Kindheit in Armut„Mit 11 bat ich das Jugendamt, mich aus meiner Familie zu holen“

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Jeremias Thiel

  • Die Mutter aggressiv und spielsüchtig, der Vater manisch-depressiv. Mit 11 Jahren meldete sich Jeremias Thiel beim Jugenamt und ließ sich aus seiner Familie holen.
  • Heute studiert Thiel in den USA, hat ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben und sich den Weg aus der Armut erkämpft.
  • Warum er sich trotzdem noch heute wie ein Verrräter fühlt und warum er das Hartz-IV-System komplett refomieren würde, erklärt er im Interview.

Köln – Herr Thiel, als Sie elf Jahre alt waren, gingen Sie zum Jugendamt und baten darum, nicht mehr bei Ihrer Familie leben zu müssen. Sie sind in Armut aufgewachsen, Ihre Mutter beschreiben Sie als aggressiv und spielsüchtig, Ihren Vater als manisch-depressiv. Trotzdem schreiben Sie in Ihrem Buch „Ich fühlte mich wie ein Verräter.“ Warum?

Jeremias Thiel: Das Gefühl des Verrats hat etwas mit der Rolle zu tun, die ich in meiner Familie hatte. Ich musste die Verantwortung für unseren Alltag und für meine Eltern schon als Kind übernehmen. Sie haben mir schon früh ihre Probleme aufgebürdet. Mit dem Gang zum Jugendamt habe ich mich der Verantwortung entzogen.

Was haben Sie heute für ein Verhältnis zu Ihren Eltern?

Es ist ambivalent, die Distanz ist mit den Jahren eher größer geworden. Ich lebe und studiere mittlerweile in den USA, habe dort auch eine Beziehung. Das verstehen meine Eltern in ihrer sehr überschaubaren Welt weniger. Sie leben in ihrer kleinen Wohnung von Grundsicherung. Die Probleme, die mich in Bezug auf Studium, Karriere und Zukunft beschäftigen, interessieren sie wenig. Sie leben einfach in den Tag. Ich mache Ihnen aber keinen Vorwurf – Sie finden sich in meiner Welt einfach nicht wieder.

Sie kamen nach Ihrem Gang zum Amt in ein Jugendhaus des SOS-Kinderdorfs und erlebten dort das erste Mal Struktur. Was heißt das für Sie?

Im Jugendhaus mussten wir unser Zimmer sauber halten, selbst Wäsche waschen und haben immer zusammen gekocht. Struktur heißt für mich in dem Fall, Selbstorganisation und -disziplin zu lernen. Das sind ganz wichtige Fähigkeiten, um in der Gesellschaft weiterzukommen. Struktur ist in armen Familien entscheidend, um der Armut auch zu entkommen.

Wie sah im Gegensatz dazu ein typischer Morgen in Ihrer Familie aus?

Der war eben ganz anders. Als mein Bruder noch bei uns gelebt hat, bin ich morgens davon wach geworden, dass er laut war und viel herumgeschrien hat. Es war eigentlich immer chaotisch, weil meine Mutter mit ihm überfordert war. Ein ordentliches Pausenbrot gab es bei uns nicht.

Das fehlende Pausenbrot hat es in Ihren Buchtitel geschafft. Warum ist es so wichtig?

Zur Armut gehört auch immer eine große Portion emotionale Armut. Das Pausenbrot ist ein Zeichen von Fürsorge, das es in meiner Familie, wie in vielen armen Familien, nicht gab.

Über den Autor

Jeremias Thiel, geb. 2001 in Kaiserslautern, wuchs unter schwierigen Bedingungen auf: Die Eltern sind langzeitarbeitslos und psychisch krank. Mit elf Jahren verlässt er die Familie. Thiel machte Abitur an einer internationalen Privatschule in Freiburg. Derzeit studiert er Umwelt- und Politikwissenschaften am renommierten St. Olaf College in Minnesota.

In „Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance“ (Piper Verlag) erzählt er seine Geschichte und plädiert für mehr soziale Gerechtigkeit.

