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Strategiepapier des InnenministeriumsExit aus dem Corona-Krisenmodus – die Szenarien

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Seehofer möchte keine Studie zu Rassimus in der Polizei in Auftrag geben. Die Begründung: Er sieht kein Problem.

Köln – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), gerade aus dem quarantänebedingten Home Office entlassen, dämpfte am vergangenen Freitag die Hoffnungen auf einen frühzeitigen Exit aus dem Krisenmodus im Zuge der Coronavirus-Pandemie. Zwar verflache die Infizierten-Kurve. Doch es sei zu früh, einen Trend zu erkennen. Nach wie vor breite sich der Virus mit großer Geschwindigkeit aus.

Das Bundesinnenministerium (BMI) hat indes in einem aktuellen Strategiepapier, das dem Kölner Stadt-Anzeiger vorliegt, ein baldiges Ende der Ausgangsbeschränkungen angemahnt. Geht es nach Horst Seehofer (CSU) und seinem Staatssekretär Markus Kerber müsse man nach den Osterferien in eine zweite Phase eintreten. So etwa Schulen und Kindergärten wieder öffnen.

„Konsumbereiche schnell wieder reaktivieren“

Und die Einschränkungen des öffentlichen Lebens sukzessive zurückzunehmen, damit „die Konsumbereiche schnell wieder reaktiviert werden“. In etlichen „unternehmensnahen Dienstleistungsbereichen könnte die Geschäftstätigkeit wieder anlaufen. Siehe etwa Wirtschaftsprüfer und Steuerberater bis hin zum Autoreparaturservice.

Alles zum Thema Karl-Josef Laumann

„Nur mit einem absehbaren Ende der Ausgangsbeschränkungen kann eine Rückkehr zum bisherigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben gewährleistet sein“, heißt es in dem Papier, dass auf der Analyse des Robert Koch Instituts und etlicher weiterer Sachverständiger beruht. Ziel ist es die Verdopplungsziffer der Infizierten auszudehnen. Das heißt: Die Steigerungsraten entsprechend zu verlangsamen. Derzeit sind es neun Tage, ehe sich die Rate verdoppelt. Erst wenn sich die Zahlen nach zwei Wochen entsprechend steigern, könnten die Verantwortlichen vorläufige Entwarnung geben.

200.000 Tests pro Tag

In der Strategie die Epidemie um Covid-19 in den Griff zu bekommen, orientieren sich die BMI-Autoren an dem südkoreanischen Modell. Dort sei durch ein umfangreiches Testsystem die Dunkelziffer äußerst gering. Demnach kann der frühe Exit aus dem Krisenmodus hierzulande nur gelingen, wenn die Risikopatienten schnell erkannt und isoliert werden. Ferner müssten die Länder die Zahl der Viren-Tests bundesweit auf bis zu 200.000 täglich hochfahren.

Macht 1,4 Millionen pro Woche. Laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) liegt die Rate derzeit bei knapp einem Drittel für den Sieben-Tages-Zeitraum. Allerdings will man diese Zahl massiv steigern. Sein NRW-Kollege Karl-Josef Laumann sieht sein Land auf einem guten Wege: Derzeit reichten die Kapazitäten zwischen Rhein und Weser für 20.000 Tests pro Tag aus.

Inzwischen sei bereits eine halbe Million Menschen überprüft worden. 90 Prozent von ihnen habe sich nicht am Virus angesteckt. Laumann als auch Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sehen vor dem Hintergrund ein leichtes Wetterleuchten für erste Lockerungsmaßnahmen nach den Osterferien aufglimmen.

Denn sollte es nicht gelingen, die Infektionsrate in den nächsten Monaten zurückzufahren, droht wirtschaftlich, sozial und gesundheitlich der Kollaps. Dabei spielten die Virus-Analytiker aus dem BMI folgende Szenarien durch.

Worst Case

Derzeit speisen 975 Kliniken ihre Daten zu den Intensivbettenkapazitäten bei der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), dem RKI und der Deutschen Krankenhausgesellschaft in eine Datenbank ein. Nach aktuellem Stand existieren 20 000 Intensivbetten. Etwa 9000 davon sind im Moment frei und können sofort zur Behandlung von Corona-Kranken genutzt werden.

Im Krisenmodus, so Bundesgesundheitsminister Spahn, könne man auf 17.500 erhöhen. Diese Ziffer reicht nach BMI-Expertise bei weitem nicht aus. Auch wenn die Quote auf 24.000 freie Intensivbetten mit Beatmungsgeräten hochklettert, müsse mit einer „massiven Überlastung des Gesundheitssystems“ gerechnet werden. Und zwar dann, wenn die Verdoppelungszahl der Virus-Empfänger bis Ende April im Neun-Tage-Rythmus stagniere. Im schlimmsten Fall müssten 80 Prozent der „intensivpflichtigen Patienten von den Krankenhäusern abgewiesen werden“, konstatiert das BMI. In dem Fall rechne man mit 1,2 Millionen Toten.

