„Gefühlsstark“Dauernd Wut, Tränen, Trotz – wie Eltern ihren Kindern helfen können

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Für gefühlsstarke Kinder sind auch vermeintliche Kleinigkeiten ein großes Drama. 

  • Manche Kinder sind von äußeren Reizen überfordert und kommen mit ihren Gefühlen nicht zurecht.
  • Früher nannte man solche Kinder dickköpfig, träumerisch, bockig und wild.
  • Alles halb so wild, sagt die Autorin Nora Imlau und hat Tipps für den richtigen Umgang mit ihnen.

Köln – Kennen Sie das Gefühl? Sie nehmen am Rückbildungskurs teil und versuchen, sich auf die Übung zu konzentrieren, aber leider ist Ihr Baby das einzige in der Runde, das nicht friedlich auf der Decke liegen bleibt und mit seinen Füßen spielt. Es sitzt auch niemals ruhig im Kinderwagen, sondern protestiert entweder schreiend oder lässt sich kopfüber an der Seite heraushängen.

Wenn es schon größer ist, stellt es sich auf jeden Fall hin. Brei verachtet das Baby, es will am liebsten immerzu gestillt werden. Ist es groß genug für den Kindergarten, möchte es dort nicht bleiben. Beim Spielen gibt es oft Streit. Auch im Grundschulalter kann es noch nicht alleine einschlafen und braucht extrem viel Körperkontakt. Tagsüber ist es wild und kann kaum stillsitzen. Läuft etwas nicht nach seiner Vorstellung, wird es schnell wütend. Früher nannte man solche Kinder dickköpfig, träumerisch, bockig und wild.

Es liegt nicht an Ihnen: Die Kinder werden so geboren

Wenn Sie so ein Kind zuhause haben, werden Sie oft denken: „Alle anderen Kinder sind einfacher als meins. Was ist denn da los?“ Alles halb so wild, sagt die Autorin Nora Imlau, das geht vielen anderen Eltern auch so. In ihrem Buch „So viel Freude, so viel Wut. Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten“ schreibt sie, dass sogenannte gefühlsstarke Kinder nicht unnormal oder therapiebedürftig seien, sondern einfach nur ein bisschen anders als andere Kinder.

Sie sind Imlau zufolge überdurchschnittlich offen für alle Eindrücke, können Abweichungen von Routinen kaum aushalten, haben scheinbar niemals endende Energie, brauchen besonders viel Rückversicherung von den Eltern, sind eher pessimistisch und erleben alle Gefühle intensiver als andere, daher die Bezeichnung „gefühlsstark“. Außerdem fühlen sie sich schnell eingeengt, sei es von zu engen Klamotten oder von zu wenig Autonomie. Äußere Reize können sie kaum filtern.

Bei überempfindlichen Kindern ist das Gehirn anders aufgebaut

Für Eltern ist es wichtig zu verstehen, dass gefühlsstarke Kinder nicht falsch erzogen, sondern so geboren werden. Laut Nora Imlau kommt jedes siebte Kind mit dieser besonderen Spielart der Persönlichkeitsentwicklung zur Welt. Imlau erklärt die Überempfindlichkeit der Kinder mit einem veränderten Aufbau des Gehirns: Die Amygdala, auch Emotionszentrum genannt, sei bei gefühlsstarken Kindern besonders empfindlich. Schon bei verhältnismäßig wenig Stress gebe sie das Signal an das Stammhirn, in den Notfallmodus zu schalten. Das Level der Stresshormone Cortisol und Norepinephrin im Blut sei zudem permanent erhöht.  Deshalb reagierten gefühlsstarke Kinder aus Sicht der Eltern oft über.

Zugleich Freiheit und feste Strukturen bieten

Wie geht man in der Familie damit um? Für Imlau ist es am wichtigsten, das besondere Temperament der Kinder wirklich zu verstehen und sich Strategien anzueignen, die dabei helfen, auch in schwierigen Situationen die Nerven zu behalten. Kinder sollten in extremen Momenten nie mit ihrem Schmerz, ihrer Angst oder ihrer Wut alleine gelassen werden. Eltern müssten ihnen unbedingt dabei helfen, ihre Emotionen zu regulieren und wieder ruhig zu werden. Das wird nicht immer gelingen, weil Eltern auch Gefühle haben. Wenn sie diese Grundsätze im Kopf behalten, tun sie auf jeden Fall das Richtige: Gefühlsstarke Kinder brauchen zugleich Freiheit und feste Strukturen. Sie leiden sehr unter dem Eindruck von Fremdbestimmung, gleichzeitig sehnen sie sich nach einem festen Rahmen, der ihnen Orientierung bietet. Die große Kunst für Eltern ist es, je nach Alter so viel Freiheit wie möglich zu gewähren und so viel Schutz und Halt wie nötig zu bieten.

Wie reagiere ich richtig? Sechs typische Herausforderungen im Alltag:

Bist du eigentlich niemals müde?

Der Abend kann für Eltern gefühlsstarker Kinder zum letzten Kraftakt des Tages werden. Ihre Kinder finden so gut wie nie selbst in den Schlaf. Sie benötigen zum Einschlafen sehr viel Körperkontakt und wühlen dann noch sehr lange im Bett herum.

