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Trotz ArbeitskraftmangelsWie junge Geflüchtete von Bildung ausgeschlossen werden

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Said und Kanzie sind nach Deutschland geflohen. Nun kämpfen sie mit der deutschen Bürokratie. Sie wollen eigentlich nur eines: Arbeiten.

Bonn – Said hatte sich im Internet über Deutschland informiert. Eine stabile Demokratie, gute Gesetze, Frieden, Gerechtigkeit. Der junge Chemie-Student aus Guinea las über Dinge, die er sich wünschte, in seiner Heimat aber kaum erlebt hatte. Die ehemalige französische Kolonie in Westafrika wurde 1958 unabhängig und ihre politische Geschichte wird seither von Staatsstreichen, Militärregierungen, politischer Gewalt und Korruption geprägt. Said wollte weg, und er hatte sehr viel Glück: er überlebte die von seinem Vater für ihn organisierte und bezahlte Bootsfahrt nach Spanien und floh weiter über Frankreich und Belgien nach Deutschland – in das Land seiner Träume.

Hier lebt er nun seit einem Jahr. Er ist jung, gebildet und voller Tatendrang. Er will lernen, anpacken, sich eingliedern. Doch es wird dem 26-Jährige unglaublich schwer gemacht. Die Gesetze, die Said so vorbildlich erschienen, sind gegen ihn. „Deutschland ist anders, als ich es mir vorgestellt habe“, sagt er: „Jetzt lebe ich in der Realität.“

Wer sich weiterbilden will, muss warten

Schön ist sie nicht: Said hat ein Bett in einem „Camp“, so nennt er die Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) des Landes NRW in Sankt Augustin. Das Zimmer ohne Steckdosen teilt er sich mit fünf bis sieben anderen Flüchtlingen, es gibt feste Essenszeiten, eine medizinische Grundversorgung und 80 Euro Taschengeld pro Woche. Wer sein Handy aufladen will, muss das am immer überfüllten Infopoint tun und daneben sitzen bleiben, sonst wird es geklaut.

Wer nach Bildung lechzt und sich von Anfang an integrieren möchte, muss warten, bis sein Asylantrag bearbeitet wurde – das kann inklusive Klage gegen den in aller Regel negativen Bescheid Jahre dauern. Vergeudete Jahre für einen jungen Menschen. Aber auch vergeudete Jahre für ein Land, dem es an Arbeitskräften mangelt.

In den Mühlen der Asylbürokratie

Said heißt in Wirklichkeit anders, er möchte anonym bleiben. Genauso wie Kanzie aus Algerien. Der 22-Jährige kam ebenfalls vor einem Jahr nach Deutschland, er reiste zusammen mit seiner Mutter ein, die an einer schweren Augenkrankheit leidet. Eine Operation, die in Algerien nicht möglich ist, könnte ihr helfen. In Deutschland gebe es entsprechende Spezialisten, sagt Kanzie. Aber wie Said stecken seine Mutter und er aktuell in den Mühlen der deutschen Asylbürokratie fest. Er warte also auf seinen Bescheid? „Nein“, sagt Kanzie, „ich kämpfe. Ich kämpfe um Termine, ich kämpfe um eine Chance. Wenn ich nur warte, kann ich meine Mutter nicht beschützen.“

Wir treffen Said und Kanzie in Bonn beim Verein Ausbildung statt Abschiebung (AsA), der junge Geflüchtete zwischen 14 und 27 Jahren mit unsicherem Aufenthaltsstatus aus Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis unterstützt. Die jungen Männer beschreiben es als großes Glück, durch Hinweise anderer Flüchtlinge hierher gefunden zu haben. Denn der Verein bietet an, was in den ZUE’s mangels Mitarbeitern kaum geleistet werden kann, möglicherweise bundespolitisch gewollt auch nicht geleistet werden soll: Bildung für alle. „Es gibt punktuelle Angebote in den Einrichtungen“, sagt Sara Ben Mansour, Projektleiterin bei AsA, „aber die Rückmeldungen der Menschen wiederholen sich, demnach sind die Angebote unzureichend, nicht regelmäßig und nicht zielgruppengerecht“.

Nirvana des Nichtstuns

Das trifft nicht nur junge, arbeitswillige Menschen wie Said oder Kanzie, sondern auch viele Kinder. Sie haben ein Recht auf Bildung, so steht es in der UN-Kinderrechtskonvention, aber die Schulpflicht greift in Deutschland erst, wenn Flüchtlingskinder einer Gemeinde zugewiesen wurden. Solange die Asylverfahren ihrer Familien laufen, hängen sie im Nirvana des Nichtstuns herum, so manche Bildungsbiografie wird in dieser Zeit zunichte gemacht. Darauf hatte auch der Paritätische NRW zum Schulstart nach den Sommerferien noch einmal hingewiesen und gefordert, geflüchteten Minderjährigen im schulpflichtigen Alter umgehend nach ihrer Ankunft den Besuch der Regelschulen zu ermöglichen.

