Heimat im WestenWas man im „Haus Schlesien“ über Flucht und Vertreibung erfährt

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Haus Schlesien

Ab dem 29. August ist das Museum teilweise wieder geöffnet.

Köln – Frau Remig, das Haus Schlesien in Heisterbacherrott besteht seit mehr als 40 Jahren. Was war damals der Anlass für die Gründung des Bildungs- und Begegnungszentrums?

Nicola Remig: Die Idee entstand in den 70er Jahren, also zur Zeit des Eisernen Vorhangs. Die Ost-West-Trennung war seit Jahren Realität, Reisen in den Osten waren kaum möglich. Die Flüchtlinge und Vertriebenen aus Schlesien hatten sich im Westen inzwischen eine neue Existenz aufgebaut. Die härteste Zeit lag also hinter ihnen. Dennoch litten sie nach wie vor unter dem Verlust ihrer Heimat. In der Öffentlichkeit hieß es häufig: Ihr aus dem Osten, Ihr seid doch halbe Polen! Man wollte mit der Gründung des Hauses also ein „Stückchen Heimat“ im Westen schaffen und gleichzeitig die alte Heimatregion positiv präsentieren. Ziel war ein Verein, der sich um die Kulturgeschichte Schlesiens kümmerte, und keine politische Organisation wie eine Landsmannschaft oder der Bund der Vertriebenen, den es schon lange gab.

Warum fiel die Entscheidung ausgerechnet für den Standort Königswinter, um das Haus Schlesien aufzubauen?

Zur Person

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Nicola Remig,1960 in Aachen geboren, Studium der Germanistik, Philosophie, Pädagogik und Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Seit 2007 Leiterin des (umbenannten) Dokumentations- und Informationszentrums im HAUS SCHLESIEN. Mitglied im Vorstand der Deutsch-Polnischen-Gesellschaft der Universität Wrocław /Breslau.

Nach Gründung des Vereins im Jahre 1973 hatte man sich in der gesamten Bundesrepublik nach einem geeigneten Grundstück umgesehen. Unter anderem war Niedersachsen im Gespräch, weil es ein Patenland von Niederschlesien war. Die Wahl fiel schließlich auf diesen ehemaligen Bauernhof in Heisterbacherrott, den man der Stadt abkaufte. Für den Standort sprach die Nähe zu Bonn, der damaligen Hauptstadt und Sitz der Bundesregierung. Man hoffte, die Besuchergruppen der Abgeordneten ins Begegnungszentrum zu locken, in das Museum, die Bibliothek und das Archiv.

Wie ist das Projekt in Gang gekommen?

Es wurde sehr um das Konzept gerungen. Das Haus sollte nicht nur ein Treffpunkt für diejenigen sein, die als Jugendliche oder Erwachsene Flucht und Vertreibung erlebt hatten. Die Betroffenen wollten ihre Erfahrungen auch an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Das Haus wurde am Anfang aus Spendenmitteln bestritten. Die Mitglieder und der Vorstand steuerten Ausstellungsstücke für das geplante Museum bei. In den 1980er Jahren wurde das Ganze dann professionalisiert. Die ersten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wurden eingestellt, finanzielle Förderungen machten den Museumsaufbau möglich.

Was kann man im Haus Schlesien vorfinden?

Das Herzstück ist das Informations- und Dokumentationszentrum. Dazu gehört das Museum mit einer Dauerausstellung und wechselnden Sonderausstellungen. Das Themenspektrum ist breit. Da geht es um Vergangenheit und Zeitgeschichte, um Kunst und Kunsthandwerk. Volkstümliches spielt eine wichtige Rolle: Eine Schau über Krippen zu Weihnachten, eine über Käthe-Kruse-Puppen oder über den Pfefferkuchen. Der stammt nämlich ebenso wie Käthe Kruse aus Schlesien. Es sind auch „leichtere“ Themen, wie Sie sehen, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen.

Dann gibt es aber auch noch einen Bereich, der auf Forschung zielt.

Richtig. In unserer Bibliothek recherchieren Privatleute ebenso wie Studierende, Doktorandinnen und Doktoranden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Unsere Gäste kommen aus dem In- und Ausland. Auch Archivbesucher können vor Ort arbeiten. Wer hier forschen will, kann sich sogar über einen längeren Zeitraum bei uns einnisten. Zu unserem Haus gehört ein Hotel- und Gastronomiebereich. So können hier auch Tagungen oder Seminare durchgeführt werden, nicht zuletzt Hochzeiten und Familienfeiern. Ganz klar geht es uns in diesem Falle darum, Geld zu verdienen, um das Haus dauerhaft finanzieren zu können. Zwar wird der Kulturbereich vom Bund gefördert, genauer gesagt durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien. Auch gibt es für einzelne Projekte Landesmittel. Allerdings ist es unglaublich aufwendig, so ein altes Gemäuer zu erhalten. Dafür reichen die Mitgliedsbeiträge nicht aus. Der sogenannte Wirtschaftsbereich soll dazu beitragen, das Ganze am Leben zu halten. Allerdings ist das gerade in diesen Zeiten schwierig. Die Pandemie hat uns unglaubliche Probleme bereitet.

Das Haus Schlesien will zwischen Ost und West vermitteln. Wie kann das gelingen?

Nicht zuletzt in einzelnen Projekten. Zum Beispiel mit einer Studienreise im Zeichen von Ludwig van Beethoven, die wir 2019 durchgeführt haben und im kommenden Jahr wiederholen wollen. Der Komponist stammt bekanntlich aus Bonn, wo im vergangenen Dezember sein 250. Geburtstag gefeiert wurde. Heimisch wurde er in Wien. Aber wegen seiner Mäzene war er auch im Raum Mähren, Böhmen und Schlesien sehr aktiv. Diese engen kulturellen Verflechtungen wollen wir deutlich machen.

