Streit der WocheIst es richtig, die Schulen jetzt zu öffnen?

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Schüler mit Mund-Nasen-Schutz im Klassenraum.

  • Ab dem 22. Februar will die Landesregierung in NRW Schritt für Schritt zurück zum Präsenzunterricht
  • Doch ist das tatsächlich der richtige Weg? Oder gar verantwortungslos?
  • Unser Streit der Woche

Köln. – Seit Mitte Dezember haben unsere Kinder keine Klassenräume mehr von innen gesehen. Nun sollen die Schulen ab dem 22. Februar Schritt für Schritt wieder geöffnet werden. Richtige Entscheidung? Oder verantwortungslos? Darüber diskutieren unsere beiden Redakteure Frank Olbert und Jonah Lemm im Streit der Woche.

Pro: Präsenzunterricht muss nicht im Klassenraum stattfinden

Gerade wird gern der gute Vorsatz bemüht, dass eine Krise die Chance bietet, eine schwierige, gar bedrohliche Situation zum Besseren zu wenden. Warum fangen wir nicht gleich damit an? Ein ideales Betätigungsfeld dafür wären die Schulen, denn dort verdichten sich gerade die Probleme zu einem derart explosiven Gemisch, dass es der Gesellschaft als ganzer irgendwann um die Ohren fliegen könnte: Schulpsychologen warnen vor seelischen Schäden der Kinder und Jugendlichen durch die fortdauernde Isolation zu Hause, durch die Angst vor der Pandemie, über die sie sich nicht mit Gleichaltrigen austauschen können, aber auch durch Verunsicherung aufgrund des ungewohnten Distanzunterrichts. Die Rückkehr zur Präsenz ist deshalb der richtige Weg, wenn man ihn mit Umsicht und Kreativität beschreitet.

Was die Umsicht betrifft: Als die Schulen nach dem ersten Lockdown wieder öffneten, wurden Lehrer wie Schüler zu Frischluftfanatikern – konsequentes Lüften war im Sommer eine gute Idee, doch im Corona-Winter dürfte es derzeit allen Beteiligten eine gute, alte Erkältung verpassen. Darum müssen endlich Luftfilter zum standardmäßigen Einsatz kommen, sie wären das analoge Technik-Pendant zur Digitalisierung – eine Grundausstattung, die auch in künftigen Krisen für frischen Wind sorgen würde.

Was die Kreativität angeht: Wer sagt, dass Präsenzunterricht immer in Klassenräumen stattfinden muss? Derzeit stehen jede Menge Gebäude leer, wahrscheinlich würde sich sogar das ein oder andere Museum finden, dass Schülerinnen und Schüler nicht nur seinen Vortragssaal überlässt, sondern ihnen auch Führungen anbietet. Das wäre mal ein exklusiver Kunstunterricht, der sogar Kulturmuffel überzeugen könnte.

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Es gibt verwaiste Kinos, Theater und Konzerthallen, Pfarrgemeindesäle und Jugendzentren. Warum füllt man sie nicht mit schulischem Leben? Platz, um Abstand zu halten, wäre genug. Dass es manchem so wahnsinnig schwer fällt, sich anderen als den herkömmlichen Unterricht vorzustellen – der Stuhlkreis als die ultimative Innovation! – ist sicher auch ein Symptom unseres schwerfälligen Schulsystems. Aber gerade hat es keinen Sinn, über Bürokratie, autoritäre Strukturen, behördliche Anweisungen beziehungsweise deren verspätetes Eintreffen oder Ausbleiben zu lamentieren; jetzt käme es darauf an zu handeln. Warum werden nicht schon längst Studierende herangezogen, um dem Lehrermangel wenigstens partiell entgegenzuwirken? Auch das könnte dazu beitragen, die Lerngruppen zu verkleinern und auf diese Weise das Infektionsrisiko zu minimieren.

Nicht zuletzt aber bin ich für eine Schulöffnung, die gerade auch die Erfahrungen der vergangenen Monate ernst nimmt. Sicher ist der Präsenzunterricht eine gute, vielleicht sogar die beste Voraussetzung für gelingendes Lernen. Aber gilt es wirklich für alle? Wo es rein technisch gelingt, kann der Digitalunterricht eine enorme Bereicherung sein, ja, es gibt Schüler, die damit sogar besser zurechtkommen als mit der Anwesenheit in Klassen, in denen vieles vom Unterricht ablenkt. Das gilt natürlich vor allem für die älteren Schülerinnen und Schüler, und gerade für sie sollte es flexible Modelle geben: zu Hause zu lernen gehört dazu, aber auch in die Schule zu kommen, wann immer der Austausch sinnvoll erscheint. Das wäre wirklich eine offene Schule, nicht nur eine geöffnete. (Frank Olbert)

