Philosophie in der Schule„Die sprudeln vor Neugier“

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Anne Goebels (26) promoviert an der Uni Köln über das Thema „Grenzen und Möglichkeiten des Fachs Philosophie in der Primarstufe“.

Anne Goebels (26) promoviert an der Uni Köln über das Thema „Grenzen und Möglichkeiten des Fachs Philosophie in der Primarstufe“.

Frau Goebels, Sie kommen gerade aus einer Philosophiestunde, die Sie an einer Kölner Grundschule gegeben haben. Lange war nicht klar, ob Sie den Namen der Schule nennen dürfen. Warum nicht?

Weil Philosophie in Nordrhein-Westfalen kein reguläres Fach in der Primarstufe ist. Trotzdem wird es an vielen Grundschulen – quasi unter der Hand – unterrichtet.

Anne Goebels (26) promoviert an der Uni Köln über das Thema „Grenzen und Möglichkeiten des Fachs Philosophie in der Primarstufe“.

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Warum?

Ich habe mit Lehrkräften und auch Schulleitungen von Grundschulen in ganz NRW gesprochen, die Ethik oder Philosophie als Ersatz für den Religionsunterricht anbieten. Alle sagten: Wenn ein Drittel der Jahrgangsstufe nicht am Religionsunterricht teilnimmt, ist es nicht gut, wenn diese Kinder zwei Stunden pro Woche mehr oder minder absitzen. Die Schule hat schließlich einen Bildungsauftrag.

Das heißt, aktuell haben Grundschüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, während dieser Zeit frei?

Wenn der Unterricht in einer Randstunde liegt, ist das oft der Fall, ja. Ansonsten richten Grundschulen sogenannte Auffanggruppen ein – ein hässliches Wort. In diesen Gruppen beschäftigen sich die Kinder in der Regel selbst, indem sie lesen oder spielen. Aber seien wir ehrlich: Es ist ein Loch im Stundenplan, und die Kinder langweilen sich.

Als Alternative gibt es in einigen Bundesländern das Fach Philosophie. Sie untersuchen in Ihrer Dissertation gerade, wie Kinder eigentlich philosophieren. Vermutlich nicht, indem sie Kant lesen?

Es geht – ganz im Sinne Kants – um das „Philosophieren lernen“, nicht um das Lehren von Gedanken. Philosophieren in der Grundschule ist zu verstehen als ein eigenständiges Philosophieren. Als ein Selberdenken, auch als gemeinsames Weiterdenken. Dabei geht es um Fragen und Themen, die aus der Lebenswelt der Kinder stammen und sie beschäftigen.

Welche zum Beispiel?

Ein ganz großes Thema ist zum Beispiel Freundschaft. Was erfordert Freundschaft? Warum ist es wichtig, Freunde zu haben? Ist das überhaupt wichtig? Selbst da gibt es bei den Kindern unterschiedliche Meinungen. Ich sage dann gern, nachdem ich die Meinungen der Kinder gehört habe: Ihr habt gesagt, ihr findet Freundschaft wichtig – Aristoteles hat vor über 2000 Jahren schon dasselbe gesagt. Dann werden die Augen der Kinder ganz groß. Sie wollen mehr wissen und wir vergleichen zum Beispiel Aristoteles’ Freundschaftsbegriff mit dem der Lerngruppe.

Schrecken Namen wie Aristoteles Achtjährige nicht ab?

Nein, gar nicht. Das versetzt sie in Staunen und ist für sie eher spannend. Gerade weil sie mit diesen Namen vermutlich noch nicht in Berührung gekommen sind. Kinder tragen eine natürliche Neugier in sich – das ist die Basis, auf der Philosophieunterricht in der Grundschule überhaupt erst stattfinden kann. Denn Neugier treibt das Denken an. Ihre Neugier und ihr Interesse gilt Fragen rund ums menschliche Dasein, um die Welt und mehr.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Letzte Woche ging es, losgelöst vom Unterrichtsthema, um eine Fremdsprache, die ein anderes Kind nicht so gut spricht. Da schaut die Schülerin mich an und fragt: „Warum heißt eigentlich Sprache Sprache? Und wer hat überhaupt die Sprache erfunden?“ Darauf sagte ihre Mitschülerin: „Das frage ich mich auch ganz oft! Ich frage mich, warum heißt eigentlich der Schrank nicht Socke?“ Das ist grandios! Die sprudeln vor Neugier.

