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Studie zu NS-ErinnerungenDie Deutschen: Ein Volk der Helfer und Opfer

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Holocaust-Gedenken

Berlin – Mit Kerzen, Gebeten, Kranzniederlegungen und einer Menschenkette gedenken die Dresdener in diesen Tagen der Zerstörung ihrer Stadt vor 73 Jahren. In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 griffen britische und amerikanische Flieger die Stadt an der Elbe an, das barocke Zentrum  wurde in jener Nacht und am nächsten Tag fast vollständig zerstört, 25.000 Menschen kamen ums Leben. Der Jahrestag ist ein gutes Beispiel dafür, wie Gedenken und Erinnerung sich im Laufe der Zeit wandeln – und ideologisch und politisch instrumentalisiert werden. Seit 20 Jahren marschieren rund um dieses Datum Neonazis auf, die die Bombardierung für ihre Propaganda nutzen und die Deutschen zu Opfern eines angeblichen „alliierten Völkermordes“ stilisieren. Aber auch das öffentliche Gedenken hat sich immer wieder stark verändert.

Wie also erinnern sich die Deutschen heute der Zeit des Nationalsozialismus und welche individuellen und kollektiven Narrative entstehen daraus? Sie sehen sich, das ist das wichtigste Ergebnis einer Studie, die die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft in Auftrag gegeben hat, in der Zeit des Zweiten Weltkriegs mindestens ebenso stark als Helfer wie als Täter. Im Auftrag der Stiftung ließ das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung unter Leitung von Andreas Zick mehr als 1.000 Menschen telefonisch befragen. „Die Frage, wer wir sind, können wir nur beantworten, wenn wir Antwort auf die Frage geben können, woher wir kommen“, sagte Zick am Dienstag bei der Vorstellung der Studie in Berlin. „Angesichts von Antisemitismus und Versuchen, Themen wie die Kriegsschuld für Propagandazwecke zu missbrauchen, steht Erinnerungskultur in Frage“, warnte er.

Welches ist das wichtigste Ereignis in Deutschland nach 1900?

Schon die Antworten auf die Eingangsfrage sind höchst aufschlussreich. „Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste historische Ereignis in Deutschland seit 1900?“, wollten die Sozialforscher wissen und gaben dabei keinerlei Antwort vor. Eine Mehrheit von 39 Prozent nannte die Wiedervereinigung, 37 Prozent den Zweiten Weltkrieg, der Rest gab ein anderes oder gar kein Ereignis an. Es kann kaum überraschen, dass das Alter dabei eine wichtige Rolle spielt. Je älter die Befragten sind, für desto wichtiger halten sie den Krieg, während für die Jüngeren die deutsche Einheit das wichtigere Ereignis ist.

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Die Erinnerung wird stark geprägt von Familiengeschichten und davon, worüber überhaupt gesprochen wird in den Familien. Fast 70 Prozent verneinen heute, dass Familienmitglieder unter den Tätern des Zweiten Weltkriegs waren, nur 18 Prozent antworten auf die Frage mit Ja. Genauso viele, also 18 Prozent, geben an, dass Familienmitglieder in dieser Zeit  potentiellen Opfern geholfen haben. Gerade bei dieser Frage ist aber auch die Zahl derer, die keine Antwort wissen, mit 36 Prozent besonders hoch. „Es gibt hier eine große Erinnerungslücke“, so der Psychologe Jonas Rees von der Universität Bielefeld, der die Studie mit Andreas Zick betreut hat. Gleichzeitig antwortet mehr als jeder Zweite auf die Frage, ob Vorfahren unter den Opfern des Zweiten Weltkriegs waren, mit Ja. Die Erinnerungskultur, so ein Fazit der Autoren, werde also trügerischer. Allerdings wurde in der Befragung nicht genauer definiert, wer zu den Tätern und wer zu den Opfern gehört, wie die Forscher auf Nachfrage dieser Zeitung einräumten. Dies blieb den Befragten selbst überlassen.

„Wir werden von einem Volk der Täter zu einem Volk der Helfer und Opfer“, konstatiert auch Andreas Eberhardt, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Die Bundesstiftung wurde im Jahr 2000 gegründet, um Zwangsarbeiter aus der NS-Zeit zu entschädigen. Weil die Ergebnisse der Studie auch international relevant seien, soll sie über drei Jahre hinweg weitergeführt werden.

Drei von vier Befragten fühlen sich nicht schuldig für den Holocaust

Eine Mehrheit der Befragten interessiert stark für deutsche Geschichte, so ein weiteres Ergebnis der Studie, und hält den Geschichtsunterricht an den Schulen für sehr wichtig, um historisches Wissen zu vermitteln. Aber auch das Internet bekommt eine immer größere Bedeutung. Drei von vier sagen allerdings, sich für nicht schuldig für den Holocaust zu fühlen, eine Mehrheit ist aber der Ansicht, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine besondere moralische Verantwortung habe. Ein angeblicher „Schuldkult“ der Deutschen, wie ihn auch der völkische Flügel der AfD um Björn Höcke immer wieder behauptet, ist also empirisch nicht zu belegen.

Befragte halten Besuch von Gedenkstätten für wichtig

Knapp die Hälfte der Befragten macht sich auch Sorgen, dass sich ein Ereignis wie der Holocaust wiederholen könnte, und jeder Dritte fordert, dass in Deutschland mehr für die Erinnerung an den Nationalsozialismus getan werden müsse. Für absolut prägend hält eine Mehrheit der Befragten den Besuch von Gedenkstätten, wie er nach den jüngsten antisemitischen Ausschreitungen auch von der Politik diskutiert wurde. In vielen Bundesländern sind solche Besuche Teil des Lehrpläne, aber nicht verpflichtend vorgeschrieben. Dass die AfD mit dem Einzug in die Landtage und nun auch den Bundestag Anspruch darauf hat, Vertreter in die Gremien dieser Gedenkstätten zu entsenden, hat bereits für heftige Kontroversen gesorgt.

Wie wichtig die Erinnerungskultur für die nationale Identität ist, zeigen weitere Antworten der Studie. Mehr als die Hälfte ist der Ansicht, man solle endlich wieder stolz sein, ein Deutscher zu sein. Über 80 Prozent glauben aber auch, dass das Wissen über die Geschichte des Nationalsozialismus zur Zugehörigkeit zu Deutschland gehöre. Immerhin jeder Vierte fordert aber einen Schlussstrich unter diese Zeit.

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