Quarantäne, Homeschooling„Isolation zuhause ist für Kinder gefährlicher als Corona“

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Die Isolation während des Lockdowns hat den meisten Kindern gar nicht gut getan. 

Köln – „Für Kinder war es während des Lockdowns sicherer, nachts alleine im Park spazieren zu gehen als zuhause in ihrem Zimmer zu sein“, sagt Bernd Siggelkow, Gründer des bundesweiten christlichen Kinder- und Jugendwerks „Die Arche“. Die Isolation, die Abgeschnittenheit von Freunden, Vereinen und sozialen Einrichtungen, wie sie im vergangenen Jahr trauriger Alltag war, sei vor allem für sozial benachteiligte Kinder fatal gewesen. Die Zahl der misshandelten Kinder hat im Corona-Jahr um neun Prozent zugenommen, teilte das Statistische Bundesamt jüngst mit. „Die richtige Explosion kommt erst noch, sollten die Schulen nach den Sommerferien erneut schließen“, sagt Siggelkow im Interview.

Herr Siggelkow, vor einer Woche hat das Statistische Bundesamt mitgeteilt, dass die Jugendämter in Deutschland im Corona-Jahr 2020 bei rund 60.600 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt haben. Das ist ein Zuwachs von neun Prozent gegenüber dem Vorjahr und damit ein neuer Höchststand. Auch die Zahl der sexuell missbrauchten Kinder ist gestiegen. Überrascht Sie das? Bernd Siggelkow: Nein, gar nicht. Ich habe von Anfang an gesagt, dass es gefährlich ist, wenn niemand mehr an Türen klingelt, die Kinder nur noch ihre familiären Bezugspersonen haben und nicht mehr zur Schule gehen. Im Lockdown war die Gewalt an Kindern programmiert. Für viele wäre es in dieser Zeit sicherer gewesen, alleine in einem dunklen Park spazieren zu gehen als sich in ihrem Zimmer aufzuhalten.

Warum glauben Sie das? Weil es für die meisten Kinder und Jugendlichen nicht genug Platz und keine Rückzugsorte gab. Es ist doch klar, dass auf beengtem Raum die häusliche Gewalt zunimmt, wenn viele Menschen zusammen sind und gleichzeitig die Freizeitmöglichkeiten fehlen. Jeder kommt da ganz schnell an seine Grenzen. Da ist es beinahe klar, dass die Zahlen an häuslicher Gewalt ganz schnell eskalieren.

Zur Person

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Bernd Siggelkow arbeitete als Jugendpastor, ehe er 1995 in Berlin-Hellersdorf das christliche Kinder- und Jugendwerk „Die Arche“ gründete. Seitdem entstanden weitere Einrichtungen in ganz Deutschland, unter anderem auch in Köln und Düsseldorf. Siggelkow ist verheiratet und Vater von sechs Kindern. Er erhielt für seine Arbeit das Bundesverdienstkreuz sowie den Verdienstorden des Landes Berlin. „Die Arche“ selbst wurde mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille durch die Internationale Liga für Menschenrechte gewürdigt.

Über die Herausforderungen des Corona-Jahres hat er ein Buch geschrieben, das am 30. August 2021 erscheint: „Kindheit am Rande der Verzweiflung. Die fatalen Folgen von Lockdown und Isolation“, Claudius Verlag, 14 Euro

Hätte man also ahnen müssen, dass die Kinder zuhause nicht sicher sind? Experten haben immer wieder vor häuslicher Gewalt oder sexuellen Übergriffen gewarnt. Kinderschutzorganisationen riefen bereits nach einigen Monaten um Hilfe, weil man ja gar nicht sehen konnte, was bei den Menschen zuhause passiert. Hatte ein Kind blaue Flecken oder war traurig, gab es keinen Lehrer, Betreuer oder Trainer, der das bemerkt hätte.

Auch Sie mussten deutschlandweit die Einrichtungen der „Arche“ schließen. Für Tausende Kinder standen von einem Tag auf den anderen kein kostenloses Mittagessen, keine Hausaufgabenhilfe, keine Sport- und Musikangebot und auch keine Zuwendung mehr zur Verfügung. Wie ist es Ihnen in dieser Zeit ergangen? Eine Zeitlang habe ich mir jeden Morgen als Erstes die Nachrichten angeschaut, weil ich damit gerechnet habe, dass es irgendwann eine Meldung von einem toten Kind gibt, das an seinen Misshandlungen zuhause gestorben ist. Glücklicherweise ist das nicht passiert, aber die Ängste waren natürlich da. Bevor wir zugemacht haben, haben wir sofort alle Telefonnummern geprüft, ob die noch stimmen. Für die Kinder ohne Telefon haben wir 150 Smartphones besorgt, damit wir sie erreichen können. Dann haben wir jede Woche mit jedem korrespondiert, so dass wir wussten, wie es ihnen zuhause geht. Natürlich haben wir Angst gehabt!

