Stimmungslage vor der WahlAngst und Resignation vor den großen Herausforderungen

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Wahlplakate der Parteien

Köln – Aufbruchstimmung? Wahlkampf-Fieber? Gar ein Ruck, der durch Deutschland geht? Von alledem ist gut einen Monat vor dem 26. September wenig zu spüren. Wie vor jeder Bundestagswahl hat das „rheingold“-Institut mit Hilfe tiefenpsychologisch gestützter Interviews die seelische Befindlichkeit der Deutschen untersucht.

Das Ergebnis zeigt einen verbreiteten Rückzug in private Räume, ins eigene Schneckenhaus als Reaktion auf Bedrohungen wie die Flutkatastrophe, verheerende Waldbrände, wieder sprunghaft steigende Corona-Zahlen oder zuletzt die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Dazu türmen sich vor den Menschen gesellschaftliche Herausforderungen auf wie die Sorge um die Sicherheit der Rente oder den sozialen Zusammenhalt.

Dringender Wandlungsbedarf

Überwältigt von Größe und Wucht der Probleme, erkennen die Bürgerinnen und Bürger zwar einen dringenden Wandlungsbedarf, sind aber gleichzeitig zu angstvoll oder resignativ, um ihn in entschiedene Handlungsbereitschaft zu überführen. Sie stecken in einem fatalen Machbarkeitsdilemma.

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Das wirkt sich erheblich auf die Wahrnehmung der Parteien, ihrer führenden Politikerinnen und Politiker und damit auf die Wahlentscheidung aus. Viele Wähler meiden derzeit die Festlegung auf eine Partei und damit auf einen möglichen Lösungsweg, weil ihnen das zu viel Entschiedenheit und in der Folge womöglich auch Turbulenzen im Schneckenhaus abverlangen würde.

Ambivalente Strategien

Die Menschen entwickeln ambivalente Strategien, um das persönliche Machbarkeitsdilemma aufzulösen. Einerseits suchen sie jemanden, die oder der die bevorstehenden Herkulesaufgaben annimmt und sie kraftvoll aus den Problemen herausführt. Andererseits versuchen sie, sich zu beweisen, dass es solch eine Führungsgestalt eben nicht gibt und mithin keiner der drei Bewerber für das Kanzleramt den Anforderungen gewachsen ist.

Der Autor und die Studie

Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Er schreibt auf ksta.de aus psychologischer Sicht über gesellschaftlich relevante Themen

Vor jeder Bundestagswahl führt das „rheingold“-Institut seit 2002 eine Eigenstudie (hier geht es zur Darstellung der Studie durch das Institut) durch. Dafür werden jeweils 50 Wähler sinnbildlich auf die Couch gelegt: In zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen werden sie intensiv danach gefragt, wie sie die Stimmung im Land und den Wahlkampf erleben.

Die tiefenpsychologische „rheingold“-Studie ist als qualitative Studie im statistischen Sinne nicht repräsentativ. Sie verfolgt jedoch das Ziel, die wesentlichen Aspekte, Bedeutungsmomente und Motivationen zu repräsentieren, die den aktuellen Wahlkampf und die derzeitige Haltung der Wähler bestimmen. Dabei stellt sie keine prozentuale Wahlprognose, sondern liefert Verstehens-Hintergründe, indem sie das Stimmungsbild im Land nachzeichnet und beschreibt, was die Wähler bewusst oder unbewusst beschäftigt und wie sie Parteien und Politiker wahrnehmen.

Die Wählerinnen und Wähler erweisen sich als ausgesprochen findig im Bemühen, das Ungenügen der Kanzlerkandidaten zu beschreiben, die drei regelrecht kleinzureden und damit das eigene Machbarkeitsdilemma auf die Kandidatin und die Kandidaten zu projizieren: „Baerbock hat’s verbockt, Laschet ist zu lasch und Scholz zu stolz,“ heißt es dann.

Ende der Merkel-Ära

Das unwiderrufliche Ende der Merkel-Ära mit ihrem beruhigenden „Weiter so“ verstärkt den ohnehin verspürten enormen Veränderungsdruck. Die Kanzlerkandidaten und ihre Parteien werden hier weniger im Hinblick auf konkrete Inhalte und Programme wahrgenommen. Sie repräsentieren vielmehr unterschiedliche Strategien im Umgang mit dem Machbarkeitsdilemma.

Armin Laschet als Bewerber der CDU/CSU wird als eher gutmütiger und weicher Politiker bzw. als „rheinische Frohnatur“ wahrgenommen, der die großen Härten abfedert. Beweglichkeit und Teamfähigkeit lassen auch eine produktive Koalition mit den Grünen und der FDP erwarten. Allerdings hat Laschet durch seinen Lacher im Flutgebiet, das praktisch allen Wählern haften geblieben ist, deutlich an Statur eingebüßt.

Brüderlein und Schwesterlein

Die Grünen gelten zwar als die glaubwürdigsten Mahner im Kampf gegen den Klimawandel. Sie fordern in den Augen der Wähler aber auch am ehesten harte Konsequenzen und stehen damit sowohl für den Wandlungsanspruch als auch das Machbarkeitsdilemma. Sie werden mitunter auch als Verzichts- oder Verbotspartei gesehen, rigide und abgehoben. Durch das Führungsduo mit Annalena Baerbock und Robert Habeck wirken die Grünen allerdings weniger ideologisch, streng und asketisch, sondern eher nahbar und sinnenfreudig.

Die Wahlplakate spiegeln das unbewusst und betreiben buchstäblich grüne Schönfärberei: Robert und Annalena stehen nebeneinander wie Brüderlein und Schwesterlein oder wie Adam und Eva und verheißen den schonenden Übergang in eine paradiesisch anmutende Zukunft.

Lachender Dritter

Olaf Scholz war zu Beginn des Wahlkampfs der unsichtbare Dritte. Die Wähler erlebten ihn als unscheinbar, kühl, leblos und akademisch. Seit Armin Laschets Lacher-Fauxpas avanciert Scholz zusehends zum lachenden Dritten, eben weil er nicht lacht. Jetzt treten in der Wahrnehmung der Wähler eher „Kompetenz, Seriosität und staatsmännischer Habitus“ hervor.

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Das mit der Merkel-Union verbundene Konstanzversprechen löst in den Augen der Wähler nun Scholz am besten ein. Das Machbarkeitsdilemma mildert er ab durch eine Mischung von „emsigem Abarbeiten des Problembergs“ und „Auspacken der Finanz-Bazooka“, was möglicherweise die größten Wandlungshärten abmildert. Allerdings wird Scholz von vielen nicht unmittelbar mit der SPD in Verbindung gebracht. Die Wähler haben ihn zwar auf dem Zettel, werden ihn jedoch auf dem Wahlzettel nicht finden.

Bürger denken in Koalitionen

Verlässliche Prognosen sind damit fünf Wochen vor der Wahl schier unmöglich. Wie vor keiner anderen Wahl bisher denken die Bürger in Koalitionen. Viele würden am liebsten ihre Stimmen splitten, um ein eigenes Koalitionssüppchen zu kochen.

Das individuelle Rezept besteht im Wesentlichen aus drei Zutaten: • Konstanz und ein bewegliches Weiter so. Diese Ingredienz steuern die Union und – in Person – auch Olaf Scholz bei. • Wandel und moderate Anstrengungen zur Krisenbewältigung. Das bringen die Grünen in s Koalitionssüppchen ein. • Erhalt persönlicher Freiheiten und Spielräume. Das ist die Würze, die am ehesten von Christian Lindners FDP erwartet wird.  

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