Abo

Erziehen ohne SchimpfenWie Eltern gelassen bleiben, statt ihre Kinder anzuschreien

Lesezeit 9 Minuten
Neuer Inhalt

Erziehen ohne Schimpfen geht, Eltern müssen aber an den Stolperfallen im Alltag arbeiten.

  • Nicola Schmidt ist überzeugt: „Wenn ich meine Kinder anschreie, habe ich zwei Stunden vorher den Fehler gemacht“.
  • Sie hat ein Buch darüber geschrieben, wie Erziehen ohne Schimpfen funktionieren kann.
  • Im Interview verrät sie die wichtigsten Regeln.

Köln – Gerade im Alltag ist es mit Kindern oft stressig. Immer wieder gibt es Streit beim Zähneputzen oder Anziehen. Obwohl sie sich fest vorgenommen haben, ruhig zu bleiben, schimpfen viele Eltern dann mit ihren Kindern. Sie glauben, dass es anders nicht funktioniert. Nicola Schmidt hat ein Buch darüber geschrieben, warum Schimpfen nicht funktioniert und wie wir es uns einfacher machen können. Im Interview spricht Nicola Schmidt über die größten Stolperfallen und wie wir sie umgehen können, um ein entspannteres Familienleben zu führen.

Frau Schmidt, warum rasten Eltern überhaupt aus?

Nicola Schmidt: In der Regel rasten Eltern dann aus, wenn sie selbst dysreguliert sind also in einen Stresstunnel geraten, in dem sie ihre eigenen Emotionen nicht mehr regulieren können. Wann jemand in diese Dysregulation kommt, ist unterschiedlich. Das können Zeitdruck, ein „freches“ Kind, Schlafmangel oder Hunger sein. Manchmal kommt auch alles zusammen. Wir rasten dann aus, weil unser Gehirn einen Stressimpuls sendet, den wir nicht mehr abfangen können.

Lassen Eltern ihren Stress an ihren Kindern schneller aus als an anderen Erwachsenen? Schmidt: Man lässt Stress generell eher an Menschen aus, die einem nahe sind. Der Partner kriegt es ja auch gerne mal ab und die Kinder auch. Sie sind immer da. Bei ihnen haben wir zudem am wenigsten Angst, dass wir sie verlieren, wenn wir uns dysreguliert zeigen. 

Wenn der Stress Auslöser für unser Schimpfen ist: Wie können wir ihn in Schach halten? Schmidt: Eltern können zunächst schauen, WANN sie ausrasten. Oft gibt es immer wiederkehrende Muster, zum Beispiel immer morgens, wenn alle los müssen, abends, wenn alle müde sind, oder kurz bevor Besuch kommt. Wir schauen also nicht nur auf die Situation, in der wir ausrasten, sondern darauf, was vorher passiert. Wenn ich anfange, meine Kinder anzuschreien, habe ich in der Regel zwei Stunden vorher den Fehler gemacht. Ich bin schon zwei Stunden vorher im gelben oder roten Bereich gewesen und jetzt reicht es wirklich, jetzt kann ich wirklich nicht mehr. Ich hätte also vor zwei Stunden schon sagen müssen: „Stopp, ich brauche jetzt eine Pause, sonst flippe ich nachher aus.“ 

Wir müssen uns also bewusster machen, wie wir selbst reagieren? Schmidt: Genau. Vor allem müssen wir uns bewusster machen, wie wir uns fühlen und wie es uns gerade geht. Wie oft fragen wir uns am Tag: „Wie geht es mir? Was brauche ich gerade?“ Wenn wir das öfter machen, schärft sich unsere Wahrnehmung. Außerdem sollten wir mehr auf die Kinder achten. Wenn wir erkennen, dass der Dreijährige einen knackigen Tag hinter sich hatte, sollten wir besser nicht noch um 17 Uhr mit ihm einkaufen gehen. 

Eltern denken aber häufig, dass sie keine Zeit haben, um sich um sich selbst und ihre Bedürfnisse zu kümmern. Wie soll man das also machen? Schmidt: Nehmen Sie sich ein paar Mal am Tag 20 Sekunden, um sich bewusst zu machen, wie Sie sich fühlen. Fragen Sie sich das zum Beispiel jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, wenn Sie durch einen Türrahmen gehen oder sich die Hände waschen. 20 Sekunde – die haben wir alle! 

Wir sind oft in einem Stresstunnel gefangen, in dem wir auf Autopilot laufen. Dann laufen auch unsere Muster automatisch ab, die wir mit uns tragen und die nicht immer hilfreich sind. Sie müssen aus diesem Autopilotmodus zurück in einen achtsamen Modus kommen. Das muss man üben. Jeden Tag ein bisschen. Plötzlich werden die Muster viel klarer.

