Kölner Pflegedienste für behinderte KinderPersonalmangel macht Kita-Besuch unmöglich

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Im Alltag brauchen Familien mit behinderten Kindern Unterstützung.

  • Mert ist seit seiner Geburt behindert. Seine Familie wird unterstützt vom Pflegedienst „Wir für Pänz“, der weniger leisten kann, als er will.
  • Denn in Köln gibt es nur zwei Dienste für häusliche Kinderkrankenpflege. Und leider kaum qualifiziertes Personal.
  • Kostenlose Infoveranstaltung am 14. November im studio dumont.

Kinderkrankenpflegedienste finden auch in Köln kaum mehr Personal und müssen täglich Anfragen von Familien mit schwerkranken und behinderten Kindern abweisen. Die Folge: überlastete Eltern und Kinder, die zum Beispiel nicht mehr die Kita besuchen können, wie der vierjährige Mert.

Ihre drei größten Schätze trägt sie jeden Tag um den Hals. Die Kölnerin Ipek Y. (alle Namen geändert) hat eine goldene Kette, die aus den Schriftzügen der Namen ihrer drei Kinder besteht. Denn Ipek und ihr Mann haben vor vier Jahren Drillinge bekommen. Leider viel zu früh. Mert und seine zwei Geschwister wurden in der 23. Schwangerschaftswoche geboren. Als Extrem-Frühchen, aus medizinischer Sicht kaum überlebensfähig.

Mert war damals mit 23 Zentimetern weniger als halb so groß wie ein gesundes Neugeborenes. Sein Gewicht: 353 Gramm. Seine beiden Geschwister waren ein wenig größer und kräftiger. Über ein halbes Jahr wurden die Frühchen in der Klinik betreut, bis sie im Sommer 2016 endlich nach Hause konnten. „Das war die schlimmste Zeit unseres Lebens“, sagt Ipek rückblickend. Jeden Tag aufs Neue die riesige Angst um das Leben ihrer drei Kinder. Wenn sie an diese Monate zurück denkt, füllen sich ihre dunklen braunen Augen sofort mit Tränen.

Schwieriger Familienalltag

Mert ist seit seiner Geburt schwerstbehindert und auch immer wieder akut krank. Für seine medizinische Versorgung braucht die Familie professionelle Unterstützung. Seit die Drillinge aus der Klinik entlassen wurden, gehören ambulante Fachkräfte vom Kölner Pflegedienst „wir für pänz“ zum Familienalltag. Ohne sie könnte Familie Y. die notwendige medizinische Versorgung von Mert nicht bewältigen.

Der Vierjährige hat Epilepsie, kann weder sprechen noch sitzen und musste anfangs lange beatmet werden. In seinem Körper trägt er zwei Sonden, eine im Magen und eine im Darm, damit er Nahrung bei sich behalten kann. Er wurde schon sechsmal operiert, sein kleiner Körper ist übersäht mit Narben. Er hat fast täglich Krampfanfälle, erbricht und aspiriert, das heißt er droht zu ersticken. Dann müssen seine Eltern blitzschnell handeln. Doch leider kann der Kinderkrankenpflegedienst die Familie nicht so umfassend betreuen, wie es nötig wäre.

Infoveranstaltung

Podiumsdiskussion: „Am Limit – Fachkräftemangel in der ambulanten Kinderkrankenpflege“ Donnerstag, 14. November, 18 -20 Uhr studio dumont, Breite Str. 72, Köln   „Wir für Pänz e.V.“ feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass findet zum Thema Fachkräftemangel eine Podiumsdiskussion statt. Für die ambulante Kinderkrankenpflege wird es immer schwieriger, examinierte Pflegefachkräfte zu gewinnen. Es diskutieren Prof. Michael Weiss (Ärztlicher Direktor des Kinderkrankenhauses Amsterdamer Straße) Prof. Dr. Michael Isfort (Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V.), Dr. Christine Riesner (Referat für Pflegewissenschaft und –pädagogik, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen), Dr. Harald Rau (Beigeordneter der Stadt Köln für Soziales, Integration und Umwelt),  Dr. Carola Weber (Oberärztin der Abt. für Pädiatrische Hämatologie/ Onkologie am Universitätsklinikum in Bonn), Horst Schwering (Stellvertretender Regionaldirektor Köln der AOK), Corinne Ruser (Geschäftsführerin Bundesverband Häusliche Kinderkrankenpflege) Susanne Mehnert (Pflegedienstleitung wir für pänz e.V.).  Moderation:  Anke Bruns. Der Eintritt ist frei. Um Anmeldung wird gebeten unter  podium@wir-fuer-paenz.de

