berlin und Düsseldorf Entscheidungen treffen, wüssten, wie diese sich vor Ort auswirken. „Denn am Ende des Weges findet alles vor Ort statt.“ Kein schlechter Slogan eigentlich für ein Wahlkampfplakat. 

Tom fragt, warum sich seine Freunde trotzdem nur für Bundespolitik interessieren. 

Ein Problem sei, sagt Tsalastras, dass Kommunalpolitik in den „normalen Medien“ selten stattfinde. Höchstens in Zeitungen, aber die lese ja heute kaum noch jemand. Das wiederum ist jetzt natürlich blöd für den Autor dieses Textes. Wobei, muss man hier wenigstens nicht mehr auf Tpipfehler achten. 

Willy Brand: Motivation durch Bewunderung

Mandy stellt – mit Blick auf die Uhr – die letzte Frage selbst. Posto (so wird Tsalastras in der Partei genannt), welchen Sozialdemokraten oder welche Sozialdemokratin aus Vergangenheit oder Gegenwart hast du als Vorbild? Vorbild keinen, sagt Tsalastras nach einer Stunde, 34 Minuten und 50 Sekunden. Aber bewundern tue er doch einen: Willy Brandt. 

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Jetzt also doch. Bronzestatue-Moment. Willy Brandt, ja da ist man sich nach einer Stunde, 34 Minuten und 57 Sekunden einig, das war ein Großer. Aber gut, wer könnte das auch bestreiten? Die Aussage fühlt sich nach so vielen Powerpoint-Folien-Erklärminuten, nach, man muss es so sagen, so viel Inhalt, auch gar nicht mehr wie Kitsch an. Eher ehrfürchtig. Eher wie Motivation durch Bewunderung, statt Verstecken hinter großen Namen.

Doch ein Mutmacher

Tsalastras legt auf. Feedbackrunde. Alle zufrieden. Jasmin fand es „sehr cool, dass man mal alles fragen konnte, was man sich immer so gefragt hat“. Charlotte will alles „erst mal sacken“ lassen. Lars freut sich, „den Rundumschlag bekommen zu haben“. Tom sagt, das war ja alles „sehr spannend“.

Vor allem war es, gemessen an den SPD-Stereotypen, die man so im Kopf hatte: Überraschend unmiefig. Beziehungsweise: eigentlich komplette Klischeewiderlegung. 

Da sind – erste Erkenntnis – junge Leute, die in eine Partei eingetreten sind, um etwas zu verändern. Die – zweite Erkenntnis – daran glauben, dass das mit der SPD auch im Jahr 2020 noch geht. Und da ist – dritte Erkenntnis – die Partei, die ihnen das Know-how dafür bei- und sie auch noch zusammenbringt. 

Und das, möchte man meinen, macht doch Hoffnung für die Zukunft. 

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