Kindeswohlgefährdung im Corona-Jahr

Wie das Statistische Bundesamt am 21. Juli 2021 mitteilte, stellten die Jugendämter im Corona-Jahr 2020 bei rund 60 600 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung fest. Mit einem Zuwachs von neun Prozent gegenüber dem Vorjahr sei damit ein neuer Höchststand erreicht worden. Insgesamt prüften die Jugendämter knapp 194 500 Verdachtsmeldungen, das waren zwölf Prozent mehr als 2019. Laut der Statistik war etwa jedes zweite gefährdete Kind jünger als acht Jahre und jedes dritte sogar jünger als fünf Jahre. Ein Großteil aller gefährdeten Kinder (58 Prozent) wies den Angaben zufolge Anzeichen von Vernachlässigung auf. Bei rund einem Drittel aller Fälle wurden Hinweise auf psychische Misshandlungen, also etwa in Form von Demütigungen, Einschüchterungen, Isolierung und emotionale Kälte gefunden. Auffällig ist dabei, dass diese psychischen Misshandlungen besonders gestiegen sind, und zwar um 17 Prozent. In etwas mehr als einem Viertel der Fälle gab es Anzeichen für körperliche Misshandlungen und in fünf Prozent für sexuelle Gewalt. (dpa)

Was war denn rückblickend für Sie das Schlimmste, das Sie während der Corona-Zeit erlebt haben? Wir sind eine der wenigen Einrichtungen, die 24 Stunden lang telefonisch oder per WhatsApp erreichbar ist. Ich bin oft in der Nacht von Kindern oder Eltern angerufen worden, die an ihre Grenzen gekommen sind und mich um Hilfe gebeten haben. Das konnte manchmal schon reichen, mit ihnen am Telefon zu sprechen. Ich hatte eine Mutter dran, die mir erzählte, dass ihre achtjährige Tochter versucht habe, sie zu erwürgen, weil sie den Druck nicht mehr aushielt.

Was können Sie in so einem Fall machen? Ich habe viele Familien zuhause vor der Haustür getroffen, zweimal war ich sogar während des Lockdowns bei ihnen im Wohnzimmer, weil ein Streit eskaliert war. Das war natürlich nicht erlaubt. Mir war das eigene Risiko da aber egal, für mich stand der Kinderschutz ganz oben. Ich hätte natürlich auch das Jugendamt einschalten können, aber die Familien haben zu mir mehr Vertrauen. So konnte ich deeskalieren, ohne dass etwas passiert.

Wie soll es nun weitergehen? Die vierte Welle im Herbst droht, es ist noch immer nicht klar, ob nach den Ferien die Schulen wieder normal öffnen. Wenn die Schulen jetzt wieder schließen, stehen wir wieder am gleichen Punkt wie am 16. März 2020, als der erste Lockdown begann. Der Politik ist es nicht gelungen, ein Konzept zu erarbeiten, wie die Bildung für unsere Kinder gewährleistet werden kann. Für mich steht die Gefahr durch Corona in den Schulen in keinem Verhältnis zu den Gefahren, die den Kindern zuhause in der Isolation drohen. Schweden hat die Schulen nie zugemacht, vielleicht könnten wir uns daran ein Beispiel nehmen und die Lehrer alle impfen. Wir sollten auf jeden Fall versuchen, dass die Kinder im Präsenzunterricht sind, sonst sehe ich die große Explosion nach den Ferien.

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Wie sollte der Schulstart Ihrer Meinung nach aussehen? Die Kinder haben anderthalb Jahre lang keinen richtigen Unterricht bekommen. Wie sollen Sie sich wieder an einen normalen Schulalltag gewöhnen? Erwachsene, die krank sind, werden durch das Hamburger Modell wieder langsam in den Arbeitsalltag eingewöhnt, bei Kindern soll das sofort gehen. Sie bräuchten jetzt auch ein Modell, das auf die neue Situation eingeht. Wir könnten doch in der ersten Woche die Kinder um 9.30 Uhr anfangen lassen und drei Stunden Unterricht machen. In der nächsten Woche kommen sie um 8.30 Uhr für vier Stunden und danach dann für den normalen Unterricht. Die Kinder haben im Homeschooling verlernt, wie Schule geht.

Man kann nach den Ferien also nicht so tun, als wäre alles normal? Es gibt keine Normalität. Die Kinder hatten ihre Sozialkontakte nicht. Manche haben 20 Kilogramm zugenommen, weil sie nur alleine zuhause waren, ohne Freunde, ohne rausgehen. Diese Folgeschäden kriegt man kaum noch in den Griff.

Was muss jetzt passieren, damit die Kinder endlich im Fokus stehen und nicht immer beiseitegeschoben werden? Der Kinderschutz muss durchlässiger sein. Die Kinder müssen schneller an die Sorgentelefone kommen, die müssen bekannter werden und kostenlos sein. Auf der anderen Seite muss man die Kinder fördern, die jetzt schulisch extrem abgehängt sind. Ich würde gerne meine Mitarbeiter als Vermittler in die Schulen schicken, damit der Lehrer auch mal ein Kind aus dem Unterricht schicken kann, das überhaupt nicht mehr mitkommt. So könnte es entsprechend gefördert werden. Aber das kostet natürlich Geld und die Frage ist, woher das kommt. Es gibt das verabschiedete Papier mit zwei Milliarden Euro, die für bedürftige Kinder nach Corona zur Verfügung stehen sollen. Das ist lustig, denn die Frage ist: Wann ist nach Corona? 

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