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Familien im LockdownCorona-Pandemie bringt Probleme und Konflikte ans Licht

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Kinder im Homeschooling mit ihrer Mutter. (Symbolbild) 

Köln – Jeder kennt dieses Phänomen von schönen Tagen im Sommer: Wenn die pralle Sonne durch ein Fenster scheint, werden Flecken auf der Scheibe viel deutlicher sichtbar. Ähnlich verstärkend wirkt offenbar die Corona-Pandemie. Seelische Konflikte treten stärker zutage – auch bei Kindern und Jugendlichen. „Corona ist wie ein Brennglas“, umschreibt es die Kölner Diplom-Psychologin Elisabeth Raffauf und erklärt – ebenso wie Professor Stephan Bender, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität zu Köln – weshalb die monatelangen Lockdown-Phasen Angststörungen und andere psychische Auffälligkeiten begünstigen.

Wo es schwierig war, verschlimmert sich die Lage

Betroffen seien vor allem Kinder, „die es zuhause nicht so gut haben“, sagen beide. Unterstützende Freunde, ein Lehrer, der sie versteht oder andere Personen, die Probleme zuhause abfedern könnten, fehlen. Dadurch spitzen sich Konflikte zu. Raffauf: „Was vorher schon schwierig war, wird noch schwieriger. Man kann nicht entfliehen, und das ist für manche richtig dramatisch.“

Für viele Kinder gebe es in der Wohnung überhaupt keinen ruhigen Ort oder eine Rückzugsmöglichkeit. „Man erlebt verstärkt Traurigkeit, Mutlosigkeit und Resignation“, bestätigt Elisabeth Raffauf, die sich schon länger auch als Buchautorin („Die tun nicht nichts, die liegen da und wachsen“, Patmos-Verlag) mit den Nöten von Jugendlichen auseinandersetzt. „Im Grunde wollen sie loslaufen und rennen nun dauernd gegen die Wand.“ Es gebe kaum Möglichkeiten für ein Praktikum oder gar Auslandserfahrungen. „Die wollen rausgehen und ihr eigenes Leben finden, und jetzt ist überall das Tor zu.“ Dadurch würden sie zurückgeschleudert in die Familie, aus der sie eigentlich weg wollen und auch müssen. Die Folgen seien unter anderem auch Zwangshandlungen oder Essstörungen.

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Unsicherheit führt zu Bedürfnis nach Kontrolle

Das Verstörende an Corona sei die große Unsicherheit. Nicht zu wissen, wie lange das noch dauert oder wann es aufhört. Diese Konstellation verstärke das Bedürfnis, wenigstens irgendwas unter Kontrolle zu haben. „Zum Beispiel das Essen. Indem ich das Gegessene wieder aus mir raushole. Oder das Essen ganz verweigere. Auch wenn ein solches Verhalten schadet, ist es als Lösungsversuch gedacht.“ Sie kenne junge Mädchen mit entsprechender Vorgeschichte, „die da jetzt wieder mit anfangen. „Die Ungewissheit triggert sie, also wird der Mechanismus zurückgeholt.“

Klinikleiter Stephan Bender beobachtet ebenfalls eine Zunahme von Essstörungen. Der 44-Jährige spricht im Zusammenhang mit Magersucht (Anorexie) sogar von „noch ausgeprägterem Untergewicht“. Wenn Stress anhalte, wie jetzt im Corona-Jahr, „wirkt sich das aus.“

Auswirkungen von Stress zeigen sich erst Monate später

Fehlende Alltagsrituale, weggebrochene soziale Kontakte, ein vielfach völlig verschobener Tag-Nacht-Rhythmus – all das habe Folgen. „Es ist ja nicht so, dass Homeschooling eine klare Tagesstruktur bieten würde. Die Eltern sind mit Homeoffice beschäftigt, die Kids können keine Gleichaltrigen treffen, also zocken die nachts mit ihren Freunden.“

Das Tückische am Stress sei, dass meist Monate vergingen, bis sich die Auswirkungen zeigten. „Wir erleben die psychischen Effekte verzögert.“ So seien „die Ängste am massivsten gewesen“ nicht während des ersten Lockdowns, sondern „als schon wieder gelockert wurde“.

