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Eine Pflegemutter berichtetKinder müssen viel aushalten, bis das Jugendamt eingreift

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Die Not ist gewachsen. Kinder müssten heute deutlich mehr aushalten, bis das Jugendamt eingreift, berichtet Pflegemutter Vera Pein (Symbolbild). 

  • Manche Kinder wachsen in schwierigen Verhältnissen auf und können nicht in ihren Familien bleiben. Wenn das Jugendamt eingreift, kommen sie meist in Pflegefamilien.
  • Vera Pein ist seit Jahrzehnten als Pflegemutter im Einsatz. Für 60 Kinder hat sie über die Jahre ein liebevolles Zuhause und ein sicheres Umfeld geschaffen.
  • In ihrem Buch „60 mal Mama" hat sie ihre Erfahrungen niedergeschrieben. Was es bedeutet, sein Leben mit fremden mitunter schwer traumatisierten Kindern zu teilen.

München – Bei weitem nicht jedem kleinen Menschen ist eine glückliche Kindheit vergönnt. Manchmal können seine Eltern nur zeitweise nicht gut für ihn sorgen, mitunter sind sie dazu nie in der Lage. In Deutschland springen in solchen Fällen oft Pflegefamilien ein. Was es bedeutet, sein Leben mit einem fremden, mitunter schwer traumatisierten Kind zu teilen, schildert Vera Pein im Buch „60 mal Mama“ ebenso liebevoll wie sachlich und anrührend. 

Pflegemutter von 60 Kindern

An ihrem 60. Geburtstag seien viele „ihrer“ Kinder zu Besuch gewesen, erzählt Pein zu Beginn. Ziemlich eng sei es da geworden und ihre beste Freundin habe sie auf einmal gefragt, wie viele Kinder es denn nun eigentlich gewesen seien bisher. Da habe sie verblüfft festgestellt: Es waren so viele Kinder wie ihr Leben nun Jahre zählte, denen sie ins Leben helfen durfte“.

Immer wieder macht Vera Pein ihre Einstellung deutlich: So wie zwischen Pflastersteinen Blumen und gar Bäume zu wachsen vermögen, so könne selbst ein älteres Kind nach schlechten Erlebnissen noch Wurzeln bilden und sich zum Licht strecken. Es sei viel schwieriger und auch anstrengend nachzuholen, was zur rechten Zeit versäumt worden sei, aber es sei möglich, „sogar im Erwachsenenalter“.

Die ältesten ihrer Kinder habe sie in der Pubertät kennengelernt, viele im Vorschulalter, manche seien bis zur Volljährigkeit und darüber hinaus geblieben. „Egal, wer da vor der Tür steht, welchen Rucksack an Problemen das Kind mitbringt, wie viel Kummer und Tränen in dem Menschlein stecken - es ist mir eine Freude, dass es da ist.“ Sie freue sich über die Chance, diesem Kind zu zeige, dass das Leben auch schön sein kann.

Kinder müssen heute deutlich mehr aushalten

Ihr Erfahrung sei, dass Kinder Konstanz und Verlässlichkeit brauchen - „Werte, an denen es immer mehr mangelt“. Bei ihr landeten stets die schlimmsten Fälle, erklärt Pein. „Leider muss ich feststellen, dass die Interpretation des Wortes „schlimm" sich drastisch verändert hat.“ Kinder müssten heute deutlich mehr aushalten als vor zehn, zwanzig Jahren, bis das Jugendamt eingreift. „Pflegekinder, die ich seinerzeit aufpäppelte, würden heute oft ihren Familien belassen werden.“ Es sei so wie mit der Schadstoffbelastung: Anstatt den Missstand zu beseitigen würden die Grenzwerte erhöht.

„Wenn ich Bundeskanzlerin wäre oder etwas zu sagen hätte, würde ich die Jugendhilfe besser ausstatten mit viel mehr Anlaufstellen und Personal“, so Pein. „Denn Kinder sind unsere Zukunft, und wenn wir heute sparen, werden wir das morgen bezahlen müssen, weil Kinder, die keine Wurzeln ausbilden konnten, oft lebenslang am Tropf von Vater Staat hängen.“

Vera Pein beschreibt, wie ihr erstes Pflegekind - Larissa - zu ihr kam. „Die sieben Wochen mit Larissa waren für mich der Grundstein meiner Pflegemutterschaft: Ich spürte ein tiefes Ja in mir.“ Sie erzählt von schwer vernachlässigten, regelrecht verwilderten Kindern, durch Missbrauch schwerst traumatisierten und solchen, die sich tot stellen, um nicht wieder geschlagen zu werden.

„Kinder geben sich oft die Schuld, wenn Erwachsene ihnen wehtun“

Selbst schlimm misshandelte Kinder träumten noch davon, dass daheim alles gut werden würde. „Wenn sie sich mehr anstrengten. Wenn sie braver würden. Denn es lag doch an ihnen“, so Pein. „Kinder geben sich oft die Schuld, wenn Erwachsene ihnen wehtun.“

Als Pflegemutter habe sie viele Menschen kennengelernt, um die sie normalerweise wohl einen Bogen gemacht hätte: süchtige, psychisch Kranke, Menschen am Rande der Gesellschaft. „Menschen, die sich als ganz anders erwiesen, als ich es mit manchen Vorurteilen vermutet hatte.“

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Geld verdiene man als Pflegemutter nicht viel, macht Pein auch deutlich. Immer wieder sei es ihr nur mit Hilfe lieber Freunde und Nachbarn gelungen, zusätzliche Ausgaben wie größere Reparaturen zu stemmen. Pflegemutter zu sein, sei zudem oft mit Ohnmacht verbunden, wenn das Amt entscheide, ein Kind könne nun zurück zu seinen Eltern. „Eine Pflegemutter soll den Kindern die Mutter ersetzen, ohne an Mutterstelle zu treten. Sie soll Bindung aufbauen und sie hopplahopp lösen können, wenn sich die Umstände ändern.“

„Kinder brauchen ein behütetes Nest"

Pein sieht die Entwicklung der Gesellschaft in den vergangenen Jahren kritisch. Es gebe inzwischen viel mehr alleinerziehende Mütter, die sich zwischen Kindern und Beruf aufrieben. Generell seien Familien finanziell stärker belastet - in Städten wie München komme man oft nur noch mit zwei Einkommen zurecht, allein schon die Miete verschlinge vielfach einen Großteil davon. Um die Existenz zu sichern, müssten Kinder immer früher in die Krippe. All das schade Familien. „Kinder brauchen ein behütetes Nest. Sie gedeihen in stabilen Beziehungen mit konstanten Bezugspersonen, deren Herzen und Ohren offen sind für ihre Bedürfnisse. Eltern, die überlastet von ihrem Alltag sind, können das nicht leisten.“

„Ich bin überzeugt davon, dass Kinder mehr von unserem Verhalten lernen als von unseren Worten“, so Pein. „Wir können ihnen hundertmal erklären, wie sich ein höflicher Mensch zu benehmen hat. Wenn wir ihnen selbst ein Vorbild sind, fällt alles leichter. Was man von den Kindern verlangt, muss man vorleben.“

„60 mal Mama“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine liebevollen, verlässlichen und fürsorglichen Umgang mit Kinderseelen. Es macht deutlich, was für Kämpfernaturen gute Pflegeeltern sind und was für einen unglaublich bedeutsamen Beitrag sie für viele Leben leisten, die sonst verloren wären und die so doch noch eine glücklichere Wendung nehmen. Ein fesselndes, ergreifendes Buch, unbedingt zu empfehlen. (dpa/fwt)

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