Natürlich gibt es auch ganz praktische Tipps, die das Zusammenleben einfacher machen: Wie organisiert man Losgehen? Wie bringt man Kindern Aufräumen und Anziehen bei? Wie organisiert man den Abendablauf? Ganz konkrete Ideen dafür gibt es im Buch.

Stichwort Perfektionsanspruch: In Ihrem Buch geht es auch darum, dass man Erziehung alleine eigentlich gar nicht stemmen kann. Schmidt: Ja, wir scheitern oft an unseren eigenen Perfektionsansprüchen, die so gar nicht sein müssen. Der alte Spruch „Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen“ stimmt. Mir ist wichtig, dass Eltern einfach klar ist: Alleine mit zwei Kindern in einer Dreizimmerwohnung, das würde man als Zoodirektor niemals machen. Viel zu gefährlich, nicht artgerecht. Es ist sowieso eine ungewöhnliche Situation, deshalb dürfen wir auch nicht so streng mit uns sein. Wir können lernen, Fünfe gerade sein zu lassen. 

Wie kann man es noch schaffen, sich zu entlasten? Muss man um Hilfe bitten?

Schmidt: Definitiv. Wir können um Hilfe fragen und Dinge mehr gemeinsam mit anderen Eltern und Freunden tun. Wir können versuchen, unser Leben ein bisschen zu entstressen und unsere Ansprüche ein bisschen herunter zu schrauben. In der Rushhour des Lebens, also zwischen 30 und 40, müssen ja vielleicht nicht Kinder, Hausbau, Karriere, Yogalehrerausbildung und vegane Ernährungsumstellung gleichzeitig sein. 

Mehr Informationen

Nicola Schmidt schreibt über bedürfnisorientiertes Elternsein und hat das „artgerecht“-Projekt gegründet, das Elternkurse und –treffen anbietet.

https://www.nicolaschmidt.de https://www.artgerecht-projekt.de

Kommen wir mal zum Schimpfen an sich. Am besten soll man das natürlich gar nicht machen. Aber wenn es doch passiert, was ist das absolute No-Go? Schmidt: Alles, was die Persönlichkeit des Kindes verletzt, geht gar nicht. Deshalb empfehle ich Eltern: „Gewöhnt Euch ab, Du zu sagen. Kein: Du bist, Du machst oder Du bist schuld.“ Das schlimmste, was sie sagen können, ist: „Du bist schuld.“ Kinder gehen sowieso davon aus, dass sie an allem schuld sind. Wenn wir ausgeflippt sind und etwas gesagt haben, das wir nicht hätten sagen sollen, sollten wir sagen: „Es tut mir leid. Ich war außer mir. Das ist nicht so, wie ich gesagt habe. Ich möchte, dass du das weißt.“ 

Verstehen Kinder das? Schmidt: Es ist zumindest wichtig, dass sie es hören. Wenn wir unsere Kinder anschreien, gehen sie davon aus, dass sie das verdient haben. Es ist ganz wichtig, dass sie nicht erst mit 40 beim Therapeuten zum ersten Mal hören, dass sie es nicht verdient hatten. Sie müssen gleich von uns hören, dass Fehler passieren, weil wir Menschen sind. Nicht, weil das Kind böse war. Man können unseren Kindern erklären: „Du hast das nicht verdient, dass man dich so behandelt und niemand sollte dich so behandeln. Es tut mir leid.“ 

Was kann man tun, wenn man einmal in einen Schimpfmodus hineingeraten ist, aus dem man nicht mehr heraus findet? Wie kann man das unterbrechen? Schmidt: Aus einem Schimpfmodus heraus zu kommen, ist extrem schwierig. Unser Ziel muss immer sein, gar nicht erst hinein zu kommen. Wenn wir doch drin sind, hilft es, die Situation oder den Raum zu verlassen, Abstand zu gewinnen. Gut zu wissen ist auch, dass wir nicht gleichzeitig dysreguliert und in der Körperwahrnehmung sein können. Immer dann, wenn wir im Stressmodus sind, schaltet der Kopf die Körperwahrnehmung ab. 

Das könnte Sie auch interessieren:

Umgekehrt bedeutet das: Immer, wenn wir in die Körperwahrnehmung zurückgehen, stoppen wir die Stressreaktion. Machen Sie also irgendetwas Körperliches, bewegen Sie sich, klopfen Sie sich ab, schlagen Sie auf ein Kissen. Viele Menschen reiben sich unter Stress die Stirn, eine instinktiv richtige Reaktion. Berühren Sie sich, gehen Sie zurück in die Körperwahrnehmung. Hilfreich ist auch, wenn wir einen Vertrauten anrufen können, der uns durch die Situation coacht.

