Erziehungs-Experte fordertLasst eure Kinder wieder mehr raufen und kämpfen!

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Körperkontakt ausdrücklich erlaubt! Um sich gut entwickeln zu können, müssen Kinder balgen, rangeln und kämpfen.

  • Im Zeitalter der Anti-Konflikt-Trainings werden raufende und kämpfende Kinder nicht mehr gern gesehen.
  • Doch für eine gesunde Entwicklung von Kindern ist es unglaublich wichtig, dass sie diese Rangel- und Rauferfahrungen machen.
  • Sportpädagoge Wolfgang Beudels erklärt, warum man Kinder zum Raufen ermutigen sollte – und auch Erwachsene wieder mehr miteinander rangeln sollten.

Köln – Neulich hat mir meine fünfjährige Tochter begeistert von ihrem Nachmittag in der Kita erzählt: Sie habe so richtig toll mit ihrem Freund Emil gerauft und gekämpft – und zwar über die Frage, ob jetzt Mädchen oder Jungs besser sind. Dann aber der enttäuschte Nachschub: „Leider hat die Erzieherin dann gesagt, dass das zu wild ist und wir damit aufhören sollen. Das war echt blöd.“

Raufen hat heute kein gutes Image mehr

Während ich mir noch vorstellte, wie die beiden kleinen Streithähne sich unkontrolliert über den Rasen kugeln, habe ich mich gefragt: Wann sind körperliche Auseinandersetzungen zwischen Kindern eigentlich okay? Und greifen wir Erwachsenen bei Balgereien heute zu früh ein? Die Fragen führten zu diesem Gespräch mit Sportpädagoge und „Rauf-Coach“ Prof. Dr. Wolfgang Beudels von der Hochschule Koblenz.

Wenn sich heute zwei Kinder raufend über den Boden wälzen, werden sie ja meist sofort getrennt. Sollte man sie weiter kämpfen lassen?

Wolfgang Beudels: Ja. Man sollte sie auf jeden Fall weiterkämpfen und rangeln lassen. Solange es sich nicht um eine gewaltsame Auseinandersetzung handelt. In den meisten Fällen ist es aber eben kein Konflikt oder Streit, sondern etwas ganz Normales, was Kinder von sich aus gerne tun. Sie haben ein natürliches Bedürfnis, sich auch mal in eine Raufsituation zu begeben.

Woran können Erwachsene denn erkennen, ob hier gewaltsam oder harmlos gerauft wird?

Beudels: Es ist und bleibt falsch, Konflikte durch Raufen zu lösen, nach dem Motto: Ihr habt Streit, jetzt kämpft das mal aus! Aber um welche Art Gerangel es gerade geht, kann man leicht und deutlich unterscheiden. Normales Raufen erkennt man an der Freude, die die Kinder dabei haben. Es wird viel gelacht. Aber auch daran, dass die Balgenden gewisse Grenzen einhalten und zum Beispiel vom anderen ablassen, wenn der Stopp ruft.

Müssen Kinder diese körperlichen Erfahrungen machen?

Beudels: Unbedingt. Das ist entwicklungspsychologisch sehr wertvoll und gehört von frühester Kindheit an dazu. Es geht dabei um das Bedürfnis nach Körperkontakt, um das Erproben von Nähe und Distanz. Kinder wollen ihre eigenen Kräfte entdecken und an anderen ausprobieren. Raufen und Balgen ist sogar ein Ausdruck von Wohlbefinden. So wie junge Hunde eben auch miteinander kämpfen.

Das heißt, es hat vor allem auch eine soziale Komponente?

Beudels: Genau. Kinder üben dadurch Beziehungen. Sie erproben den fairen, respektvollen Umgang miteinander. Sie lernen, Körperkontakt zu akzeptieren und zu gewähren, die Grenzen des anderen zu erkennen. Auch wenn es von außen sehr wild und ungesteuert aussieht.

Es geht bei diesen Raufereien in den meisten Fällen nicht nur um reines Kräftemessen. Kinder geben sich während des Kampfgeschehens gegenseitig oft paradoxe Anweisungen: „Halt mich doch mal da fest, sonst ist das zu einfach für mich“ oder „Kämpf doch mal richtig!“. Sie möchten auch den Gegendruck erfahren. Dabei gewinnt nicht immer der Gleiche, die Rangordnung wird sozusagen ständig neu ausgerangelt. Manchmal kippt das Rangeln sogar um in eine Art Umarmung oder Tanz.

Die Kinder kämpfen auch nicht mit einem richtigen Gegner sondern mit einem Partner, für den sie verantwortlich sind. Er oder sie ist auch eine Art Sportgerät, das sie wegrollen und umschubsen können. Wenn das Miteinander stimmt und Freiwilligkeit und Vertrauen herrscht, sind die härtesten Auseinandersetzungen möglich.

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Was lernen Kinder noch, wenn sie sich auf solche Kämpfchen einlassen?

Beudels: Raufen hat viele persönlichkeitsbildende Aspekte. Die Kinder wagen dabei etwas, gehen ein Risiko ein. Sie müssen bei so einem Kampf vielleicht auch einmal eine Niederlage einstecken oder sich im wahrsten Sinne des Wortes aus einer körperlich ungünstigen Lage befreien. Um es danach nochmal zu versuchen. So werden auch das Durchhaltevermögen und die Resilienz von Kindern geschult.

