Weibliche GenitalbeschneidungBetroffene bricht Schweigen über grausame Tradition

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Beryl Magoko, Regisseurin des Dokumentarfilms „In Search“

Beryl Magoko, Regisseurin des Dokumentarfilms „In Search“

  • Beryl Magoko verarbeitet in dem Dokumentarfilm „In Search“ ihre Genitalbeschneidung und spricht damit über eine Praxis, die weltweit mehr als 200 Millionen Frauen erlitten.

Ungefähr in der Mitte des Filmes zieht sich Beryl Magoko die Bettdecke über den Kopf, versteckt sich wie ein Kind vor der Gefahr einer Entdeckung. Dabei geht es in „In Search“, wie die Dokumentation heißt, nicht um Spiele oder Späße. Es geht um weibliche Genitalbeschneidung und die Schwierigkeit der Regisseurin, die zugleich die Protagonistin ihres Films ist, darüber zu sprechen.

Vor diesem Versuch des Abtauchens zählt die in Kenia geborene, unter anderem an der Kölner Kunsthochschule für Medien ausgebildete Magoko in sanftem Stakkato auf, in welchem Konflikt sie steckt. „Warum kann ich nicht wie andere afrikanische Frauen sein? Warum kann ich nicht meinen Mund halten und mein Leben wie andere Frauen leben? Ich kann nicht so tun, als gäbe es kein Problem. Es gibt ein Problem, das angesprochen werden muss. Wenn ich schweige, schweigen auch alle anderen. Doch ungeachtet dessen kann ich nicht verhindern, dass ich mich schuldig fühle. Schuldig, wenn ich an den Tag zurückdenke, an dem ich beschnitten wurde.“ Dann kommt die Bettdecke.

Über 200 Millionen Frauen

Die inzwischen 36 Jahre alte, in Bonn wohnende Magoko gehört zu den über 200 Millionen Frauen weltweit, die eine Genitalbeschneidung erlitten. Es ist eine vermutlich seit 5000 Jahren, heute in etwa 30 Ländern Afrikas und Asiens existierende Praxis, deren Ursprung unklar ist. Unter dem Mantel von Religion, kultureller Tradition, als Initiationsritus, Bedingung für Verheiratung, Voraussetzung für Respekt wird Frauen eine Gewalt angetan, die ein Leben lang Kontrolle über ihre Persönlichkeit, Körperlichkeit und Empfindsamkeit ausüben wird.

Als Baby, als Kind oder Jugendliche, ohne Narkose, mit Messern, Rasierklingen, Glasscherben werden Mädchen an ihren äußeren Genitalien beschnitten. Das Ärzteblatt der Bundesärztekammer listet auf mehreren Seiten die gesundheitlichen Komplikationen auf, die „eine lebenslange medizinische Behandlung erfordern“. Auch seelisch sind die Frauen beeinträchtigt, sie haben Ängste, Depressionen, chronische Reizbarkeit, Gefühle von Minderwertigkeit. Die Schmerzen, das Festhalten und Unterdrücken des Fluchtinstinkts während der Beschneidung sowie das ihnen auferlegte Schweigen über dieses Erlebnis machen es zu einer traumatischen Erfahrung. Scham und Schuld begleiten fortan ihr Leben.

Weibliche Genitalbeschneidung (FGM)

Man unterscheidet vier Arten der weiblichen Genitalbeschneidung:

Typ I: das Entfernen der Klitoris.

Typ II: das Entfernen der Klitoris sowie der kleinen und/oder großen Schamlippen.

Typ III – die Verengung der Vaginalöffnung, nachdem Klitoris und Schamlippen entfernt wurden.

Typ IV – andere das Genital schädigende Eingriffe.

In Deutschland ist die Genitalbeschneidung verboten und kann mit bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden. Laut der Hilfsorganisation „Terre des Femmes“ leben in NRW 15 217 betroffene Frauen ab 18 Jahre und 4682 gefährdete Mädchen unter 18 Jahre (Stand: Mai 2020). Die Sterberate ist hoch.

Adressen:

www.agisra.org

www.stop-mutilation.org

www.kutairi.de

Der nächste Runde Tisch NRW findet am 10. März 2021 statt.

Das weiß auch Shewa Sium von der seit 27 Jahren in Köln tätigen Organisation „agisra“ sehr genau. Sie oder eine der anderen 14 pädagogischen oder sozialpädagogischen Mitarbeiterinnen der am Barbarossaplatz ansässigen „Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung“, deren Anfangsbuchstaben den Namen ergeben, würden niemals eine Frau direkt bei der ersten Begegnung auf dieses Thema ansprechen. „Sie kommen wegen anderer Anliegen“, erzählt die vor mehr als 40 Jahren aus Eritrea nach Deutschland geflüchtete Sium. „Sie sagen nicht, ich bin beschnitten. Keine Frau redet so.“

Agisra kümmert sich um „geflüchtete Frauen mit Asylproblemen und mit frauenspezifischen Gewalterfahrungen“. Im Alltag heißt das Probleme beim Aufenthaltsrecht, bei der Wohnungssuche, im Flüchtlingsheim, mit häuslicher Gewalt, Krankheit, Schwangerschaft oder Kindererziehung. In diesem meist längere Zeit in Anspruch nehmenden Beratungsprozess verlieren Sium und ihre Kolleginnen, sofern die Ratsuchende aus einem praktizierenden Land stammt, das Thema Beschneidung nicht aus den Augen und sprechen sie darauf an. Nicht selten wissen die Frauen gar nicht, ob sie beschnitten wurden, was erst eine ärztliche Untersuchung klären kann. Denn in Ländern, in denen bis zu 98 Prozent der Mädchen dies erleiden, ist es einerseits normal und andererseits das Schweigen Teil dieser Praxis.