Viele Eltern sagen: „Wenn ich nicht schimpfe, macht das Kind nicht, was es soll.“ Wie setzt man Grenzen, ohne zu schimpfen? Schmidt: Durch Empathie. Sagen Sie zum Beispiel: „Ich sehe, dass du sauer bist, aber du darfst Peter nicht die Schippe über den Kopf ziehen. Ich will, dass du STOPP sagst, wenn er dich stört.“ Das ist was ganz anderes als zu sagen: „Du böses, aggressives Kind, jetzt hast du schon wieder jemanden gehauen.“ 

Wenn ich möchte, das meine Kinder etwas Bestimmtes tun, muss ich zuerst klar stellen, ob das realistisch ist und mich fragen, welche Aufgaben können Kinder wie? Zwei Fünfjährige brauchen zum Aufräumen klare und konkrete Aufgaben, wo sie was hinräumen sollen. Die können Sie nicht in ein chaotisches Kinderzimmer setzen und sagen: „Wenn das nicht in fünf Minuten aufgeräumt ist, landet alles im Müll!“ Wir müssen lernen, unseren Kindern die Dinge so beizubringen, wie wir sie einem Auszubildenden beibringen würden.

Sie schreiben in Ihrem Buch darüber, dass man Regeln durchsetzen kann, indem man erwünschtes Verhalten fördert. Wie macht man das? Schmidt: Zunächst müssen wir dafür erwünschtes Verhalten vormachen. Also Dinge nicht zehnmal sagen, sondern einfach immer wieder machen. Wenn ich nicht will, dass meine Kinder ständig wie wild auf dem Klingelkopf herumdrücken, wenn sie nach Hause kommen, dann gehe ich hin und zeige ihnen freundlich, wie man auf diese Klingel drückt und lasse sie dann rein. Dazu muss ich kein Wort verlieren, das ist viel stärker als wenn ich das erkläre. Besonders Kleinkinder machen nicht das, was wir ihnen sagen, die machen das, was sie sehen. 

Ein weiteres Kapitel dreht sich darum, spielend Konflikte zu lösen. Wie geht das? Schmidt: Spiele können viele Konflikte lösen, die wir über Gespräche nicht lösen können. Kinder bieten häufig Spiele an, um eine innere Spannung loszuwerden. Wenn Eltern hier ein wenig darauf achten, können sie diese Spielangebote nutzen, um Konflikte zu lösen. Ein gutes Beispiel ist das Unsinn-Spiel. Meine Kinder sollen zum Beispiel Salat essen, wollten aber nicht. Statt hundertmal ohne Erfolg zu sagen: „Esst Salat, Salat ist gesund“, habe ich irgendwann gesagt: „Heute ist der Salat nur für die Erwachsenen.“ Um herauszufinden, wie ernst ich das meine, haben die Kinder den Salat probiert und relativ spielerisch festgestellt, dass das eine feine Sache ist. 

Welche Spiele bieten Kinder selbst an? Schmidt: Wir sind umgezogen, als meine Tochter erst zwei war. Sie hat sich anschließend ein Spiel ausgedacht, in dem sie ein kleiner Skorpion in der Wüste ist, der keine Mama und keinen Papa hat. Ich musste sie dann finden. Das wollte sie immer und immer wieder spielen. Das kann man nervig und zeitraubend finden oder erkennen, dass das Kind durch den Umzug verunsichert ist und Angst hat, verloren zu gehen. Sie brauchte dieses Spiel, um so lange immer wieder die Erfahrung zu machen, dass sie, wenn sie verloren geht, von ihrer Mama gefunden wird, bis sie den Umzug verarbeitet hatte. Kinder sind unglaublich klug. Wir können ihren Spielangeboten immer vertrauen. 

Welchen ultimativen Tipp für mehr Gelassenheit haben Sie für Eltern? Schmidt: Kinder wollen uns nie ärgern. Sie lernen, und unser Job ist es, ihnen beim Lernen zu helfen. Wenn uns klar ist, dass uns unsere Kinder eigentlich immer kooperieren wollen, ärgern wir uns selbst viel weniger. Dieses Gefühl: „Der verarscht mich doch der Kleine“ kann unglaublichen Stress erzeugen, der gar nicht notwendig ist. Denn das kann ich allen Eltern versichern: Ihre Kinder lieben Sie und wollen in einer Familie leben, in der alle miteinander in Kontakt sind. 

Das Buch: Nicola Schmidt: „Erziehen ohne Schimpfen. Allltagsstrategien für eine artgerechte Erziehung“, GU Verlag, 176 Seiten, 16,99 Euro.

KStA abonnieren