Bonner Humangenetikerin„Jede Zeitung sollte jemanden mit Down-Syndrom im Team haben“

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Bei Ohrenkuss schreiben nur Menschen mit einer Trisomie 21. Eine von ihnen ist  Natalie Dedreux. Vor einigen Jahren traf sie Angela Merkel für ein längeres Gespräch.

Bei Ohrenkuss schreiben nur Menschen mit einer Trisomie 21. Eine von ihnen ist  Natalie Dedreux. Vor einigen Jahren traf sie Angela Merkel für ein längeres Gespräch.

Sie sind Humangenetikerin, engagieren sich aber seit 22 Jahren mit dem Kulturmagazin „Ohrenkuss“ für Menschen mit Trisomie 21. Katja de Bragança: Das Wort engagieren ist falsch. Ich arbeite als Chefredakteurin bei Ohrenkuss. Wir sind eigentlich eine ganz normale Redaktion. Ich will niemandem helfen. Gucken Sie sich die Menschen an, die bei uns arbeiten, Frau Dedreux zum Beispiel, der muss man nicht helfen. Es ist einfach bereichernd mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Würden sie auch andere Redaktionen empfehlen, Menschen mit einer Trisomie 21 zu beschäftigen? Auf jeden Fall. Menschen mit Down-Syndrom haben eine sehr spezielle Art, Texte zu verfassen. Sie verstehen manche Dinge anders, entdecken Details, die für andere im Dunkeln bleiben. Unsere aktuelle Ausgabe beschäftigt sich zum Beispiel  mit dem Thema Natur. Es ist faszinierend, welchen gänzlich unkonventionellen Blick man auf Naturphänomene wie Igelbabys, Regenbogen oder Krabben haben kann. Unter unseren Abonnenten sind viele Germanisten und Menschen, die mit Sprache zu tun haben. Jede Zeitung sollte jemanden mit einer Trisomie 21 im Team haben, finde ich.

Was macht die Zusammenarbeit noch besonders? Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind unglaublich wissbegierig und neugierig. Ihre Konzentrationsfähigkeit und die Art, die Welt mit andern Augen zu sehen, haben mich unglaublich bereichert. Dieses Aufs-Detail-gucken ist ansteckend. Der Nörgelfaktor ist sehr gering, alle sind die totalen Teamplayer, gut drauf, pünktlich, zuverlässig. Wenn ich sage, dass der Text am Freitag da sein muss, dann schicken alle ihren Text am Freitag. Sowas wie „Entschuldigung, hab ich vergessen“, gibt es nicht.

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KatjadeBraganca

Katja de Bragança ist Chefredakteurin von Ohrenkuss.

Machen Sie sich Sorgen, dass es wegen des Bluttests künftig kaum noch Kinder mit Down-Syndrom geben wird? Ja, ich mache mir Sorgen. Nicht allein wegen des Bluttests, natürlich. Aber es ist schon ein schlimmes Signal, wenn die Kassen das finanzieren. Gucken Sie mal in die Länder, in denen hauptsächlich Mädchen abgetrieben werden. Stellen Sie sich vor, dort würde die Krankenkasse es bezahlen, dass man das vorher rausfinden kann, damit man die Mädchen bewusst selektiert. Das würden wir verstörend finden. Warum nicht, wenn es um Menschen mit Down-Syndrom geht?

Haben Sie Verständnis dafür, wenn Frauen sich gegen das Austragen eines Kindes mit Trisomie 21 entscheiden? Ja. Das ist eine individuelle Entscheidung, die jeder für sich treffen darf. Was mich aber stört ist, dass Frauenärztinnen und Frauenärzte das häufig nicht ergebnisoffen an die Schwangeren weitergeben. Diese Erstmitteilung lässt wirklich zu wünschen übrig. Es wird ein völlig überholtes und eindimensionales Bild von Menschen mit einer Trisomie 21 mitgeteilt. Da wird nicht erklärt, da werden die vielen Möglichkeiten nicht dargelegt. Häufig schwingt ganz klar die Aussage mit, dass dieser Mensch eigentlich wertlos ist. Mit guter Assistenz  können Leute mit einer Trisomie 21 aber ein gutes Leben führen.

Was würde weiterhelfen? Kontakt. Beziehungen. Aufklärung. Die meisten Menschen kennen niemanden, der das Down-Syndrom hat. Dabei können sie eine Lebensbereicherung sein. Wenn zum Beispiel Frauenärzte unser Magazin „Ohrenkuss“ auslegen würden, könnten  Frauen darin blättern und sich ein eigenes Bild machen. Und sehen: Das sind keine Opfer. Die sind auch cool.

Dennoch müssen Eltern auch wissen, dass Kinder mit einer Trisomie 21 mehr Unterstützung brauchen als andere. Natürlich. Da sind wir wieder beim Thema Assistenz. Das muss gut geregelt sein. Und da muss auch noch mehr passieren. Ein Mensch  mit Trisomie 21 braucht vielleicht Hilfe, um sich eine Fahrkarte für die Bahn zu ziehen. Oder beim Rechnen, weil es für viele schwer ist, eine Summe zu überblicken und sich im Zahlenraum zurechtzufinden. Aber nun. Ich zum Beispiel brauche Hilfe, wenn ich einen neuen Computer habe und alles installieren muss. Ein Mensch, der Rot-Grün-blind ist, braucht eine Farbberatung beim Einkaufen. Das ist doch völlig in Ordnung.

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Dann soll eben jeder die Unterstützung bekommen, die er braucht, um an unserer Gesellschaft teilzuhaben. Was ist Inklusion anderes als zu sagen: Wir wollen ein gutes Leben für alle. Und: Was braucht der andere, um ein gutes Leben zu haben? Ich einen Computerfachmann, meine Kollegen einen Assistenten zum Fahrkartekaufen. Es kann ja nicht angehen, dass wir sagen: Wenn du nicht alles alleine schaffst, in dem Beruf, in dem du sein willst, bist du halt nur zum Schraubensortieren zu gebrauchen. Das wäre doch Verschwendung von Talenten.

Was können Menschen mit Trisomie 21 alles erreichen, wenn man ihre Talente entsprchend fördert? Sehr viel. Denken Sie an das australische Model Madeline Stuart, an den deutschen Schauspieler Sebastian Urbanski, der heute im Vorstand der Lebenshilfe sitzt. Aus Spanien ist der Lehrer Pablo Pineda bekannt, der erste Europäer mit Down-Syndrom mit einem Uni-Abschluss. Aber das klingt jetzt sehr nach Leistungs-Gesellschaft. Man braucht keinen Uni-Abschluss, um ein gutes Leben zu führen. Eine Firma, die einen guten und charmanten Hausmeister mit Down-Syndrom hat, hat Glück!

Werden wir in einigen Jahren über die Teilhabe von Menschen mit Trisomie 21 so sprechen wie früher über die Teilhabe von Frauen oder Migranten? Weil wir dann erkannt haben werden, dass uns Vielfalt  beim Lösen komplexer werdender Probleme nur nützen kann? Das würde ich mir zumindest wünschen. Ich habe mal einen jungen Mann mit Trisomie 21 auf einem Politikkongress kennengelernt, dessen Wunsch war es, Bundespräsident zu werden. Und in der Tat dachte ich: Dieser Mann kann systemisch denken, er ist klug, einfühlsam und eloquent, er schließt Menschen mit Problemen nicht aus und sieht im Anzug gut aus. Er wäre sicher ein wunderbarer Bundespräsident.  In so einer Welt möchte ich leben!

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