Verfassungsrechtler BertramsCorona-Maßnahmen und Verbote müssen verhältnismäßig sein

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Maßnahmen

Ein Hinweisschild an der Alster. (Symbolbild)

  • In der Corona-Krise hat der Bundestag die Pflicht, die Eingriffe in die Grundrechte der Bürger auf eine deutlich bessere Basis stellen.
  • Um damit Verschwörungsgläubige nicht noch anzustacheln ist es wichtig, diese Prozesse so transparent wie möglich zu gestalten.
  • Michael Bertrams war Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. Er wünscht sich mehr Debatten im Parlament über die Corona-Maßnahmen..

Nicht nur Juristen haben sich in den vergangenen Wochen und Monaten gefragt: Warum hört man in der Corona-Krise nichts vom Deutschen Bundestag, unserem Gesetzgeber, der doch alle für unser Gemeinwesen wesentlichen Entscheidungen zu treffen hat?

Diese berechtigte Frage ist jetzt offenbar auch bei den Mitgliedern des Bundestags selbst, den vom Volk gewählten Abgeordneten, angekommen. Ihre Erkenntnis, dass sie in der Corona-Krise eine maßgebliche Rolle zu spielen hätten, hat allerdings erstaunlich lange auf sich warten lassen. Viel zu lange, wie ich meine.

Parlament muss eingreifen, wenn nötig

Nun aber ist das Parlament „aufgewacht“, und es mehren sich aus seinen Reihen die Stimmen, die mit Nachdruck darauf verweisen, dass die Pandemiebekämpfung nicht allein Sache der Exekutive ist. Der Kampf darf – mit anderen Worten – nicht länger allein der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Ministerpräsidenten der Länder, allen voran dem bayerischen Regierungschef Markus Söder (CSU) und seinem nordrhein-westfälischen Kollegen Armin Laschet (CDU) überlassen werden.

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Der Gastautor

Michael Bertrams, geboren 1947, war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen. Als Kolumnist des „Kölner Stadt-Anzeiger“ schreibt er in seiner Reihe „Alles, was Recht ist“ regelmäßig über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.

Auf die Frage, welche Aufgabe der Bundestag in der sich verschärfenden Pandemie zu erfüllen hat, antworte ich in Übereinstimmung mit Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP): Das Parlament muss als Gesetzgeber tätig werden und Maßnahmen, die massiv in die Grundrechte der davon Betroffenen eingreifen, wie etwa die umstrittenen Beherbergungsverbote oder Reisebeschränkungen, auf eine gesetzliche Grundlage stellen. Vorausgesetzt, die Mehrheit hält solche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung für geeignet, erforderlich und verhältnismäßig.

Transparenz als einzige mögliche Basis

Zu klären ist das mit streitigen Debatten der Abgeordneten im Plenarsaal des Bundestags. Nur so nämlich lässt sich dem Verdacht begegnen, die relevanten Entscheidungen zur Bewältigung der Corona-Krise würden in Hinterzimmern der Regierung ausgekungelt. Allein auf der Basis einer transparenten Entscheidungsfindung kann es gelingen, für schwerwiegende Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger breite Akzeptanz zu finden und Verschwörungstheoretikern den Boden zu entziehen.

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Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) tritt solchen Überlegungen mit dem Hinweis entgegen, der Bundestag habe ja mit dem Infektionsschutzgesetz eine rechtliche Grundlage auf Bundesebene geschaffen, die es den Ländern ermögliche, selbst grundrechtseinschränkende Maßnahmen durch entsprechende Corona-Verordnungen zu beschließen.

Corona-Verordnungen treffen auch die nicht Verantwortlichen

Dieser Hinweis ist insoweit zutreffend, als das Infektionsschutzgesetz in seinen Paragrafen 28 bis 32 die Landesregierungen ermächtigt, durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Der Hinweis lässt jedoch außer acht, dass sich die genannten Ermächtigungen lediglich auf „Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider“ erstrecken. Adressaten entsprechender Verbote und Gebote können also lediglich die ausdrücklich genannte Kreise bereits infizierter oder einer Infektion verdächtiger Personen sein.

Demgegenüber richten sich die Corona-Verordnungen ausnahmslos an alle Bürgerinnen und Bürger in ihrem Geltungsbereich. Sie nehmen folglich Millionen von Menschen in die Pflicht, die nicht zu dem genannten Personenkreis gehören und deshalb – in der Sprache des Rechts der Gefahrenabwehr – als „Nicht-Störer“ zu qualifizieren sind. Die Erstreckung der Verordnungen auch auf diesen Personenkreis ist für die Betroffenen ohne eigene Gefährlichkeit ein besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff, der einer besonderen gesetzlichen Begründung mit präzisen rechtlichen Anforderungen bedarf.

Gerichte haben die Aufgabe, Verhältnismäßigkeit zu sichern

Dem muss der Bundestag nachkommen und den Ländern durch eine hinreichend klare Regelung aller wesentlichen, grundrechtsrelevanten Fragen einen verlässlichen Rahmen für ihre Verordnungen an die Hand geben. Dies ist keine leichte, aber eine notwendige Aufgabe. Denn es geht dabei nicht um Eingriffe in die Freiheitsrechte konkreter Personen, von denen Gefahren für andere ausgehen, sondern um Grundrechtseinschränkungen der gesamten Bevölkerung unabhängig von einer individuellen Gefährlichkeit.

Ohne eine hinreichend präzise Regelung des Gesetzgebers bleibt es die Aufgabe der Gerichte, die Verhältnismäßigkeit grundrechtseinschränkender Maßnahmen zu prüfen und die Bevölkerung im Einzelfall vor verfassungswidrigen Grundrechtseinschränkungen in Schutz zu nehmen.

Die Gerichte haben sich dieser Aufgabe bislang vorbildlich gestellt und die Fahne des Rechtsstaats hochgehalten. Dem sollte die erste Gewalt im Staate, der Gesetzgeber, um nichts nachstehen.

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