In dem Kaiserslauterner Stadtteil Kotten, in dem Sie aufwuchsen, „spürte man in vielen Ecken Resignation“. Wie spürt man Resignation und woher kam sie?

Resignation kommt aus dem Lateinischen und heißt Verzicht. Es ist ein Verzicht, auf ein Leben, das man selbst in der Hand hat. Das heißt, dass die Menschen dort in ihrer Armut verharren. Sie sind alleine und isoliert. Sie können ihre Situation nie aus einer anderen Perspektive betrachten, sie kriegen keinen Einblick in ein anderes Leben. Das mündet irgendwann in Hoffnungslosigkeit. Das zeigt sich auch im Viertel. Bei uns stand immer Sperrmüll vor dem Haus, die ganze Umgebung war grau und monoton. Auch der Spielplatz vor dem Haus war eintönig – und trotzdem mein liebster Ort als Kind.

Sie beschreiben im Buch einen Kreislauf aus psychischer Krankheit und Armut, in dem Ihre Eltern feststeckten.

Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Armutserfahrungen und psycho-sozialen Erkrankungen wie Depressionen. Bei Kindern aus Hartz IV-Familien wird viel häufiger ADHS diagnostiziert als bei solchen, die unter normalen Bedingungen aufwachsen. Weil die früh bedarfsgerecht gefördert werden.

Sie kritisieren auch das Hartz IV-System.

Ich finde, das Hartz IV-System müsste grundsätzlich reformiert werden. Hartz IV soll den Lebensbedarf decken. Dieser wird aber völlig irrational aufgeschlüsselt. Einer Person stehen im Hartz IV-Satz monatlich weniger als zwei Euro für Bildung zu. Das System ist unsolidarisch und zu leistungsorientiert. Zum Beispiel wird die Ausbildungsvergütung eines Jugendlichen auf das Hartz IV-Einkommen der Eltern angerechnet. Was können denn die Kinder dafür, wenn die Eltern arm sind? Das ist total ungerecht und demotivierend.

Aus Ihren Erfahrungen heraus haben Sie politische Forderungen entwickelt. Welches sind die drei wichtigsten, um Kinderarmut zu bekämpfen?

Wenn ich mich auf drei beschränken muss, würde ich sagen: Kinderrechte ins Grundgesetz, Ausbau des Ganztags-Schulsystems und Aufbau eines Mentorenprogramms. Eine vierte Forderung wäre die Kindergrundsicherung. Diese hat die SPD auch schon auf ihrem Parteitag beschlossen, sie wird aber wahrscheinlich wegen des riesigen Konjunkturprogramms erst einmal zurückgestellt.

Was für ein Mentorenprogramm stellen Sie sich vor?

Wenn man als Kind arm ist, hat man tendenziell kein Netzwerk. Das braucht es aber, um gesellschaftlich weiterzukommen. Um Einblicke zu bekommen in ein anderes Leben und Ideen, was möglich ist. Ich finde die Initiative „Balu & Du“ interessant. Dort werden Grundschüler zur Unterstützung mit Freiwilligen zusammengebracht, die sie durch die Schulzeit begleiten. Ich hatte an meinem internationalen Gymnasium auch eine Mentorenfamilie, die mir sehr geholfen hat.

Sie sind SPD-Mitglied. Streben Sie eine politische Karriere an?

Ich habe auf jeden Fall Ambitionen, politisch etwas zu verändern – und das geht am besten in einem Parteiamt. Aber gerade halte ich mir das noch offen. Vielleicht bleibe ich nach meinem Studium auch in den USA.

Sie waren mehrfach als „Betroffener“ in Talk-Shows eingeladen. Mit der Erzählung: Er war arm und hat es trotzdem geschafft. Wie fühlt sich das für Sie an?

Ich finde das eher irreführend. Ich freue mich über die Anerkennung, werde dann aber meistens auf meine persönliche Geschichte reduziert. Das ist eben einfacher, als den Kontext zu sehen: Nämlich dass immer noch etwa drei Millionen Kinder in Deutschland in Armut leben.

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