Mehr Klischee als KriseWarum Eltern keine Angst vor „Problemschulen“ haben sollten

Lesezeit 6 Minuten
Neuer Inhalt

„Die Probleme, die wir hatten, sehe ich jetzt als Potenziale“, sagt Hanna Fecht über ihre Schulzeit. 

Köln – Hanna Fecht hat in Bielefeld ein Gymnasium besucht, das im Ort als Problemschule galt. Sie selbst hat das nie so empfunden. Über ihre Schulzeit hat sie nun ein Buch geschrieben. Im Interview gibt sie Einblick in ihre Klasse und erklärt, warum es für Kinder gut ist, auf möglichst viele Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen zu treffen. 

Frau Fecht, wie sehr hat Sie die Schulzeit zu dem Menschen gemacht, der Sie jetzt sind? Hanna Fecht: Sehr, glaube ich. Meine Offenheit für verschiedene Kulturen, das Interesse an und die Wertschätzung für sie – das macht mich bis heute aus. Und das habe ich auf jeden Fall aus meiner Schulzeit gezogen.

Was war das für eine Schule, der das Etikett „Problemschule“ angeheftet wurde? Die Schülerschaft war bunt gemischt. Damit sind wir auch schon bei meinem Thema. Sogenannte Problemschulen sind ja dafür bekannt, dass sie einen hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund haben. In Brackwede hatten wir sehr viele türkischstämmige Menschen, mein Papa ist Palästinenser, wir hatten auch Leute aus Sri Lanka oder Nigeria. Wir hatten die komplette Bandbreite an Kulturen, und das hat auch zum Schulalltag gehört.

Zur Person

Hanna Fecht, 26, lebt in München und hat Medienkommunikation, Journalismus und Medienwissenschaft studiert. Sie hat unter anderem für die Cosmopolitan, InStyle, Elle, Zeit Online und Freundin geschrieben und ist heute Textchefin Digital bei InStyle.

Buchtipp: „Was für Ghettoschule?! Nicht für die Lehrer, für die Straße lernen wir“, Ullstein Verlag, 224 Seiten, 9,99 Euro

Wie kam es, dass die Schule als Problemfall dargestellt wurde? In Bielefeld weiß jeder, dass Brackwede migrantisch geprägt ist. Und natürlich gab es da schon gewisse Vorurteile vor allem gegenüber der türkischen und arabischen Kultur. Dass wir aber eine Problemschule sein sollen, haben wir erst gemerkt, als ein Artikel in der Lokalzeitung erschienen ist. In dem ging es um rückläufige Anmeldezahlen, die von jemandem aus der Schulverwaltung vor allem damit begründet wurden, dass es einen hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund gibt. Wir haben mit voller Wucht zu spüren bekommen, wie undifferenziert der Blick auf unsere Schule war. Plötzlich war sie ein Sorgenkind mit Imageproblem.

Haben Sie Ihre Schule als Kind nie als Problemschule wahrgenommen? Nein, überhaupt nicht. Natürlich haben wir im Vergleich zu renommierteren Schulen in Bielefeld gemerkt, dass wir einen etwas anderen Lifestyle haben. Wir wollten ein bisschen Straße oder Ghetto sein, das waren Sachen, die wir cool fanden. Wir haben Deutschrap gehört, haben anders geredet, die deutsche Sprache hat sich mit türkischen Begriffen gemischt. Aber wir haben uns deswegen nie als Problem wahrgenommen, sondern haben es geliebt.

Das Gespräch mit Hanna Fecht gibt es in voller Länge im Podcast „Schul-Check“:

Gab es denn Probleme? Ich glaube, dass der Blick auf die Probleme, die es an diesen Schulen gibt oder geben soll, viel mit Klischeedenken zu tun hat. Bei uns hat halt alltäglich Integration in einem Mikrokosmos stattgefunden. Wir haben viele Diskussionen geführt, bei denen ich jetzt im Rückblick sage, cool, dass wir das gemacht haben. Eigentlich steckte da so viel Potenzial drin bei dem, was wir verhandelt haben. Mal ging es um eine Grillfeier, bei der es erstmal keinen zweiten Grill für die Muslime geben sollte, auf dem ohne Schweinefett gegrillt wird, mal ging es um interkulturelle Beziehungen. Typisch Schulzeit, verliebt man sich auch mal, und da waren die Familien, die dahinterstanden, sehr unterschiedlich. Natürlich gibt es dann Probleme, aber wir haben immer versucht, Kompromisse zu finden und sind Schritte aufeinander zugegangen. Die Probleme, die wir hatten, sehe ich jetzt als Potenziale.

