Abo

Experte im InterviewWoran können Erwachsene erkennen, ob ein Kind missbraucht wird?

Lesezeit 11 Minuten
Neuer Inhalt

Gibt es Anzeichen dafür, dass ein Kind Opfer von sexueller Gewalt geworden ist?

  • Immer wenn ein neuer Fall von Kindesmissbrauch ans Licht kommt, werden die gleichen Fragen gestellt: Warum wurde das nicht früher bemerkt? Hat man nicht gut genau hingeschaut?
  • Doch würde man selbst im Zweifelsfall bemerken, wenn das eigene oder ein nahe stehendes Kind zum Opfer wird?
  • Präventionsexpertin Ulli Freund erklärt, worauf Erwachsene achten müssen, wie sie bei einem Missbrauchsverdacht handeln können – und was sie auf keinen Fall tun sollten.

Köln – Viele Kinder vertrauen sich niemandem an, wenn sie von Missbrauch betroffen sind. Können Erwachsene trotzdem erkennen, dass ein Kind in Not ist? Gibt es eindeutige Anzeichen dafür, dass ein Kind sexuell missbraucht wird? Ulli Freund: Es gibt keine eindeutigen Anzeichen oder bestimmte Symptome, aber manchmal doch Hinweise. Heute wissen wir, dass Kinder sich häufig verändern nach sexuellem Missbrauch. Und diese Veränderungen können Eltern oder Pädagogen auffallen.

Welche Veränderungen könnten das sein?

Es gibt vielfältige Beispiele. Manche Kinder werden auf einmal still, starren vor sich hin, driften in ihre Fantasiewelt ab. Vorher lebhafte Kinder werden vielleicht plötzlich aggressiv. Oder Kinder verletzen sich selbst. Viele dieser Veränderungen sind immer auch Reaktionen auf den Missbrauch. Es sind Versuche, sich zu wehren. Manche Kinder essen zum Beispiel plötzlich ganz viel – sie futtern sich eine Fettschicht an, damit sie für den Täter oder die Täterin unattraktiv werden. Oder sie ziehen sich extrem zurück und hoffen, unsichtbar zu werden, damit der Täter oder die Täterin sie nicht mehr richtig wahrnimmt.

Veränderungen dieser Art können aber auch auf neue Lebensumstände des Kindes hinweisen, auf das es reagiert. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Kind aggressiv wird, weil es ein neues Geschwisterchen hat und sich zurückgewiesen fühlt. Oder ein Kind ist verzweifelt und traurig, weil ein Großelternteil gestorben ist. Es ist nichts eindeutig. Aber man sollte immer auf solche Anzeichen reagieren.

Wie sollte man am besten reagieren?

Zur Person

Ulli Freund ist freiberufliche Präventionsexpertin und Mitglied im Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs des Bundes.

Es ist wichtig, Anzeichen nicht blind zu deuten, sondern mit dem Kind zu sprechen. Es zu fragen, ob es Kummer hat, ob es etwas gibt, das es belastet, was es sich vielleicht bisher nicht getraut hat, jemandem zu sagen. Und zu signalisieren, dass man die richtige Ansprechperson ist. Man sollte das Kind aber keineswegs ausfragen.

Wir wissen aus der Forschung, dass Kinder sich bei sexueller Gewalt durchaus mitteilen. Aber sie müssen gefragt werden. Und den meisten Kindern fehlt eine solche Brücke, die Erwachsene ihnen bauen. Kinder schaffen es häufig nicht von sich aus, den ersten Schritt zu machen, die Hürde zu überwinden. Weil sie oft keinen Begriff für das Thema haben und nicht wissen, ob das etwas ist, was in dieser Welt, also bei ihren Eltern, Lehrern und Erziehern bekannt ist. Viele Kinder denken ja, sie sind die ersten und einzigen, denen so etwas passiert. Sie können es nicht einsortieren und wissen nicht, wie sie die erwachsene Welt darauf ansprechen sollen.

Wenn aber umgekehrt Erwachsene feinfühlig sind und Signale registrieren, dann ist es für Kinder auch möglich, darüber zu sprechen. Das klappt in vielen Fällen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wie genau sollte man ein solches Gespräch mit dem Kind führen?