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Geht denn der Blick in der Regel zurück in die Vergangenheit?

Absolut nicht. Wir wollen vor allem neugierig machen auf die Region, wie sie sich heute darstellt. Das war in den Anfangsjahren noch ganz anders. Die Vereinsgründer und -gründerinnen wollten vor allem zeigen, was in den vergangenen Jahrhunderten in ihrer Heimat Großartiges geleistet worden war. Dass Schlesien eben nicht nur eine landwirtschaftlich und industriell geprägte Region war, die ganz, ganz weit weg im Osten lag, sondern über die Universität Breslau, über ihren Porzellan- und Glasexport eng mit dem gesamteuropäischen Kulturraum verbunden war. Auch viele Nobelpreisträger stammen aus der Region. Das war die Ursprungsbotschaft.

Da ist man heute etwas breiter aufgestellt?

Sogar schon eine ganze Weile. Nach dem Mauerfall hat der damalige Vorsitzende sehr schnell regiert. Mit Museumspartnern aus Polen, beispielsweise aus Hirschberg und Breslau, wurden erste kleine Projekte und Ausstellungen organisiert. Diese Zusammenarbeit hat sich weiterentwickelt, und mittlerweile ist die Kontaktpflege weit fortgeschritten. Pro Jahr kommen mindestens zehn Gruppen mit polnischen Studierenden zu uns ins Haus, um dort Seminare abzuhalten. Es gibt gemeinsame Wanderausstellungen in deutscher und polnischer Sprache, die in beiden Ländern gezeigt werden. Dabei ist uns heute noch viel wichtiger als in den Anfangsjahren, dass es einen wissenschaftlichen Austausch auf Augenhöhe gibt. Es wird also nicht gesagt: Wir haben eine Idee – macht Ihr mit? Auf unseren Kuratoren-Tagungen diskutieren Deutsche und Polen über mehrere Tage miteinander. Dabei werden auch kritische und problembeladene Themen nicht ausgespart: Flucht, Vertreibung, Nachkriegszeit, Entwurzelung und Heimatlosigkeit. Oder wie das ist, auf gepackten Koffern zu sitzen. Die Erfahrungen sind auf polnischer Seite oft sehr ähnlich.

Haus Schlesien

Ab 29. August ist das Museum teilweise wieder geöffnet. Gezeigt wird die Sonderausstellung „Meisterhaft wie selten einer... “ über die Gärten des Landschaftsarchitekten Peter Joseph Lenné zwischen Schlesien und Pommern. Der Eintritt ist frei.

Dokumentations- und Informationszentrum Haus Schlesien; Dollendorfer Str. 412, 53639 Königswinter, Tel: 02244 - 886 0 Mail: kultur@hausschlesien.de www.hausschlesien.de Blog - Haus Schlesien www.historia-silesiae.eu/

In Ihrem Programm gibt es das Seminar „Oma kommt aus Schlesien“...

Das Angebot richtet sich an die Kinder- und Enkelgeneration, die oft nur wenig über die Geschichte ihrer schlesischen Eltern oder Großeltern wissen. Sie werden an zwei Tagen in Kurzvorträgen mit Grundwissen versorgt. Auch ein Psychotherapeut ist vor Ort, der erklärt, welchen Einfluss die Entwurzelung der Familie vor vielen Jahrzehnten auf die Nachfolgegenerationen haben kann und warum man eventuell so ist, wie man ist. Anschließend gibt es Gesprächsrunden.

Wie ist die Resonanz auf dieses Angebot?

Sehr gut. Inzwischen planen wir sogar ein neues Format. Während das Oma-Seminar auf Niederschlesien zielt, womit das klassische Vertreibungsgebiet verbunden ist, soll es bei dem Seminar „Opa lebt in Schlesien“ um Oberschlesien gehen. Die Oberschlesier sind nach dem Krieg oftmals in der Region geblieben und erst später in den Westen gekommen.

Was bedeutet Schlesien für die jüngere Generation?

Für viele Westdeutsche ist es tatsächlich etwas Exotisches. Das Kriegsende und die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten wurden zumindest in meiner Schulzeit überhaupt nicht thematisiert. Da ist es nicht einfach, überhaupt Interesse an der Thematik zu wecken. Andere hingegen finden es spannend, sich damit zu beschäftigen, eben weil es Neuland für sie ist. Und dann haben wir selbstverständlich noch die Besucherinnen und Besucher mit dem familiären Bezug, die kommen, um noch das eine oder andere zu entdecken oder zu erforschen. Wir sind im Übrigen gerade dabei, unsere Ausstellungsräume neu aufzubereiten und interaktive Angebote zu machen.

Soeben ist in Berlin das Zentrum für Flucht, Vertreibung und Versöhnung eröffnet worden. Hat das Thema eine neue Aktualität?

Ich glaube, dass dieses Thema immer relevant ist. Allerdings ist es seit dem Jahre 2015 noch einmal besonders in den Fokus gerückt, als Flüchtlinge aus anderen Regionen zu uns kamen. Da verstärkte sich das Interesse an den Fragen nach Entwurzelung und Heimatlosigkeit. Wir hatten damals auch einmal eine Gruppe von geflohenen Syrern bei uns im Haus Schlesien zu Gast. Trotz aller Sprachschwierigkeiten merkte man sofort, dass sie verstanden, was die deutschen Vertriebenen damals erlebt haben. Der Verlust der Heimat ist eine Grunderfahrung der Menschen.

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