Trügerisch sind aus Sicht des Kinder- und Jugendpsychiaters auch jene Meldungen, wonach Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern im Corona-Jahr zurückgingen. Die gesunkenen Zahlen seien vielmehr ein Indiz dafür, dass „weniger Fälle registriert und gemeldet werden“, erläutert Bender. Das wiederum liegt daran, dass natürlich auch die beaufsichtigende Arbeit von Einrichtungen wie Jugendämtern aufgrund von Kontaktverboten beeinträchtigt sei.

Man könne viel weniger in die Familien hineinschauen, unterstreicht der Klinikchef und verweist in dem Zusammenhang auf die vielfach „fehlenden Ressourcen“ bei den entsprechenden Ämtern, um beispielsweise per Videoschaltung einen Einblick von außen zu erhalten.

Präsenzkontakte ausschöpfen

„Das Wächteramt von Kitas und Schulen ist eingeschränkt“, sagt Stephan Bender und meint damit nicht nur den sexuellen Missbrauch, sondern auch die Zunahme von häuslicher Gewalt, für die es Indikationen gebe. „Das ist nicht nur relevant zwischen Ehepartnern, sondern auch zwischen Eltern und Kindern“, insbesondere dort, „wo die häuslichen Voraussetzungen beschränkt“ sind.

Aus Sicht des dreifachen Vaters sind deshalb zurzeit zwei Dinge wichtig: Die in der Lockdown-Phase bestehenden Restmöglichkeiten zu nutzen. Stichwort: Präsenzkontakte ausschöpfen. Sich also mit dem einen Freund, den man treffen darf, tatsächlich verabreden, anstatt sich ganz zurückzuziehen. Dazu gehöre aber auch, bestehende Video-Möglichkeiten zu nutzen und sich darüber zu informieren, wo diese gegeben sind.

So verfügt die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht nur über ein stationäres Angebot, sondern bietet in der Ambulanz auch die Möglichkeit der Video-Konsultation. Zudem haben auch viele niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ein solches Angebot für junge Patienten.

Bender hält es für „total wichtig, dass Videokonferenzen stattfinden“, und dass auch Schulen Videokonferenz-Termine einfordern. Durch fehlende Kontakte werde das Erkennen von Problemen und Konflikten deutlich erschwert. Umso dringlicher sei, dass jemand auf diesem Weg „einen Blick in die Familie wirft“. Bender plädiert darüber hinaus für klare gemeinsame Essenszeiten in den Familien und Absprachen, wann was gemacht wird.

Psychologin Elisabeth Raffauf rät Eltern indes, auch mal Fünfe gerade sein zu lassen – gerade in Bezug auf die Schule. „Wenn Eltern zu Hilfslehrern werden, kann das für die Familienatmosphäre tödlich sein.“ Besser sei, sich im Einzelfall darüber zu verständigen, „was wirklich notwendig oder für die Familienstimmung wichtiger ist“.

Blick nach vorne richten

Hilfreich für Jugendliche mit Problemen könnte sein, wenn sie sich fragten: „Wer in meinem Umfeld hat ein gutes Verständnis für mich. Das könnten ein Onkel, eine Tante, ein Vertrauenslehrer, aber auch die Eltern eines Freundes sein. „Jemand, der zuhört und hilft, sich selbst zu sortieren.“

Vor dem Hintergrund, dass die Seele immer eine Zeit lang hinterherhinkt, rät Professor Bender dazu, den Blick auch schon weiter nach vorn zu richten; nämlich auf den Moment, wenn die Jugendlichen bei der Rückkehr in den regulären Betrieb „mit der vollen Wucht der Schule konfrontiert werden“. Da müsse überlegt werden, Lehrpläne anzupassen. „Die Normalisierungsphase wird ihre eigenen Schwierigkeiten haben. Da muss man rechtzeitig gegensteuern.“  

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