Stephan Grünewald im Interview„Ansporn statt Moralpredigt würde ich mir wünschen“

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Maskenpflicht Ordnungsamt

Ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes kontrolliert in einer schmalen Gasse die Einhaltung der Maskenpflicht.

  • Durch eine Kollektivschelte, die Disziplinlosigkeit in der Corona-Krise anprangert, fühlen sich viele Menschen doppelt bestraft.
  • Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Er spricht aus psychologischer Sicht über gesellschaftlich relevante Themen
  • Das Gespräch führte Joachim Frank.

Herr Grünewald, was zeigt das Krisenbarometer des Psychologen? Stephan Grünewald: Wir beobachten einen massiven Stimmungsumbruch, eine Corona-Korrosion in der Gesellschaft, mit einem Schwanken zwischen Gereiztheit und Resignation. Die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Krise sinkt. Der Glaube an die Wunderwaffe Impfstoff schwindet. Die Situation ist aber für die Menschen insgesamt auch viel schwieriger als im Frühjahr. 

Warum?

Damals führte der Lockdown doch recht schnell zu spürbaren Ergebnissen und Erfolgserlebnissen: Die Infektionszahlen sanken. Das Gesundheitswesen blieb intakt. Ein Dauer-Hoch mit viel Sonne spendete zudem auch noch Trost von oben. Jetzt kommen das Virus und die Kälte zurück, und vielen kommt es so vor, als hätte ihnen ein halbes Jahr Anstrengung und Verzicht nichts gebracht. Das birgt ein großes Frustpotenzial. Zu diese Realitätsdruck gesellt sich jetzt aber auch noch ein Gewissensdruck, wenn einige Politiker und Medien unablässig die Disziplinlosigkeit der Bürger anprangern. Eine solche Kollektivschelte trifft auch die Beflissenen und Rechtschaffenen, die sich nun doppelt bestraft fühlen – durch die Zahlen und den politischen Zeigefinger. 

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Die „Methode Söder“ mit drastischen Warnungen und Sanktionsdrohungen halten Sie demnach für kontraproduktiv?

Diese Rhetorik bedient den Wunsch eines knappen Drittels der Bevölkerung, das ein noch härtere Maßnahmen und ein schärferes Durchgreifen verlangt. Dem steht aber ein apathisch-anarchischer Reflex gegenüber. Die Leute haben das Gefühl: Was soll das denn noch? Es hat doch eh alles keinen Zweck.

Es geht aber doch nicht nur um Gefühle. Soll die Politik tatenlos zusehen, wenn doch klar ist, dass es zum Beispiel die privaten Feiern sind, die zur unkontrollierten Verbreitung des Virus werden? 

Nein, die Politik muss klar aufzeigen, wo die derzeitigen Gefahren und Risiken liegen. Sie sollte das aber sachlich und ohne moralischen Druck tun. Denn der Druck führt zu sozialen Schuldverschiebungen. Der Mitmensch wird dann als Sicherheitsrisiko oder als Angsthase gesehen und die Wut aufeinander schaukelt sich hoch. Das gesellschaftliche Klima wird so immer rauer. Wir brauchen in der Krise jetzt aber Solidarität und eine gemeinsame Kraftanstrengung. Und die gelingt, wenn die Politik die Menschen auf die Größe der Herausforderung einschwört. 

Aber noch einmal: „Spreader-Events“ mit ihren Folgen sind doch keine bloßen Wutfantasien. 

Eine Zunahme der Sorglosigkeit lässt sich in unseren Studien nicht belegen. Wir kommen aus einer Situation im Sommer, in der die Menschen ihr soziales Leben doch wieder recht unbeschwert gestalten konnten. Dieses Verhalten sollte nicht nachträglich mit einem Schuldurteil belegt werden – nach dem Motto: „Jetzt bekommt ihr die Quittung für eure Unvernunft und euer Sommer-Sorglos-Feeling.“

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Das ist übrigens nicht zuletzt deshalb fatal, weil die Virologen ja seit Monaten darauf hingewiesen haben, dass die Zahlen im Herbst stark ansteigen werden, weil das Virus in der kalten Jahreszeit optimale Bedingungen vorfindet. Deshalb stehen wir heute vor einer ganz anderen Herausforderung. Was im Sommer noch problemlos möglich war, ist jetzt hochgefährlich. Es braucht einen gemeinsamen Kraftakt, der es erfordert jetzt von Sommerreifen auf Winterreifen umzustellen.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass dieser Appell fruchtet?

Meines Erachtens kommen wir mit zwei Jahren Daueralarmismus nicht durch Krise, sondern nur mit einem Gefühl für Rhythmen, Lebensrhythmen. Eigentlich das, was wir immer schon kannten: Im Sommer lebt es sich anders als im Winter. Wir müssen uns daran ausrichten, unter welchen Bedingungen das Virus stärker oder schwächer grassiert. 

Der Gastwirt um die Ecke wird sagen: Den nächsten Rhythmuswechsel überleben wir aber nicht.

Das stimmt. Und auch deshalb wäre es auch falsch, das öffentliche Leben wieder komplett herunterzufahren. Die jungen Leute erzählen in unseren Interviews, sie hätten sich bislang guten Gewissens draußen im Park oder eben in einem Lokal getroffen. Wenn das nicht mehr möglich sein sollte, verlagert sich alles ins Private. Dann sitzt dieselbe Runde, die bisher mit Abstandsregeln im öffentlichen Raum unterwegs war, auf engstem Raum in einem Wohnzimmer. Verhältnisse wie in der Prohibition, die die Malaise nur verschlimmern. Der Kinobesitzer, der Theaterbetreiber, der Gastwirt – die haben doch ein vitales Interesse daran, dass ihre Betriebe weiterlaufen, mit Hygienekonzepten, die in der privaten Sphäre niemand durchsetzen und kontrollieren kann. 

Also kein zweiter Lockdown?

Ohne weitere Maßnahmen drohen uns Infektionszahlen wie in unseren Nachbarländern. Ich warne aber vor bloßem Aktivismus. Die Maßnahmen müssen nachvollziehbar und einheitlich sein, sonst wirkt politisches Handeln planlos und irrlichternd. Und sie müssen wirksam sein, sonst werden die Menschen erst recht resignieren. Angesichts der Herausforderung ist es wichtig, Mut machen! Mit den Infektionszahlen des Robert-Koch-Instituts fängt jeder Tag doch schon mit einer Backpfeife an. So alarmierend die Zahlen sind, der Blick über die Grenzen zeigt, dass wir immer noch vergleichsweise gut dastehen und bestärkt so diesen Weg auch fortzusetzen.

Soll heißen: Disziplin lohnt sich, Anstrengung zahlt sich aus? 

Ansporn statt Moralpredigt. Das würde ich mir wünschen.

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