Was hilft? Akzeptieren, dass der Schlafbedarf gefühlsstarker Kinder niedriger ist als bei anderen Kindern. Wenn Kinder noch Mittagsschlaf machen, sind sie abends vielleicht einfach noch nicht müde genug. Es kann helfen, das Kind selbst bestimmen zu lassen, wann es ins Bett geht. Es kann dann nach dem Abendessen schon einen Schlafanzug anziehen und Zähne putzen, dann aber noch ein wenig im Wohnzimmer bleiben. Das funktioniert aber nur, wenn das Kind spürt, dass es müde ist und das vor allem auch zugibt. Wenn das Kind das noch nicht schafft, hilft eine feste Bettgehzeit ohne Druck, jetzt unbedingt schlafen zu müssen. Eltern können Kindern erlauben, im Bett noch zu lesen oder ein Hörspiel zu hören, um zur Ruhe zu kommen, aber nicht mehr aktiv zu spielen. Oft schlafen gefühlsstarke Kinder leichter ein, wenn sie nicht das Gefühl haben, dass sie müssen. Wichtig ist auch, die Erlebnisse und Gefühle des Tages zu sortieren und zu besprechen. Eltern sollten zuhören, ohne zu bewerten und die Gefühle des Kindes nicht kleinreden.

Wie kann Essen nur so ein Kampf sein?

Gefühlsstarke Babys wollen gefühlt immerzu gestillt werden. Das kann für die Mütter eine große Belastung werden. Auch fangen sie meist später als andere Kinder an, richtig zu essen und sind sehr wählerisch.

Was hilft? Eltern sollten das Essverhalten ihrer Kinder akzeptieren, sie zu nichts zwingen und so entspannt wie möglich bleiben. Wenn sie sich Sorgen um die Gesundheit ihres Kindes machen, kann ein Blutbild beim Arzt Auskunft geben.

Nun zieh' dich schon an!

Gefühlsstarke Kinder erleben körperliche Sinneswahrnehmungen besonders intensiv, deshalb kann jedes Stück Stoff auf ihrer Haut zum Problem werden. Schließlich kann Kleidung kratzen, einengen, zu locker, zu warm oder zu kalt sein und das Kind damit regelrecht in den Wahnsinn treiben.

Was hilft? Eltern sollten die Kleiderfrage nicht als täglichen Machtkampf, sondern als echtes Problem für die Kinder betrachten. Das Kind sollte deshalb dabei helfen, die richtige Kleidung auszusuchen. Haben Sie einmal ein angenehmes Kleidungsstück gefunden, kaufen Sie es am besten gleich mehrmals.

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Abschied, Trennung, Neuanfang

Übergänge stellen für gefühlsstarke Kinder oft eine besonders große Herausforderung dar. Das können auch Kleinigkeiten wie das An- und Ausschalten des Fernsehers oder der Wechsel des Stockwerks sein. Gefühlsstarke Kinder haben ein Problem damit, wenn sich alle Sinneseindrücke auf einmal verändern. Deshalb sollte man für Wechselsituationen unbedingt mehr Zeit einplanen.

Was hilft? Eltern sollten Kindern in dieser Situation nicht spiegeln, dass sie anstrengend und zeitraubend sind, sondern ihre Leistung im Umgang mit den Wechseln anzuerkennen, indem sie etwa sagen: „Ich weiß, dass es schwierig für dich ist, jetzt im Kindergarten zu bleiben und mich gehen zu lassen. Toll, dass du es trotzdem schaffst.“ Oft sind solche Botschaften für die Kinder schon eine enorme Erleichterung. Hilfreich ist auch eine klare Tagesroutine, an der sich die Kinder orientieren können. Bei größeren Veränderungen hilft eine Planung bis ins Detail: Wann wird was passieren? Wann machen wir was? So weiß das Kind immer, was es zu erwarten hat. Außerdem sollte man gefühlsstarken Kindern fünf bis zehn Minuten vor einem Übergang ankündigen, was als Nächstes passiert. Sie benötigen auf jeden Fall genug Zeit, um ihre aktuelle Beschäftigung bewusst zu beenden.   

So findet man aber keine Freunde!

Gefühlsstarke Kinder können großartige Spielkameraden sein, weil sie begeisterungsfähig, ausdauernd und witzig sind. Da sie gleichzeitig auch oft sehr festgelegt, aufbrausend und wild sind, stoßen sie aber auch immer wieder auf Gegenwind. Oft halten Erzieher und Lehrer sie für besonders robust und meinen, dass ihnen Zurechtweisungen nichts ausmachen. Dabei sind sie in Wirklichkeit besonders sensibel.

Was hilft? Das wirksamste Mittel gegen Wutanfälle und Tränen ist Planbarkeit, Berechenbarkeit und Vorbereitung. In berechenbaren, klar umrissenen Settings tun sich gefühlsstarke Kinder verhältnismäßig leicht. Soziale Situationen, die dem Kind schwer fallen könnten wie Übernachtungspartys oder Feste, sollten Eltern vorher gemeinsam mit ihrem Kind gedanklich durchspielen und mögliche Probleme besprechen.

Jetzt hör' mir doch mal zu!

Gefühlsstarke Kindern sind oft von äußeren Eindrücken so überreizt, dass sie alles weitere ausblenden. Oft reagieren sie nicht mehr auf eine leise, freundliche Ansage, sondern brauchen stärkere Reize.

Was hilft? Um die Aufmerksamkeit des Kindes zu gewinnen, helfen eine freundliche Berührung, Blickkontakt und eine positive Ansprache mit klarer Botschaft. Langen Erklärungen können gefühlsstarke Kinder nicht so gut folgen. Statt zu fragen: „Wollen wir dich jetzt langsam mal bettfertig machen?“ sagen Sie besser „Jetzt ist Schlafenszeit.“ Die rhetorische Frage stellt das Kind vor eine Wahl, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Wird sein mögliches Nein nicht respektiert, ist das Kind enttäuscht. Vermeiden sollten Sie auch negative Konstruktionen, das Wort „nicht“ überhören Kinder gerne. Statt: „Nicht in die Mehlschüssel fassen!“ sagen Sie lieber „Halte bitte die Schüssel fest“.

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