„Bildung ist ein Thema, das in Deutschland insgesamt größer geschrieben werden müsste“, sagt Ben Mansour: „Es leiden ja nicht nur geflüchtete Minderjährige, die aus unserem Bildungssystem ausgeschlossen werden, sondern auch Kinder und Jugendliche hier im Land, weil es an Schulplätzen, an Lehrern, an Ausstattung in den Schulen mangelt.“

Schutz gegen Radikalisierung

Said und Kanzie haben über AsA Plätze in der internationalen Förderklasse der Abendrealschule Bonn erhalten. Dort lernen sie Deutsch, haben aber auch Unterricht in anderen Fächern, ihre Tage bekommen Struktur und einen Sinn. „Bildung ist auch ein guter Schutz gegen Radikalisierung“, sagt Ben Mansour. Das Leben über viele Monate in einer Flüchtlingsunterkunft, separiert, zusammengepfercht, ohne Aufgabe, ist es nicht. Verständnislosigkeit, Verbitterung, Hoffnungslosigkeit, sich minderwertig fühlen, desillusioniert sein – das alles seien Gefühlsansätze, die ihr in der Beratung immer wieder begegneten, erzählt Ben Mansour.

Ihrer Ansicht nach gehörten die Strukturen im deutschen Asylsystem überarbeitet. Genauso wie die Bestimmungen im Einwanderungsgesetz, das auf Betreiben der SPD vor zwei Jahren erlassen wurde und dem Fachkräftemangel entgegenwirken soll. Danach kann legal zum Arbeiten nach Deutschland einreisen, wer eine abgeschlossene Ausbildung, Deutschkenntnisse auf dem Level B1, einen Arbeitsvertrag und eine Wohnung vorweisen kann.

Potenzial wird nicht genutzt

„Damit wird die Elite anderer Länder abgeworben“, sagt Ben Mansour, „aber alle anderen, die das deutsche Wirtschaftssystem nicht direkt voranbringen, selbst wenn sie intelligent und arbeitswillig sind, die möchte man hier nicht haben.“ 2021 seien 80 Prozent der Geflüchteten in Deutschland zwischen 0 und 30 Jahren alt gewesen. „Die haben Potenzial, die könnten etwas Positives beitragen in unserem Land.“

Aber sie dürfen nicht. Sie langweilen sich Tag für Tag, gammeln Woche für Woche und Jahr für Jahr vor sich hin, abgesondert bis zur Abschiebung. Das sei unmenschlich, sagt Ben Mansour: „Menschen brauchen Struktur, das ist wichtig für den sozialen Frieden. Wenn sie die nicht haben, werden sie destruktiv.“ Das sei aber auch unwirtschaftlich. „Es geht ja nicht darum, Kriminelle zu akzeptieren oder Menschen, die keinen Bock haben“, betont die Flüchtlingsberaterin. „Auch wir bedenken den wirtschaftlichen Faktor. Es geht um Menschen, die der Gesellschaft vor allem mit Blick auf den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel etwas bringen könnten.“

Kanzie muss auf die Geduld seiner Chefs hoffen

Kanzie hat in Algerien nach dem Abitur in mehreren Restaurants gearbeitet. Zuletzt hat er einen Stapel Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz verschickt. Sein Deutsch ist ausbaufähig, aber er spricht gut Englisch und fließend Französisch. Und er hatte Erfolg: Eine Bäckerei will ihn einstellen. Nun wartet er auf die Genehmigung der Bezirksregierung und muss hoffen, dass die Geduld seiner angehenden Chefin länger hält als die Mühlen der Bürokratie mahlen.

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Auch für Said wäre ein Ausbildungsplatz die einzig realistische Chance, langfristig in Deutschland zu bleiben. Denn alle Flüchtlinge, die nicht aus Syrien, Afghanistan, Somalia oder Eritrea stammen, haben eine „schlechte bis keine Bleibeperspektive“, so formuliert es Ben Mansour. Ihre Asylanträge werden in aller Regel negativ beschieden. Die Chance zu bleiben hat dann nur noch, wer einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeit als Fachkraft gefunden hat. Said würde auch gern eine Bäckerlehre machen. Oder als Krankenpfleger arbeiten. Er ist offen für vieles. Und hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass sich Deutschland doch noch als Land mit guten Gesetzen auch für ihn erweisen könnte.

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