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Video zeigt KriegsgefangeneWas passiert mit Soldaten aus Stahlwerk von Mariupol?

Lesezeit 4 Minuten
Durchsuchung ukrainische Soldate

Laut russischem Verteidigungsministerium sollen russische Soldaten zu sehen sein, die ukrainische Soldaten durchsuchen, während diese aus dem Stahlwerk Azovstal evakuiert werden.

Mariupol – Mit teils erhobenen Armen stehen Männer in Militärkleidung vor ihren Gegnern. Andere liegen verletzt auf Tragen, haben Verbände an Armen und Beinen, werden in spezielle Busse zum Abtransport gebracht. Im Hintergrund ist ein Industriegelände zu sehen. Viele der Männer haben lange Bärte, ihre Blicke wirken leer und erschöpft, kaum einer spricht. Das Video - veröffentlicht vom russischen Verteidigungsministerium - soll einige der ukrainischen Kämpfer zeigen, die sich nach wochenlanger Belagerung in der Hafenstadt Mariupol ergeben haben.

In Moskau ist am Dienstag von 265 Kämpfern - darunter 51 Schwerletzten - die Rede, die sich bis vor kurzem im Stahlwerk Azovstal verschanzt und nun ihre Waffen niedergelegt haben sollen. Kiew wiederum spricht von 264 Soldaten, die in die von russischen Truppen besetzte Ortschaft Oleniwka gebracht worden sein sollen. Was nun mit ihnen passiert, bleibt zunächst unklar. Kiew setzt auf einen Austausch gegen russische Kriegsgefangene, Moskau bestätigt das bislang nicht. Auch was mit den im Werk verbliebenen Soldaten passiert, bleibt abzuwarten.

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Mariupol mit seinem Hafen am Asowschen Meer gilt als strategisch wichtig. Sollte Azovstal fallen, könnten Russlands Truppen wohl die Einnahme der Stadt feiern, die einst 400.000 Einwohner zählte. Mithilfe prorussischer Separatisten hatten sie Mariupol bereits kurz nach Kriegsbeginn Anfang März belagert und innerhalb einiger Wochen fast komplett erobert. Nach Angriffen auf ein als Luftschutzbunker dienendes Theater und das Gebäude einer Geburtsklinik wurde die mittlerweile völlig zerstörte Stadt international zum Sinnbild für die Grausamkeit des russischen Angriffskriegs.

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Zugleich wurden die rund 1000 ukrainischen Soldaten, die Schätzungen zufolge weiter in den Bunkeranlagen von Azovstal ausharrten, zu Mariupols letzten Verteidigern. Immer wieder richteten sie dramatische Appelle an die Außenwelt, berichteten von Beschuss und vielen Verletzten, von zur Neige gehenden Medikamenten und Lebensmitteln. Die ukrainischen Truppen, die rund 100 Kilometer weit entfernt sind, hatten keine Möglichkeit, sie zu befreien. Immerhin die letzten Zivilisten, die sich ebenfalls in den Bunkeranlagen von Azovstal versteckt hatten, konnten kürzlich mit internationaler Hilfe gerettet werden.

Soldaten von Mariupol: Selenskyj spricht von „ukrainischen Helden“

„Ukrainische Helden braucht die Ukraine lebendig“, erläutert Präsident Wolodymyr Selenskyj die nun laufende Evakuierungsmission seiner Soldaten, die ein Ergebnis mühsamer Verhandlungen ist. Worte wie „Kapitulation“ und „Gefangenschaft“ vermeidet er. „Dank der Verteidiger von Mariupol haben wir kritisch wichtige Zeit für die Formierung von Reserven, Kräfteumgruppierung und den Erhalt von Hilfe von unseren Partnern erhalten“, betont Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar. Die Verteidiger von Azovstal hätten bis zu 20.000 gegnerische Soldaten gebunden, heißt es vom ukrainischen Generalstab.

In der Ukraine sind die Kämpfer von Mariupol längst zu Volkshelden geworden. Der Rockstar Swjatoslaw Wakartschuk schrieb kürzlich ein Lied zu ihren Ehren und tourt damit nun durch frontnahe Gebiete. Die ukrainische Band Kalush Orchestra beendete ihren Sieger-Auftritt beim Eurovision Song Contest am vergangenen Wochenende mit den Worten „Help Azovstal“ - „Helft Azovstal“.

„Azovstal ist heute eine Festung, ein Symbol, eine Bastion“, heißt es auch im Staatsfernsehen. Dass ein Großteil der letzten Mariupoler Verteidiger dem Nationalgarde-Regiment „Asow“ angehört, in dem auch Rechtsradikale kämpfen, ist für viele Ukrainer in dieser Situation völlig zweitrangig. Für sie sind die Kämpfer zum Sinnbild geworden für den unerwartet starken ukrainischen Widerstand gegen die russischen Besatzer - und zur letzten Hoffnung Mariupols.

In Russland wiederum wird „Asow“ immer wieder als Rechtfertigung für den Krieg gegen die Ukraine herangezogen, der unter anderem die angebliche „Entnazifizierung“ des Nachbarlands zum Ziel haben soll. Und so spricht sich etwa der russische Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin mit genau diesem Argument gegen den von der Ukraine angestrebten Austausch der Azovstal-Kämpfer aus. „Nazi-Verbrecher unterliegen keinem Austausch. Das sind Kriegsverbrecher, und wir müssen alles dafür tun, sie vor Gericht zu bringen“, wettert Wolodin während einer Plenarsitzung. Russlands Militär wiederum äußert sich zunächst nicht zum weiteren Vorgehen.

Und so bleibt nicht nur das Schicksal der noch im Werk verbliebenen ukrainischen Soldaten zunächst ungewiss - sondern auch das der evakuierten. Entgegen allen Beteuerungen aus Moskau, die Gefangenen gut zu behandeln und medizinisch zu versorgen, befürchten einige Beobachter, sie könnten nun Opfer von Misshandlung und Folter werden.

Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann forderte Russland zu einem respektvollen Umgang mit den Gefangenen auf. „Das brauchen sie, und ich hoffe, dass das für den Aggressor Russland an dieser Stelle auch völlig klar ist“, sagte sie in Berlin. „Russland muss sich an die Genfer Konvention zum Schutz der Menschen halten.“ Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch zeigt sich angesichts der geglückten Evakuierung zwar zufrieden darüber, dass Diplomatie etwas bewirken könne. Auch er aber mahnt, Russland sei verpflichtet, die gefangenen Soldaten gut zu behandeln. (dpa)

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