Stimmt es eigentlich, dass Jungs von Natur aus mehr Raufen?

Beudels: Ja, sie lassen sich eher darauf ein. Aber auch Mädchen entdecken ganz schnell ihre Kompetenzen in dem Spiel und merken, dass sie nicht unbedingt stärker sein müssen, sondern vor allem cleverer und einfallsreicher. Viele erfahren dadurch, was sie alles können.

Wo sind die Grenzen - wenn es blutet oder Geschrei gibt?

Beudels: Auf jeden Fall, dann muss man dazwischen gehen. Wir haben so eine Grundregel des Ringens und Raufens entwickelt: Es ist alles verboten, was weh tut. Wenn die Beziehung der Kinder stimmt, wird das in 99 Prozent der Fälle auch eingehalten. Aber natürlich gibt es auch mal blaue Flecken, das kann bei anderen Spielen jedoch ebenso passieren.

Kommen schwächere Kinder nicht trotzdem unter die Räder?

Beudels: Jedes Kind kann ringen, rangeln und kämpfen. Das hängt nicht von den körperlichen Voraussetzungen ab. Bei Kindern, die bereits sexuellen Missbrauch erlebt haben, muss man allerdings vorsichtig sein. Zu ihnen sollte man zum Beispiel bei spielerischen Übungen nicht sagen: Jetzt leg ich dich mal auf den Boden und ich halte dich fest. Das kann schlimme psychische Folgen haben.

Wenn man viel gerauft hat, ist man dann auch später handlungsfähiger, wenn man wirklich mal körperlich angegangen wird?

Beudels: Das kommt darauf an. Aber man lernt auf jeden Fall beim Raufen auch ganz funktionale Aspekte wie Koordination, Kraft, Ausdauer, Wahrnehmung. Es müssen ja bei solchen Kämpfen ständig subtile Entscheidungen getroffen werden. Es gibt hier keine vorgegebenen Regeln wie beim Fußball, kein Eingriff von außen, sondern die Kämpfenden müssen blitzschnell während des Spiels entscheiden. Es sind Reaktion und Sensibilität gefragt. Sie müssen Dinge selbst regeln und arrangieren.

Und wenn ein Kind fallen, rollen, sich halten oder im richtigen Moment nachgeben kann, profitiert es auch in anderen Situationen davon. Diese Fähigkeiten können sogar in der Verkehrserziehung helfen. Kinder können die Geschwindigkeit anderer Verkehrsteilnehmer abschätzen, im richtigen Moment gut reagieren oder sich ohne Verletzung abrollen, wenn sie hinfallen.

Warum haben heutige Eltern eigentlich oft Angst, ihre Kinder raufend zu sehen?

Beudels: Weil Erwachsene Sorge haben, das Kind könne einen schweren Konflikt haben oder sich verletzen. Man muss auch sagen, Erwachsene sind recht weit weg vom Geschehen, sie raufen ja selbst auch leider nicht mehr.

Leider?

Beudels: Ja, sie sollten das unbedingt mal wieder machen. Gerade pädagogische Fachkräfte sollten nochmal auf die praktische Ebene der Selbsterfahrung gehen. Ich erlebe das häufig in entsprechenden Fortbildungen, dass Erwachsene sehr viel Freude am Raufen haben und dadurch auch die Vorbehalte abbauen. Obwohl es teilweise ein heftiges, anstrengendes Kampfgeschehen ist, wird dabei viel und laut gelacht.

Eltern sollten also auch mehr mit ihren Kindern raufen?

Beudels: Natürlich! Das gehört dazu. Von der Kissenschlacht bis zum Balgen im Garten sollten sie diese Gelegenheit unbedingt nutzen.

Und die Kinder sollten auch in Kita und Schule zum Rangeln ermutigt werden?

Beudels: Ja, von kleinen Rangeleien angefangen bis hin zu angeleiteten Kursen sollte das Thema Ringen und Raufen mehr gefördert werden – indem man den Kindern die Möglichkeit gibt, sich darin zu erproben. In manchen Lehrplänen der Schulen sind solche Kurse bereits verankert. In Grundschulen geht es da eher um Bewegungsspiele, an weiterführenden Schulen passiert das im Rahmen bestimmter Sportarten. Ich selbst gebe regelmäßig solche Kurse.

Wie ist dabei Ihre Erfahrung: Ist es für manche Kinder eine Erleichterung, dass sie endlich mal raufen dürfen und nicht gestoppt werden?

Beudels: Ganz genau. Bei den heutigen Helikopter-Eltern, wo alles verboten ist und alles geregelt wird, haben sie die Möglichkeit dazu ja oft nicht. Ich habe erlebt, dass Schüler, die diese Kurse mitgemacht haben, auch noch in der Oberstufe ganz anders miteinander umgehen – vom sich in den Arm nehmen bis zu freudigen Spaßkämpfchen zwischendurch.

Buchtipp:Wolfgang Beudels / Wolfgang Anders Wo rohe Kräfte sinnvoll wandeln: Handbuch zum Ringeln, Rangeln und Raufen in Pädagogik und Therapie, Borgmann Verlag, 2014

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