Überheblich und unberechenbarBoris Johnson im Porträt: „Wer ist dieses Monster?“

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Boris Johnson

  • Er wird sein Land schon ruinieren, glauben viele, die Boris Johnson lange kennen. Doch andere meinen, dass dieser einem kühl gefassten Plan folgt.
  • Was ihn antreibt und was ihn mit Donald Trump verbindet. Eine Annäherung an die Person Boris Johnson.

London – Boris Johnsons engster Berater in Downing Street, Dominic Cummings, soll die Operation „Kettensägenmassaker“ ausgerufen haben. Anders gesagt: Das Chaos ist steigerbar. In Brüssel und Kontinentaleuropa ist man zwar der Meinung, dass Johnson das Maximum an Zerstörung längst erreicht hat. Aber sie scheinen ihn und Cummings schlecht zu kennen. Beide eint ein Ziel: dass zu Halloween, der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November, der Brexit vollzogen wird. Am Montag steht ein Treffen mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an.

Johnson nützt das befürchtete Chaos und natürlich auch die Schlagzeilen, dass er lieber ins Gefängnis gehen als das Diktat des Parlaments umsetzen werde. Schließlich kommt genau das gut an bei den konservativen Wählern - sofern sie Leave-Fans sind.

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Immer betont lässig: Johnson als Gast bei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.

Mag auch die Megacity London anders denken als er, Johnson setzt auf die Stimmung im Rest des Landes. Und so droht er allen mit dem Schlimmsten. Der EU an sich, der EU-Kommission, dem EU-Parlament, dem eigenen Parlament, das er kurzerhand in Urlaub schickte. Staatsstreichartige Züge erkannte man darin. Johnson will um jeden Preis sein Ziel erreichen, umso klarer wird daher, glauben einige, dass im Chaos ein Plan steckt. Der ultraliberale Tory zeigte nun nicht mehr nur seine private Show als Oberklassenproll, sondern als kühl kalkulierender Machtpolitiker. „Johnsons Beispiel beweist, insbesondere sein Weg zur Macht – fortan gewissermaßen als Gegenstück zum ganz anders sozialisierten Donald Trump: Klassische Bildung kann eloquent und geistreich machen, schützt aber auch nicht vor niederträchtigen Kampagnen und fehlgeleiteter Politik“, schrieb die „Süddeutsche“ über ihn.

Johnson liebt Attribute „gigantisch“ oder „titanisch“

So wie Donald Trump seine Leistungen gerne „fabelhaft“ und „großartig“ nennt, so liebt Boris Johnson das Attribut „gigantisch“ oder „titanisch“. Johnson hat seine Skurrilität bewusst kultiviert. Als das Wahlergebnis zum Brexit verkündet wurde, lief er mit verschränkten Händen und hochgezogenen Schultern in die Halle hinein. Hätte er noch eine Zigarre im Mund gehabt, spotteten seine Kritiker, wäre er die perfekte Imitation seines großen Vorbildes Winston Churchill gewesen.

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Mike Pence gilt als Hardliner in den USA. Johnson dürfte sich wie unter Geistesbrüdern gefühlt haben.

Ähnlich wie dieser will Johnson die aus seiner Sicht letzte Chance nutzen, den Ruhm und die Ehre der Weltmacht Großbritannien gegen das scheinbar Unaufhaltsame zu verteidigen. War es bei Churchill Hitler, vor dem er einige Jahre vor Kriegsbeginn gewarnt hatte (zuvor war er ein begeisterter Hitler-Fan), so ist es bei Johnson die Europäische Union. Wie auch Johnson galt Churchill als politisches Leichtgewicht, dem man besser kein höheres Amt anvertrauen sollte. Johnson ist verantwortlich dafür, dass man ihn an seinem 14. Vorgänger in Downing Street misst. In Amt und Würden als Oberbürgermeister der Metropole London, verfasste er ein immerhin 432 Seiten dickes Buch über den „Churchill-Faktor“. Er bekundete zwar, die Schuhe des Porträtierten seien dem Autor zu groß, aber ganz ernst gemeint hatte er die Behauptung wohl nicht.