Eltern sollten auf keinen Fall fragen: „Sag mal, wirst du missbraucht!?“ Ein möglicher Gesprächsanfang wäre zum Beispiel: „Du weißt doch, wir haben dich lieb, aber in letzter Zeit fällt uns auf, dass du dich verändert hast. Wir möchten nicht mit dir schimpfen, sondern nur besser verstehen, wie es dir geht. Gibt es etwas, das dich bedrückt? Magst du uns etwas erzählen? Ist irgendjemand blöd zu dir, hast du etwas Unangenehmes erlebt? Mit uns kannst du alles besprechen.“ Eltern sollten dem Kind signalisieren, dass alles raus darf, was es bedrückt. Und dass es auch in Ordnung ist, schlechte Geheimnisse zu erzählen.

Dann aber ist es wichtig, dass Eltern auch offen sind für alles, worüber die Kinder oder Jugendlichen dann sprechen wollen. Das kann auch bedeuten, erst einmal keine Antworten zu bekommen. Man muss bedenken, dass ein solches erstes Gesprächsangebot für viele Kinder erstaunlich ist. Sie haben damit vielleicht nicht gerechnet und müssen erst einmal nachdenken. Und oft sagen sie dann zunächst gar nichts. Das heißt aber nicht, dass alles gut ist.

Wie reagiert man am besten auf das Schweigen?

Hier finden Betroffene Hilfe

Das Hilfeportal Sexueller Missbrauch ist das zentrale Bundesportal für Betroffene und Angehörige. Hier findet man unter anderem Beratungsstellen und Therapieangebote in der Nähe des Wohnorts.

Das Hilfetelefon für sexuellen Missbrauch (0800-22 55 530) ist die bundesweite, kostenfreie und anonyme Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt, für Angehörige, Fachkräfte und für alle Interessierten.

Eltern sollten noch einmal betonen, dass das Kind immer zu ihnen kommen kann, wenn es ein Problem hat. Dass die Eltern das aushalten, sie zu ihm halten und ihm helfen. Aber die Eltern sollten dann auch selbst ein paar Tage später noch einmal nachfragen. Es ist gut, mehrere Anläufe zu machen. Wichtig ist es aber, unaufgeregt zu bleiben und keinen Druck auszuüben. Die Kinder sollen nicht den Eindruck bekommen, sie müssen den Eltern etwas bieten.

Manche Eltern sind ja so aufgeregt und besorgt, dass gerade jüngere Kinder denken, sie müssten etwas erzählen, damit Mama und Papa sich beruhigen. Es kann passieren, dass Eltern aus Sorge Gespräche führen, die die Kinder manipulieren. Wenn sie mit panisch aufgerissenen Augen schon zum dritten Mal nachfragen „Ist irgendwas im Kindergarten? Hat es etwas mit dem neuen Erzieher zu tun?“, dann sagt das Kind sehr wahrscheinlich irgendwann „Ja“. Ganz schnell haben Eltern dann kleinen Kindern eine Geschichte nahegelegt. Nicht weil sie das wollen, sondern weil sie sich sorgen und schon eigene Vermutungen haben. Dann kann es auch passieren, dass Kinder Dinge sagen, die nicht zutreffen. Nicht weil sie sich die ausgedacht haben, sondern weil sie es ihren Eltern recht machen wollen.

Kann es sinnvoll sein, andere vertraute Menschen beim Kind nachhören zu lassen - weil ein Kind vielleicht bei den Eltern besonders gehemmt ist?

Das kann wichtig sein. Viele Kinder wollen es den Eltern sehr gerne sagen, aber sie haben Angst, sie zu sehr zu belasten oder ihnen Kummer zu machen. Dann können natürlich der Patenonkel oder die Oma schon die richtigen sein. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn in der Familie üblich ist, dass nicht immer alles innerhalb der engsten Kreise besprochen werden muss.

Wenn man einen Verdacht hat, das eigene Kind könnte Opfer sein. Wie geht man am besten vor?

