Flut, Brände, CoronaWie nimmt man Kindern die Angst vor der Dauerkatastrophe?

Lesezeit 7 Minuten
Neuer Inhalt

Kindern Katastrophen zu erklären ist gerade nicht leicht. 

Die Flut, Waldbrände, Erdbeben, Afghanistan und natürlich die Dauerkrise durch Corona: Die Welt scheint gerade permanent in Aufruhr zu sein. Das beunruhigt nicht nur uns Erwachsene, sondern beschäftigt natürlich auch die Kinder – weil es in den Familien Thema ist, weil sie Kindernachrichten gucken, weil Bekannte und Verwandte vielleicht sogar betroffen sind. Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Gunda Frey erklärt, wie man junge Menschen durch diese unruhige Zeit begleiten kann.

Die Welt scheint immer mehr aus den Fugen zu geraten. Das merken auch die Kinder. Wie spricht man mit ihnen darüber?

Gunda Frey: Als erstes gilt es festzuhalten, dass Kinder die Schieflage vor allem an uns Erwachsenen merken. Bevor wir mit ihnen sprechen, fühlen sie, was wir fühlen. Von daher ist es elementar, mit ihnen über die Dinge, die gerade passieren, zu sprechen. Nur so können Gefühle richtig einsortiert werden. Dabei ist es immer sinnvoll, klar und ohne Umschweife mit Kindern zu reden – und zwar altersentsprechend. Bei einem kleineren Kind sollten Eltern weniger Worte benutzen und einfachere Beispiele aus der Lebenswelt der Kinder bringen, um sie daran zu erklären. Am Bild einer Sandburg könnte man etwa leicht verständlich machen, warum jemand, der oben auf der Spitze der Burg sitzt, nicht durch das einkommende Wasser gefährdet ist. Grundschulkindern darf man dann Zusammenhänge schon genauer erklären. Doch sollte man immer daran denken, dass Kinder die Dimension mancher Krisen noch gar nicht verstehen können. Bei Teenagern könnte man dann schon versuchen, mit ihnen in die Diskussion über ein Thema einzusteigen und zu fragen: „Was denkst du? Was wäre deiner Meinung nach nötig, dass das nicht wieder passiert?“

Also sollte man nicht versuchen, Kinder vom Geschehen abzuschirmen?

Nein, man kann Kinder in dem Sinne nicht schützen, denn sie haben die Gefühlslage der Erwachsenen unter Beobachtung und bekommen so viel mit. Die Kinder fühlen Unsicherheit, wenn Eltern sich unsicher fühlen. Sie bekommen Angst, wenn die Eltern Angst haben. Finden Erwachsene dann keine Worte für ihre eigenen Gefühle, grenzen sie sich ab und distanzieren sich, dann machen sich Kinder ihre eigenen Gedanken – und die haben nicht mit Afghanistan oder Corona zu tun, sondern immer mit ihrer eigenen kleinen überschaubaren Welt. Die angstvolle Stimmung, die von Mama, Papa, Lehrern oder Pädagogen ausgeht, kommt dann ganz anders beim Kind an, es bezieht die Emotionen auf sich selbst und denkt: „Ich bin falsch, ich bin schuld.“

Erwachsene sollten also ruhig ihre Gefühle aussprechen, die sie wegen der augenblicklichen Katastrophendichte haben und sie so neutral wie möglich kommunizieren: „Mich besorgt es schon, was gerade um uns herum passiert.“ So versteht das Kind, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Mamas sorgenvollem Gesicht und dem Geschehen. Und dass ihre Stimmung nichts mit dem Kind zu tun hat. Wenn Erwachsene ihre Gefühle benennen und damit klar kommen, dann können sie übrigens auch eine bessere Bindung zu ihrem Kind aufbauen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Manche Kinder haben wegen der Geschehnisse konkrete Ängste, sie fürchten sich zum Beispiel vor Regen oder dem Wald. Wie reagiert man darauf?

Wenn ein Kind ängstlicher ist als sonst, weil es irgendwo etwas aufgeschnappt hat, dann ist auf jeden Fall Zeit für ein Gespräch. Eltern könnten zunächst einmal offen fragen: „Ich merke, du bist ängstlich, was ist los?“ Ein kleines Kind wird den Grund seiner Ängste kaum direkt benennen können. Deshalb würde ich ihm immer einen Blumenstrauß an Möglichkeiten anbieten: „Ist etwas im Kindergarten passiert? Hast du mitgekriegt, dass ich etwas in Sorge bin? Oder hast du etwas über eine Flutkatastrophe gehört?“ Es geht darum, neutral ein paar Dinge zu benennen und dann zu schauen, was vom Kind kommt. Mit älteren Kindern kann man natürlich etwas anders kommunizieren oder bekommt klarere Antworten.

War ein Kind tatsächlich vom Hochwasser betroffen und hat nun Angst, wenn es regnet, dann könnte es sich um eine Traumafolgestörung handeln. Hier sollten Eltern sich ärztliche bzw. therapeutische Hilfe holen. Hat ein Kind aber solche Ängste, obwohl die Familie gar nicht betroffen war, müssen Eltern ebenso feinfühlig hinschauen. Denn es gibt auch eine so genannte sekundäre Traumatisierung. Sieht ein Kind etwas im Fernsehen und ist emotional total betroffen, hat aber keine Möglichkeit, das zu verarbeiten, kann das zu einer solchen Angst führen. Auch dann müssten sich Eltern professionelle Hilfe suchen.

