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Steinmeier besucht Auschwitz„Ein Ort des Grauens und deutscher Schuld“

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Steinmeier Auschwitz

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender legen bei der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen deutschen Konzentrationslagers Auschwitz einen Kranz an der Todeswand nieder.

Oswiecim – Auschwitz - Ort unermesslichen Leidens, entfesselter Barbarei, systematischen Mordens. Kann an diesem Ort der Dunkelheit jemals wieder die Sonne scheinen? Sie scheint, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender am Montag durch das Tor mit dem zynischen Satz „Arbeit macht frei“ schreiten. Doch das fahle Winterlicht lässt das Eisentor, die Stacheldrahtzäune, die Backsteinbaracken noch unwirklicher erscheinen als ohnehin schon.

Der Bundespräsident und seine Frau sind erstmals in Auschwitz. Sie sind gekommen, um an der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung teilzunehmen. Zuvor gehen sie durch das Lager. An der Todeswand legt Steinmeier ein Gesteck aus roten und gelben Rosen nieder. Er richtet die Schleife, steht mit gesenktem Haupt davor. „Auschwitz ist ein Ort des Grauens und ein Ort deutscher Schuld“, schreibt er ins Gästebuch. Es ist zu spüren, dass ihm diese Momente nahe gehen. Seine Stimme klingt angegriffen, als er später sagt: „Auschwitz, das ist die Summe von völkischem Denken, Rassenhass und nationaler Raserei.“

Der Tag beginnt für Steinmeier im Schloss Bellevue mit einem Treffen mit drei Holocaust-Überlebenden. Sie begleiten ihn anschließend nach Polen. Einer von ihnen ist Mano Höllenreiner. Er wächst in München-Giesing auf, als Kind einer dort seit Generationen ansässigen Sinti-Familie. Im März 1943, er ist neun Jahre alt, deportieren die Nazis die Familie ins sogenannte Zigeunerlager Auschwitz. Im Jahr darauf kommt der Junge ins KZ Ravensbrück, später nach Sachsenhausen.

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Häftling musste Leichenberge aufstapeln

Der heute 86-Jährige entblößt ungefragt seinen linken Arm, zeigt die Häftlingsnummer Z-3526, die ihm in Auschwitz eintätowiert wurde. Bis heute erinnert er sich daran, wie sein Vater von einem SS-Offizier halb totgeschlagen wurde. Wie er selbst Leichenberge aufstapeln und dem berüchtigten Lagerarzt Josef Mengele die Schuhe putzen musste. Wie 36 seiner Angehörigen in die Gaskammer getrieben wurden. Wie aus dem Kamin des Krematoriums die Flammen schlugen, wenn die Leichen verbrannt wurden. „Manchmal hat es gestunken nach Menschenfleisch.“

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Mit dem Bundespräsidenten an diesen Ort zurückzukehren, sei ihm „eine Ehre“, sagt Höllenreiner vor dem Abflug. Er war schon 14 Mal wieder hier und weiß: „Wenn man jetzt reinkommt, dann wird es wieder furchtbar. Dann denkt man wieder nach.“ Als er am Nachmittag mit Steinmeier durch das Lager geht, deutet Höllenreiner in Block 4 plötzlich auf ein großes Schwarz-Weiß-Foto mit einem Jungen mit Schirmmütze. „So alt war ich ungefähr“, sagt er. „Vorbereitung zur Selektion“, steht in englischer Sprache unter dem Foto.

Auschwitz - das ist weltweit zum Synonym für den Holocaust und zum Inbegriff des Bösen geworden. Die Deutschen richteten das Stammlager ab Mitte 1940 außerhalb der Stadt Oswiecim im von der Wehrmacht besetzten Teil Polens ein. Sie bauten es zügig aus. Hier und im drei Kilometer entfernten Ort Brzezinka (Birkenau) entstand das größte Vernichtungslager Europas. 1942 begannen die Massentransporte von Juden dorthin. Mindestens 1,1 Millionen Menschen wurden vergast, zu Tode geprügelt, erschossen, starben an Krankheiten und Hunger.

Soldaten fanden 110.000 Schuhe

Als Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945 in Auschwitz-Birkenau eintrafen, befreiten sie etwa 7500 Häftlinge, die noch lebten. Sie fanden die Leichen jener, die die SS noch kurz vor ihrem Abzug umgebracht hatte. Sie fanden die Asche der Ermordeten in den Ruinen. Und sie fanden rund 110 000 Schuhe, 3800 Koffer, 40 Kilo Brillen und zwei Tonnen Haar, das die Deutschen deportierten Frauen abgeschnitten hatten. „Am 27. Januar 1945 wurden die Tore der Hölle geöffnet“, formulierte es Israels Präsident Reuven Rivlin. Vor dem Berg aus Haaren stehen am Montag auch Steinmeier und seine Frau.

Es sind acht Tage voller Symbolik, die die miteinander befreundeten Staatsoberhäupter Israels und Deutschlands gerade miteinander verbringen. Nach der Rede Steinmeiers am vergangenen Donnerstag in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem umarmte der Israeli den Deutschen spontan. Jetzt das gemeinsame Gedenken in Auschwitz. Dass Steinmeier ihn eingeladen hat, danach mit seiner Luftwaffenmaschine nach Berlin zu fliegen, hat Rivlin als Geste sehr geschätzt.

Eine Rede Steinmeiers ist in Auschwitz nicht vorgesehen, anders als in der vergangenen Woche in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Aber die Worte des Deutschen in Jerusalem, sein Bekenntnis zur deutschen Schuld, sein Eintreten gegen jeden Schlussstrich in der Erinnerung und seine Kampfansage an neuen Antisemitismus - all dies wurde in Polen genau registriert. Und in Erinnerung ist dort auch noch, was Steinmeier am 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen im vergangenen Jahr in Warschau sagte: „Ich stehe heute barfuß vor dem polnischen Volk, als Mensch, als Deutscher, beladen mit großer historischer Schuld.“ Worte, die klingen, als wären sie schon für diesen Jahrestag in Auschwitz formuliert gewesen.

„So etwas darf nie wieder kommen“

Dort mahnt der polnische Präsident Andrzej Duda am Montag vor rund 3000 Gästen, darunter vielen Holocaust-Überlebenden, dass die Erinnerung an Auschwitz und den Holocaust nie erlöschen dürfe. Das sei eine Verpflichtung gegenüber den Opfern, den Überlebenden und gegenüber künftigen Generationen.

Wie Duda will es auch Steinmeier nicht beim bloßen Erinnern belassen. Man müsse Auschwitz vielmehr auch „als bleibende Verantwortung begreifen, den Anfängen zu wehren, auch in unserem Lande“. Der Bundespräsident spricht Höllenreiner aus der Seele. Der beklagt, „dass es schon wieder so viele Nazis gibt“, was „eine Schande für Deutschland“ sei. Für den Holocaust-Überlebenden lautet die Lehre aus dem Horror von Auschwitz: „So etwas darf nie wieder kommen.“ (dpa)

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