Warum ist der Blick auf Schulen wie Ihre dann so kritisch? Die Gesellschaft guckt auf diese Schulen – und macht dann einen Bogen drum. Sie guckt aber nicht wirklich rein. Das finde ich schade.

Sie sagen, die Diskussion gibt es vor allem, weil es an solchen Schulen viele Kinder mit Migrationshintergrund gibt. Wird also eine rassistische Diskussion geführt? Auf jeden Fall. Ich will keinen direkten Rassismus unterstellen, aber es gibt sehr viel Klischeedenken über bestimmte Kulturen, vor denen man dann Angst hat. Wenn jemand auf der Straße Türkisch spricht, wird immer wieder gefragt, kann der kein Deutsch, will der sich nicht integrieren? Wenn jemand aber Französisch oder Englisch spricht, fragt sich das niemand. Diese grundlegende Skepsis und das Misstrauen gegenüber der türkischen und arabischen Kultur spiegeln sich in vielen Dingen wider. Ich bin mit ihnen in der Schule groß geworden, habe so viel gelernt und fand sie immer schön. Wenn aber keine Wertschätzung da ist, entsteht Angst davor. Dann sind die Klischees im Kopf: Alle sind super streng religiös und können kein Deutsch.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie tolerant Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler mit den Überzeugungen und Bräuchen der anderen umgegangen sind, auch wenn diese ihnen fremd waren. Genau das meine ich mit Integration im Mikrokosmos. Ich habe einen Menschen vor mir, der sehr religiös ist, er trägt Kopftuch, und das ist ihm wichtig für sein Leben. Da kann ich sagen, okay, ist doch cool, mach das doch für dich so und ich mache es für mich, wie ich eben Bock darauf habe. Dann lernt man sich kennen und diese verschiedenen Lebensentwürfe spielen im Alltag gar nicht so eine große Rolle. Man nimmt den Menschen, wie er ist, und versucht dann, sich entgegenzukommen. Wenn bei uns jemand gefastet hat, haben wir nicht vor ihm gegessen. Wir wussten, das wäre respektlos und nicht cool. Auf der anderen Seite haben die, bei denen Religion eine starke und präsente Rolle im Leben gespielt hat, uns als allererstes zu Weihnachten oder zu Ostern beglückwünscht. Wir waren unterschiedlich und fanden auch, dass nicht alles gleich sein muss.

Das könnte Sie auch interessieren:

Und manchmal ging es bei Diskussionen auf dem Schulhof auch nur darum, wie unterschiedlich Köfte in den Familien zubereitet wurden, schreiben Sie. An privilegierteren Schulen in Bielefeld, so haben wir es wahrgenommen, ging es oft um die richtige Klamottenmarke und um Geld. Ich sehe nicht, warum diese Diskussionen für Kinder wertvoller sein sollen. Es wird oft so getan, als gäbe es eine bessere Bildung oder einen höheren Intellekt an Schulen, die von wohlhabenden Familien besucht werden.

Für wen haben Sie „Was für Ghettoschule?!“ geschrieben: Eltern, Lehrkräfte, Kinder? Es soll wie ein Coaching für die Leute funktionieren, die Angst vor sogenannten Problemschulen haben. Und dabei rede ich gar nicht viel über gesellschaftliche Probleme, es ist eher eine Einladung in mein Leben. Ich zeige meine Klassenkameraden und sage, guckt euch an, wie sich die Dinge vermischen, wie unterschiedlich wir alle leben. Es geht darum, die Menschen kennenzulernen, die hinter Schulen stehen, um die gerne ein Bogen gemacht wird.

Warum sollte kein Vater und keine Mutter davor zurückschrecken, ihre Söhne und Töchter an einer Schule mit zweifelhaftem Ruf anzumelden? Kinder werden offener und toleranter, wenn sie Menschen mit verschiedenen Lebensentwürfen kennenlernen. Es bereichert sie, wenn sie etwas vorgesetzt bekommen, was nicht eins zu eins so läuft wie zu Hause. Das formt den Charakter, gibt ihnen die Fähigkeit, um die Ecke zu denken, Pragmatismus zu entwickeln und Kompromisse einzugehen. Eltern sollten vielleicht damit anfangen, zu fragen, warum eine Schule einen zweifelhaften Ruf hat. Wenn dieser nur darin begründet liegt, dass sie viele Kinder mit Migrationshintergrund besuchen, schlage ich vor, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Vielleicht könnte es an diesen Schulen auch mehr Chancen als Probleme geben.

KStA abonnieren