Bewilligt von der Krankenkasse sind momentan pro Woche 40 Stunden Behandlungspflege mit medizinischer Kindergartenbegleitung für Mert. Doch „wir für pänz“ kann der Familie aktuell nur sieben Stunden fachpflegerische Versorgung an zwei Tagen pro Woche anbieten. „Mehr Kapazitäten haben wir leider nicht“, sagt die stellvertretende Pflegedienstleitung Michaela Schulze. Jede Woche bekommt sie und ihr Team Anfragen, die der Pflegedienst ablehnen muss. Aus Kapazitätsgründen. Die Lage ist prekär.

Nur zwei Anbieter in Köln

In Köln gibt es nur zwei Dienste für häusliche Kinderkrankenpflege. Und leider kaum qualifiziertes Personal. „Mittlerweile haben wir nur noch so wenige Kräfte, dass wir den Bedarf in der Stadt nicht mehr abdecken können“, sagt Susanne Mehnert, Pflegedienstleiterin bei „wir für pänz“. Sie und ihre Mitarbeiter können nur noch versuchen, notdürftig die Löcher zu stopfen.

Mert wird sein Leben lang auf eine fachpflegerische Versorgung angewiesen sein. Er bräuchte eine Fünf-Tages-Versorgung, damit er regelmäßig den Kindergarten besuchen kann. Doch das ist momentan undenkbar. „wir für pänz“ kann aktuell keine neuen Kinder aufnehmen, die aus der Klinik entlassen werden. Manche Eltern wenden sich in ihrer Not an einen Altenpflegedienst, doch diese Mitarbeiter haben eine ganz andere Ausbildung und sind nicht auf die Bedürfnisse der Kleinen spezialisiert. „Es lastet ein enormer Druck auf den Familien. Die Eltern leiden in der Regel unter schwerem Schlafmangel, auch weil sie über Jahre hinweg mehrmals nachts aufstehen müssen. Das alles hat große Auswirkungen auf das gesamte Familiengefüge, denn auch die Geschwister kommen durch die Situation oft zu kurz“, erklärt Susanne Mehnert.

Mert ist ein besonderes Kind

Wie belastet die Eltern von schwerstkranken und schwerstmehrfach behinderten Kindern sind, lassen sie sich von außen oft nicht anmerken. Auch Ipek Y. ist eine starke Frau. „Meine Kinder geben mir Kraft“, sagt sie, und dass Mert ein sehr zufriedenes und genügsames Kind sei. Da er nicht sprechen und kaum sehen kann, kommuniziert sie mit ihm vor allem über Kitzeln und Kuscheln. Das liebt der Vierjährige, der von seinen Eltern auf Türkisch „Askim“, also „Schatz“ genannt wird. „Für mich ist er kein behindertes, sondern ein besonderes Kind“, sagt Ipek. Doch wenn die Mutter kurz darauf berichtet, dass sie nicht mehr fest schlafen kann, seit ihre Drillinge auf der Welt sind, dass es für sie inzwischen normal geworden ist, viermal pro Nacht aufzustehen um Mert in Seitenlage zu bringen, da er sich selbst nicht umdrehen kann, wird deutlich, wie dringend die Familie auf Unterstützung angewiesen ist.

Familien brauchen dringend Entlastung

„Kinderintensivpflege ist vor allem Entlastungspflege für die Eltern“, sagt Pflegedienstleiterin Susanne Mehnert. „Doch wir merken seit Längerem, dass wir den benötigten Versorgungsumfang nicht mehr leisten können.“ In den Medien sei vor allem die Altenpflege im Fokus oder die Situation in den Kliniken. „Die ambulante Kinderpflege wird da leider oft wie ein Stiefkind behandelt“, findet Michaela Schulze. Dabei herrsche hier genau so akuter Pflegenotstand. Das Jubiläum des 30-jährigen Kölner Vereins steht daher ganz unter dem Motto „Am Limit – Fachkräftemangel in der ambulanten Kinderpflege“ (siehe Kasten).