Denn er nutzt jede Möglichkeit, als Wiedergänger Churchills wahrgenommen zu werden. Vor allem, was „weiche Faktoren“ angeht wie Originalität und Sprachwitz, inszenierte Illoyalität, Risikofreude und Exzentrik. Sieht man allerdings von Johnsons Schauspielereien ab und blickt auf die Substanz der Person, lösen sich die vermeintlichen Ähnlichkeiten wie Gespenster bei Tageslicht auf: Während Churchill trotz anfänglicher Fehlgriffe den Kampf gegen Nazi-Deutschland erfolgreich anführte, waren Johnsons zwei Jahre als Außenminister ein einziges Desaster. Der größte Unterschied zwischen dem Kriegs- und dem Brexit-Premier ist jedoch die Ernsthaftigkeit. Churchill begegnete dem britischen Volk in schonungsloser Offenheit, wofür seine „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede vom 13. Mail 1940 zeugt. Johnsons Versprechungen hingegen gehen genau in die andere Richtung: Er verspricht goldene Zeiten, wenn der Brexit vollzogen sei, egal wie.

Unfassbare Überheblichkeit

Hinter seiner Exzentrik und seinem Snobismus steht im Grunde eine unfassbare Überheblichkeit. Schon als Journalist in Brüssel machte Johnson auf sich aufmerksam. Dort fuhr er in einem roten Sportwagen durch die Straßen, trug löchrige Klamotten und formulierte seine Fragen in absichtlich schlechtem Französisch, obwohl er die Sprache dank seiner Schulzeit in Brüssel akzentfrei beherrschte. „Wer ist dieses Monster?“, soll ein französischer Journalist nach einem wortgewaltigen Auftritt des Briten gefragt haben.

Johnson hat deutsche Vorfahren und unter anderem einen türkischen Urgroßvater, der im Osmanischen Reich Minister war. Einmal sagt er sogar, er sei „Türke“. Das hält ihn aber keineswegs davon ab, die deutsche Kanzlerin und den türkischen Staatspräsidenten hart anzugehen. Wie stark seine visionäre Kraft ist, mag dieses Beispiel verdeutlichen: Bereits 2005 düpiert er die chinesische Regierung im Telegraph; verglichen mit dem alten britischen Empire und dem neuen amerikanischen Imperium sei der kulturelle Einfluss Chinas „praktisch null“ – und es sei „unwahrscheinlich, dass er zunehmen“ werde. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo und den anschließenden komplexen Dominoeffekt der Großmächte, die zum Ersten Weltkrieg führten, verkürzt Johnson auf einen einzigen Satz: „Warum musste man ein bisschen Remmidemmi in Sarajevo mit der Invasion Frankreichs beantworten, um Gottes Willen?“

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Redegewaltig und immer auf das Äußerste aus: Johnson im britischen Unterhaus, das er in  staatsstreichartiger Manier in die Ferien schickte.

Seine Sympathie für Trump – beide teilen Impulsivität und Unberechenbarkeit – könnte eine weitere Ähnlichkeit zutage fördern: die Entwicklung ihrer politischen Entscheidungen. Mit Johnson steigt die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten, chaotischen Brexit nahezu auf 100 Prozent. Nach Jahren wütender Attacken gegen das System hat Johnson alle Chancen, seinem Land auch den letzten Schlag zu versetzen.

Es steht extrem viel auf dem Spiel. Mit einem ungeregelten Brexit könnte Großbritannien wirtschaftlich kollabieren, warnen Ökonomen. Zudem steht das Schreckgespenst einer Auferstehung der irischen Einheitsbewegung den Warnern vor Augen. Allein das könnte bewirken, dass von der einstigen Größe des Vereinigten Königreichs nur ein kümmerlicher Rest übrig bleibt.

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