Ist denn Fragenstellen schon Philosophieren?

Mit dem Fragenstellen fängt es an. Das kann auch eine Frage sein, die eigentlich nicht auf eine philosophische Antwort abzielt, aber – wenn man zurückfragt – in ein philosophisches Gespräch mündet.

Haben Sie ein Beispiel?

Die Kinder kennen aus dem normalen Unterricht meist das Schema: Ich stelle eine Frage und bekomme eine Antwort. Oder: Die Lehrerin stellt eine Frage, ich antworte, und die Lehrerin sagt „richtig“ oder „falsch“. Ein Kind hat letzte Woche während einer Gruppenarbeitsphase gefragt, ob Freundschaft erfordert, dass man respektvoll miteinander umgeht. Ich hätte sagen können: „Ja“. Ich habe aber zurückgefragt: „Was denkst du denn? Und warum denkst du das? Und was denken deine Gruppenmitglieder?“ Meine Schüler sind nach einem Halbjahr inzwischen schon so weit, dass sie selbst einfordern: „Versuch mich zu überzeugen!“ Die haben schon einen philosophischen Habitus entwickelt.

Aber Themen wie Freundschaft oder Sprache spielen ja auch im Deutschunterricht eine Rolle. Wozu braucht es da noch zwei Philosophiestunden pro Woche?

Unterricht steht generell unter dem Zwang eines Lehrplans. Das heißt: Schüler müssen in einem gewissen Zeitfenster bestimmte Dinge lernen oder Kompetenzen erwerben. Ziel des Philosophieunterrichts sollte es aber sein, dass man auf ihre eigenen Fragen und Geschichten tiefer eingeht. Das ist im normalen Unterricht nicht möglich.

Aber wenn Philosophie Grundschulfach würde, bräuchte es doch auch einen Lehrplan.

Das ist richtig. Für NRW gibt es sogar schon einen Lehrplanentwurf. Die Frage, an der ich in meiner Dissertation arbeite, setzt genau da an: Wie kann man einen Lehrplan „von unten“ gestalten, also so, dass man die Schüler und deren Themen in den Blick nimmt, und nicht nur das Curriculum der Sekundarstufe 1 herunterbricht?

Was sind Ihre Vorschläge?

Auf jeden Fall bräuchte so ein Unterricht viel Flexibilität. Man könnte zum Beispiel grobe Themen setzen, ohne vorzugeben, welche in welchem Halbjahr abgehandelt werden und welche Fragestellung spezifisch in den Blick genommen werden soll.

Wenn die Kinder in philosophischen Fragen so sprudeln – warum gibt es das Fach nicht längst?

Gute Frage. Viele haben natürlich, wenn sie das Wort Philosophie hören, erst mal Ehrfurcht, etwa vor schwierigen Kant-Texten. Aber so darf man sich das nicht vorstellen – wir lesen keinen Kant! Ich versuche zwar gerade, Michel de Montaigne für Kinder umzuschreiben, aber natürlich gekürzt und kindgerecht formuliert. Grund dafür ist, dass sich in seinen Essais Schüleräußerungen wiederfinden lassen.

Aber angedacht wurde das Thema offenbar auch in NRW – sonst gäbe es keinen Lehrplanentwurf.

Die Einrichtung eines philosophischen Faches für die Grundschule wird zwar – auch auf politischer Ebene – diskutiert, aber hier spielen viele Aspekte eine Rolle. Etwa die Hälfte der Grundschulen in NRW ist in kirchlicher Trägerschaft, und es heißt, die Kirche würde dieses Vorhaben nicht unterstützen. Religionslehrer, mit denen ich gesprochen habe, sind aber grundsätzlich von der Idee begeistert. Leider steht das Thema auf der politischen Agenda nicht an oberster Stelle.

Das Gespräch führte Michael Aust

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