Zu wenig junges Pesonal rückt nach

Dass die Lage so schwierig geworden ist, hat mehrere Ursachen. Nach wie vor gelten Pflegeberufe in der breiten Öffentlichkeit als unattraktiv. Auch wenn die Vergütung in den vergangenen Jahren leicht gestiegen ist: Schicht- und Nachtdienste gehören zum Berufsalltag. In den Kliniken werden immer mehr Stellen nicht nachbesetzt, so dass der Druck auf das bleibende Personal mit den Jahren immer größer geworden ist. „Auch bei uns ist immer weniger junges Pflegepersonal nachgerückt, so dass wir die Auswirkungen jetzt deutlich spüren. Ich könnte direkt heute mehrere Fachpflegekräfte einstellen, allein um die neuen Anfragen zu übernehmen“, so Susanne Mehnert. Doch anders als früher trudeln inzwischen nur noch wenige Bewerbungen ein.

Experten sehen den Grund dafür auch in der veränderten Pflegeausbildung: Ab 2020 wird diese per Gesetz generalisiert und zusammengelegt in eine Ausbildung in der Alten-, Kinder und Krankenpflege. Bis 2026 können sich Azubis zwar noch für einen einzelnen Zweig entscheiden, doch dieser Abschluss wird dann nicht mehr EU-weit anerkannt. „Zukunftsorientiere junge Menschen werden den generellen Abschluss wählen. Und das bedeutet für uns nochmal weniger Pflegepersonal.“

Die konkreten Folgen des Notstands: Schwerkranke und schwerstbehinderte Kinder müssen oft viel länger als notwendig in der Klinik bleiben. Eltern telefonieren oft wochenlang herum, um einen Pflegedienst zu finden oder müssen ihr Kind in eine der wenigen bundesweiten stationären Wohngruppe verlegen lassen. Wer gar keine Hilfe findet, muss in den sauren Apfel beißen und ohne Pflegedienst nach Hause gehen. Schon beim geringsten medizinischen Problem müssen Eltern und Kind dann sofort in die Klinik. Optimal ist das nicht, denn die betroffenen Familien haben ja einen Anspruch auf die fachpflegerische häusliche Versorgung.

„Wir brauchen eine faire Bezahlung“

Die Arbeit in der ambulanten Kinderkrankenpflege ist ein herausfordernder und gleichzeitig sehr sinnstiftender Beruf. „Wir können nicht dazu beitragen, dass Kinder wie Mert gänzlich gesund werden. Manche Kinder, die wir betreuen, erreichen nur das Jugendalter. Aber wir sorgen mit unserer Arbeit dafür, dass diese Kinder eine gute Lebensqualität haben. Und damit erreichen wir etwas wirklich Wichtiges“, so die Pflegedienstleiterin. Um überhaupt noch an Personal zu kommen, sind die Arbeitgeber inzwischen sehr flexibel geworden und gehen bei der Dienstplanung auf die individuellen Wünsche der Mitarbeiter ein. „Wir fordern eine faire und reale Finanzierung für die ambulante Kinderkrankenpflege. Um langfristig wieder Personal gewinnen zu können, müssen wir es gut bezahlen können“, sagt Pflegedienstleiterin Susanne Mehnert.

Was für die Mitarbeiter und Familien oft zusätzlich sehr belastend und langwierig ist, sind die Vergütungsverhandlungen mit den Krankenkassen. „Wir müssen für alles kämpfen“, sagt Ipek Y., die inzwischen vor dem Sozialgericht klagt. Ihr Sohn Mert hat jetzt, nach fast einem Jahr und langem Hin und Her, endlich die pflegerische Fachkraft für den Kindergarten bewilligt bekommen. Doch das nützt ihm nicht viel, wenn der Kinderkrankenpflegedienst dafür keine Kapazitäten hat. Bisher konnte der Vierjährige erst zwei Wochen lang den integrativen Kindergarten besuchen. Seine Eltern sind überzeugt, dass er sehr davon profitiert. „Da wird gespielt, gesungen und die Kinder kommen zu ihm. Mein Sohn hat doch auch ein Recht auf ein Leben außerhalb seiner Familie“, findet Ipek Y.

Stolz auf jeden kleinen Fortschritt

„Ich bin stolz auf jede kleine Bewegung, die Mert inzwischen alleine machen kann“, sagt die Mutter. Und trotzdem. An manchen Tagen, ohne Kinderkrankenpflegedienst, schafft sie es fast nicht vor die Tür zu gehen. Die Kraft reicht dann einfach nicht. Doch wenn die Kinderkrankenschwester kommt, kann Ipek Y. inzwischen loslassen. „Dann gehe ich alleine in den Supermarkt zum Einkaufen und genieße es. Das, was andere stressig finden, ist für mich die größte Entspannung.“

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