Bei Kindern, die nicht betroffen sind – sollte man warten, bis Fragen kommen oder schon proaktiv Themen wie die Flut oder Afghanistan ansprechen?

In der Mitte liegt die Wahrheit. Ich würde nicht warten, bis Kinder fragen. Aber auch nicht extra ein großes, tiefgreifendes Gespräch anberaumen. Eltern sollten einfach gut aufpassen, was Kinder mitbekommen. Sieht man etwas in den Nachrichten und das Kind ist dabei, hilft es schon, das kurz zu kommentieren: „Das erschüttert mich jetzt total, dass so viele Menschen in Afghanistan keine Heimat haben.“ Dann wird ein Fünfjähriger vielleicht Fragen stellen oder auch nicht, aber er hat es zumindest schon einmal gehört.

Es kann auch helfen, Themen einfach so kurz in ein paar Sätzen zu erwähnen, sozusagen als Information am Rande: „Vielleicht hast du es schon gehört, es gab ein Hochwasser und viele Menschen haben jetzt kein Zuhause mehr, denen geht es sehr schlecht. Und das wird immer wieder Thema sein hier in der Region.“

Sollten Kinder mitbekommen, was in der Welt geschieht?

Man kann und sollte Kindern unbedingt etwas zutrauen. Ich finde es gut, wenn sie wissen, was in der globalen und vernetzen Welt geschieht und man sie zu einem verantwortungsvollen Bewusstsein erzieht. Doch natürlich muss man sie auch dabei begleiten. Bei jüngeren Kindern sollten Eltern genau darauf achten, dass sie nicht ungefilterte Inhalte im Internet sehen. Und Bildungsformate wie Kindernachrichten sollten Eltern bestenfalls mit den Kindern zusammen schauen, damit danach die Möglichkeit besteht, über die Themen zu sprechen.

Darf man ihnen auch vermitteln, dass sie sich hier sicher fühlen können?

Ich finde, man kann auch mit den Kindern ganz klar das Weltgefüge veranschaulichen und die Geschehnisse in Relation setzen, nach dem Motto: „Wir leben hier in einem sicheren Land, wenn man es zum Beispiel mit der Situation in Afghanistan vergleicht.“ In diesem Zusammenhang lässt sich auch gut über das Thema Dankbarkeit sprechen, über all das, wofür wir hier dankbar sein können. Es ist immer gut, den Blick auf das Positive zu lenken – auch zum Beispiel darauf, wie viele Menschen helfen und in Krisen zusammenstehen.

Hilft auch Leichtigkeit und Ablenkung, also mehr zu singen und Quatsch zu machen?

Auf jeden Fall. Es gibt ja sogar Studien, die zeigen, warum Kinder in Armutsländern trotzdem nicht unglücklich sind: weil sie eben singen und tanzen. Der katastrophisierende Blick, den wir oft haben, ist viel schädlicher für die Kinder. Wir erleben das gerade als schwierige Zeit, aber Kinder erst einmal nicht – nur durch uns.

Es ist also eine Kombination aus vielen Dingen, um Kinder gut durch diese unruhige Zeit zu begleiten?

Genau. Ich möchte das in einem kleinen Exkurs zusammenfassen. Der Mensch hat vier Grundbedürfnisse. Das erste ist das Bedürfnis nach Bindung, also danach, Beziehungen aufzubauen. Wenn ein verlässliches Beziehungsangebot da ist, zuhause, in der Kita oder Schule, dann hilft das Kindern zum Beispiel dabei, Corona-Maßnahmen leichter anzunehmen. Das zweite Grundbedürfnis ist Orientierung und Kontrolle. Jenes wird in diesen Zeiten am meisten erschüttert, da es andauernd neue Bestimmungen und Situationen gibt und keiner weiß, wie sich die Lage entwickelt. Ausgleichend wirken kann es hier aber, wenn die zwei weiteren Grundbedürfnisse befriedigt werden. Zum einen das Grundbedürfnis nach Lustgewinn, also im Fall von Kindern Spaß und Spiel. Und zum anderen das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung, also das Gefühl zu haben, etwas tun und beisteuern zu können.

Im Augenblick sind die Kinder in der Schul- und Kita-Welt Corona ausgesetzt und es gibt weiterhin Einschränkungen. Wie fängt man das auf?

Ich bin auch hier ein Freund davon, vor Kindern die Dinge so zu benennen, wie sie sind und auch mal zu sagen: „Das ist blöd, ich mag die Situation auch nicht.“ Es kommt aber darauf an, wie man dann mit den Gegebenheiten umgeht. Man kann die Hygiene-Maßnahmen jetzt aggressiv verteidigen oder offensiv dagegen sein. Oder man könnte versuchen, mit ihnen zu leben, trotzdem eine Leichtigkeit reinzubringen und zu beschließen: „Wir machen das Beste daraus.“

KStA abonnieren