Contra: Das Märchen von den sicheren Schulen stimmt nicht

Es ist schade, dass Teile der Gesellschaft und Politik einen so großen Wunsch hegen, Kinder und Jugendliche mögen bitte wieder vernünftig lernen können und gleichzeitig in fast einem Jahr Pandemie selbst so wenig dazugelernt zu haben scheinen. Zum Beispiel: Dass es bei einer riskanten Entscheidung vielleicht sinnvoll wäre, auf Expertinnen und Experten zu hören. Versuchen wir das an dieser Stelle dennoch einmal mehr: Der Präsident der Intensivmediziner-Vereinigung Divi, Gernot Marx, hat jüngst öffentlich die Sorge geäußert, dass sich durch eine verfrühte Schulöffnung unbemerkt eine dritte Welle aufbaut. Als mahnendes Beispiel nannte er Großbritannien, Irland oder Portugal, wo ein zu frühes Öffnen umgehend zu einem exponentiellen Wachstum in den Infektionszahlen geführt habe.

Schulen, so Marx, tragen im großem Maße zur Verbreitung des Virus bei. Man würde diese Aussage jetzt natürlich gern mit dem Ergebnis der von den Kultusministern in Auftrag gegebenen Studie zur Ansteckungsgefahr in Schulen belegen. Die wird aber wohl leider erst in der zweiten Jahreshälfte 2021 fertig.

Schauen wir also erneut über die Grenzen: Eine Querschnittsstudie der Universität Oxford, in der Daten aus 34 europäischen und sieben nicht-europäischen Ländern untersucht wurden, kommt zu dem Schluss, das Schulschließungen zu den effektivsten Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus gehören. Eine andere britische Untersuchung zeigt: Die Infektionszahlen dort liegen im gesamten Schulalter über dem Durchschnitt der Bevölkerung. Auch in der Grundschule. In Österreich kommen die zuständigen Wissenschaftler einer laufenden repräsentativen Untersuchung zum Zwischenfazit: Wenn das Infektionsgeschehen hoch ist, dann kann man keine Schule so schützen, dass dort keine Übertragungen stattfinden.

Zahlen und Studien, die hingegen zeigen, dass es – zumindest wenn das Ziel gilt, möglichst schnell die Pandemie zu bewältigen – richtig ist, zum Präsenzunterricht zurückzukehren, gibt es dagegen: keine. Dazu kommt, dass sich mit B.1.1.7 nun eine nach aller Voraussicht nach noch ansteckendere Variante des Virus in den Klassenzimmern verbreiten könnte. Bei einem bundesweiten Inzidenzwert, der vielleicht im Vergleich zu den vergangenen Monaten niedrig erscheint, aber vor einem Jahr noch als Alarmstufe Superrot gegolten hätte. Und Schulschließungen nach sich gezogen hätte.

An ihrer Schule läuft es gut – oder etwas gewaltig schief? Schreiben Sie uns!

Sie unterrichten an einer Schule und wollen, dass wir über Missstände oder ein besonders gut laufendes Projekt berichten? An der Schule ihres Kindes passiert seit einer Ewigkeit nichts in Sachen Fortschritt?

Für alle Fragen, Themenanregungen und Kritik rund um das Thema Schule jeglicher Schulform haben wir ein offenes Ohr! Schreiben Sie uns an schule@dumont.de und wir prüfen, ob und wie wir darüber berichten. Auf Wunsch selbstverständlich anonym. 

Die Schulen stattdessen zu öffnen, ist unverantwortlich. Es ist unverantwortlich den Lehrerinnen und Lehrern gegenüber, die  ein Recht auf körperliche Unversehrtheit haben. Es ist unverantwortlich den Kindern und Jugendlichen gegenüber, die  vielleicht nicht selbst schwer erkranken, aber eventuell ihre Eltern,  die sie angesteckt haben. Es ist unverantwortlich den Menschen in medizinischen Berufen gegenüber, die in den vergangenen Monaten alles dafür getan haben, so viele Menschen vor diesem Virus zu retten wie möglich. Und es ist  unverantwortlich der ganzen Gesellschaft gegenüber:

Nach allem, was wir wissen, führt eine Schulöffnung in der jetzigen Lage zu mehr Infektionen. Und so auch zu mehr Toten. Zu einem erneuten Lockdown. Zu noch höheren Schäden für die Wirtschaft. Zu noch längeren Einbußen der Grundrechte für alle. Und das deutlich schneller, als jede Lehrkraft geimpft sein soll. (Jonah Lemm)

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