Dehnungs-Fall

Sollte es gelingen, das Ansteckungtempo bis Mitte April bereits auf neun Tage pro Verdoppelungsdurchschnitt abzubremsen, könnten den Analysen zufolge nur noch 15 Prozent Intensiv-Patienten nicht klinisch behandelt werden. Nur jeder fünfte Bundesbürger würde sich infizieren, die Todesrate schätzt das BMI auf 220.000. Unter diesen Voraussetzungen würde der Ausnahmezustand mindestens sieben Monate andauern.

„Hammer and Dance“-Szenario

Testen und Isolieren, nennt sich der von den BMI-Experten favorisierte Weg. Demzufolge dämmt eine intensive Viren-Kontrolle die Pandemie ein. Dann würden sich vermutlich eine Million Deutsche mit dem Virus infizieren, etwa 12.000 von ihnen kämen ums Leben. Allerdings sei weiterhin mit einer Ansteckungsgefahr zu rechnen.

Ein denkbar düsteres Bild zeichnen die BMI-Experten für die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen, sollte man nicht erfolgreich die Pandemie bekämpfen können. Aus ihrer Sicht droht eine „Kernschmelze“ für das gesamte System, das in Frage gestellt werde. Quasi bis hin zur Anarchie.

Schon sagt das Papier weitaus schlimmere Folgen für die hiesige Wirtschaft voraus, wie in der Finanzkrise 2009. Und auch hier gingen die BMI-Analysten mehrere Szenarien durch.

Schnelle Kontrolle

Greifen die Kontaktverbote, so könnten die Zahlen bis zum Ende der Osterferien spürbar herunter gehen. Nach Ansicht des BMI Grund genug, um Schulen und Kindergärten wieder zu öffnen, und die Eltern zumindest in Teilen wieder aus dem Home-Office an ihre Arbeitsstellen zu bringen. Produzierende Unternehmen hätten noch mindestens einen Monat starke Problem den Betrieb wegen unterbrochener Lieferketten hochzufahren.

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Zugleich bleiben etwa Verbote für Großversammlungen sowie die intensiven Virus-Testreihen bestehen. Den Prognosen zufolge braucht es zwei Monate, damit die Firmen erneut störungsfrei arbeiten können. Drei weitere Monate sind nötig, um die verlorene Wirtschaftsleistung auszugleichen. In diesem günstigsten Fall sinkt das Bruttosozialprodukt um vier Prozent, bei der Industrie schlägt ein Minus von neun Prozent zu Buche. Allein in diesem Falle kämen auf den Staatshaushalt Kosten in Höhe von 80 Milliarden Euro zu.

Rückkehr der Virus-Krise

Im zweiten Fall spielt die BMI-Analyse die wirtschaftlichen Konsequenzen einer zweiten Corona-Welle im kommenden Winter durch. Dasselbe Szenario mit Ausgangsbeschränkungen, Besuchsverboten in Altenheimen und Kurzabeitergeld für Millionen von Beschäftigten würde sich wiederholen. Hier käme ein elfprozentiges Minus für die Wirtschaft im Jahr 2020 zum Tragen, die Industrie müsste wohl Umsatzverluste von 19 Prozent verschmerzen. Weitaus schlimmere Folgen als der Crash vor elf Kahren der weltweiten Finanzbranche bereitete.

Langes Leiden

Sollten die Kontaktverbote und Ausgangssperren bundesweit bis zum Beginn der Sommerferien Mitte Juli andauern, seien tiefere Einschnitte zu befürchten.

Abgrund

Ein „Lockdown“ bis zum Ende des Jahres käme nach Einschätzung des BMI einem „wirtschaftlichen Zusammenbruch“ gleich, dessen „gesellschaftliche und politische Konsequenzen kaum vorstellbar sind“. Das BIP stürzt um 32 Prozent ab, die Industrie büßt knapp die Hälfte des Umsatzes ein. Für diesen Fall fürchtet das Innenministerium massive Proteste gegen die Maßnahmen der Regierenden: „Vermutlich werde eher die Behandlung der Erkrankten infrage gestellt“, als dass man einen dauerhaften Stillstand des Landes in Kauf nehmen würde.

Fazit

Die Regierenden setzen auf den Kurs, die Massentests auszuweiten und folglich die Risikopatienten besser zu identifizieren und zu isolieren. Dabei befürworten sie mehr mobile Teststationen, das umstrittene „big data“, die digitale Überwachung mittels Gesundheitscode-Software auf dem Handy, sprich ein Virus-Tracking. Sollte dieser Weg zum Erfolg führen – erste Daten scheinen dies zu bestätigen – dann wäre viel gewonnen. Falls nicht wären die Folgen unabsehbar.

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