Beryl Magoko beschreibt in berührenden Szenen das physische Drama einer Beschneidung. Sie filmt sich mit nackten Füßen langsam über einen Fußboden gehend. Sie zieht ein Blatt von einem Baum, reißt es ab, der Zweig schnippt zurück und Schnee fällt zu Boden. Im Interview erzählt die Regisseurin, dass ihr Körper zwar sofort bei der Beschneidung wusste, dass „es nicht richtig war, was geschah“, aber wie alle Mädchen sei sie „mit der Maxime aufgewachsen, sei stark“, was das Verbot zu weinen einschließt. „So unterdrückst du alle Emotionen und der Schmerz macht dich verrückt.“

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Es sei vorgekommen, berichtet Sium, dass Frauen „uns beschimpften, wenn wir mit ihnen über FGM (female genitale mutilation) sprechen wollten“. Aber einige trauten sich, begännen zu sprechen, weinten manchmal über den physischen Schmerz, und nahmen später das Angebot an, einen von Sium angebotenen Workshop zu besuchen. Das Thema ist nie direkt Beschneidung, sondern erst mal Gesundheit, Mädchenerziehung oder Beziehung überhaupt. „Dann komme ich langsam zu dem Thema“, erzählt die zum Lenkungsteam des Vereins gehörende Pädagogin. Viele wüssten nicht, dass die körperlichen Beeinträchtigungen etwa beim Urinieren, bei der Menstruation, bei Sexualität und Geburt ihre Ursache in der Beschneidung haben. Die weibliche Anatomie, die Notwendigkeit gynäkologischer Untersuchungen, Familienplanung – über all dies spricht Sium und auch über die politische Dimension der Beschneidung.

Runder Tisch NRW

Antworten auf diese Fragen bewegen auch Günter Haverkamp. Der ehemalige Journalist organisiert seit 2006 den „Runden Tisch NRW“, eine vom Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung finanzierte, viermal im Jahr, zurzeit per Video stattfindende Informationsveranstaltung für alle, die mit dem Thema FGM beruflich in Berührung kommen. Bisher nahmen fast einhundert Vereine, Arbeitskreise, Organisationen, Beratungszentren, Gesundheitsämter, Ärztekammern, Polizeidienststellen, kirchliche Einrichtungen und andere daran teil.

Zudem initiierte Haverkamp das Bildungsportal Kutairi – Kisuaheli für Beschneidung –, das umfangreiche Informationen zu FGM bereitstellt. Die jahrtausendealte Praxis weiblicher Genitalbeschneidung ist für Haverkamp Ausdruck destruktiven Handelns. „Männer dachten darüber nach, wie sie Frauen entkräften, ihnen Energie absaugen können.“ Aber „Veränderung ist erst dann möglich, wenn kein Hunger herrscht, sondern Bildung erworben werden kann und das Leben vernünftig, in Frieden läuft“. Afrikanische Länder seien lange Kolonien gewesen und noch heute „holen wir aus Afrika alles raus, was wir rausholen können und geben nicht adäquat etwas zurück. Wir halten den Kontinent konsequent arm.“

Günter Haverkamps Büro in Düsseldorf liegt unweit von „stop mutilation“ (Stopp Beschneidung), dem von Jawahir Cumar gegründeten und als Geschäftsführerin geleiteten Verein, mit dem sich die gebürtige Somalierin seit 1996 gegen weibliche Genitalbeschneidung engagiert. Auch ihre Tätigkeit umfasst Beratung, Begleitung zu Ärzten, Anwaltssuche sowie Einzel- und Gruppengespräche. Sie erstellt zudem umfangreiche Informationsbroschüren für Betroffene, für Mediziner, Pädagogen, Juristen und Polizisten.

Manchmal ist ihre Hilfe ganz handfest. „Der familiäre Druck“, erzählt die 44-jährige Cumar „ist enorm“. Die Großmütter ihrer Klientinnen drängten, deren Töchter beschneiden zu lassen. Sie sprächen wiederholt auf den Anrufbeantworter, fluchten, prophezeiten Schlimmes, wenn sich die Frauen widersetzten. „Das ist sehr schwer auszuhalten“, sagt Cumar. Dagegen helfen nur ein Wechsel der Telefonnummer und manchmal sogar ein Kontaktabbruch zur Familie. Keinesfalls könnten diese Frauen ihre Töchter mit auf eine Reise in die Heimat nehmen.

„Tabumauer“ aus Angst

Günter Haverkamp spricht von einer „Tabumauer“, die sehr dick sei und aus Tradition und Angst vor der Familie bestünde. Und Beryl Magoko sagt: „Ich hatte den Mut, meine Story mit der ganzen Welt zu teilen“. Denn „nicht darüber zu sprechen, ist, als wäre es nicht da“. Sie möchte mit ihrem Film, der in bewegenden Momenten von der Schwierigkeit eines Tabubruchs erzählt, andere Frauen ermutigen. Fünf Jahre hat die Arbeit daran gedauert, außer in Deutschland wurde er weltweit in 25 Ländern gezeigt.

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