Wenn man einen Verdacht hat, würde ich Eltern raten, nicht zu lange zu warten, zu beobachten und zu überlegen, sondern sich zeitnah an eine spezialisierte Fachberatungsstelle gegen sexuelle Gewalt zu wenden. Vielen Kindern könnte geholfen werden, wenn Erwachsene rechtzeitig die Hilfe solcher Fachberatungsstellen in Anspruch nehmen würden.

Es gibt in Deutschland ein Netz solcher Fachberatungsstellen. Auf unserem Hilfeportal kann man die eigene Postleitzahl eingeben, dann werden einem die Beratungsstellen in der Nähe genannt. Dort können Hilfesuchende längere Beratungsgespräche führen, sich Informationen holen. Erwachsene können erzählen, was ihnen Sorgen macht. Sie können zum Beispiel nachfragen, wie man mit seinem Kind darüber sprechen kann. Wie man dabei Ruhe bewahrt. Und was man als nächstes unternehmen kann.

Wie ist es, wenn es nicht um das eigene Kind geht, man etwa den Verdacht hat, das Nachbarskind oder ein Schulfreund des eigenen Kindes wird missbraucht – wie geht man dann vor?

Da geht man ähnlich vor. Zunächst einmal ist die Frage, ob man selbst das Kind gut genug kennt und einen so intensiven Draht hat, dass man für es eventuell die richtige Ansprechperson sein könnte. Wenn das nicht der Fall ist, könnte man überlegen, wer eine Vertrauensperson sein könnte.

Sollte man nicht über die Eltern des Kindes gehen?

Das kommt darauf an. Wenn mein Kind mir berichtet, dass der Freund zuhause etwas Schlimmes erlebt, dann sind die Eltern wahrscheinlich die schlechtesten Ansprechpersonen. Dann würde ich eher über eine Fachberatungsstelle gehen oder gegebenenfalls dem Jugendamt einen Hinweis geben.

Sollte man mögliche Täter direkt ansprechen und den Verdacht äußern?

Nein. Der Verdächtige wird auf eine solche Konfrontation auf jeden Fall mit Abwehr reagieren. Das bringt gar nichts. Und es wird nicht dazu führen, dass das Kind gerettet wird. Im Gegenteil. Viele Täter und Täterinnen, die so konfrontiert werden, erhöhen eher noch den Druck auf das Kind.

Auf der anderen Seite besteht ja auch immer die Gefahr, dass ein solcher Missbrauchsverdacht riesige Kreise zieht und im Endeffekt vielleicht jemand Unschuldiges unter Beschuss steht…

Das darf nicht passieren. Deshalb ist unser Rat, immer diskret zu bleiben und den Kreis derer, die sich Sorgen machen, so klein wie möglich zu halten. Nicht mit allen Nachbarn oder Eltern in der Kita zu sprechen, sondern das Problem mit ein zwei Vertrauten anzugehen und sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Damit der Ruf dieser Person, die da möglicherweise unter Verdacht gerät, nicht ohne Grund beschädigt wird.

Wann muss man doch schnell handeln?

Schnell ist fast nie richtig. Denn das bedeutet, unüberlegt und aus einem ersten Impuls heraus zu handeln. Und diese Schritte sind oft nicht am Kindeswohl orientiert. Man muss auf jeden Fall handeln, weggucken geht nicht. Abwarten geht nicht. Aber man sollte so handeln, dass das Kind nicht geschädigt wird.

Wie ist es bei einem Missbrauchsverdacht in öffentlichen Einrichtungen oder im Freizeitumfeld?

Da können Erwachsene schon selbst handeln. Wenn man erfährt, dass in einem Sportverein oder beim Musikunterricht jemand Kindern gegenüber übergriffig wird, dann können die Eltern das Kind abmelden, den Vereinsvorstand informieren oder die Familie betroffener Kinder ansprechen. Die Eltern des Kindes haben eine Pflicht, das Kind zu schützen und Gefahren von ihm fern zu halten.

Wenn die allerdings solche Verdachtshinweise nicht ernst nehmen sollten, sich zum Beispiel blind hinter den Klavierlehrer stellen, weil sie ihn schon Ewigkeiten kennen, können Lehrerinnen und Lehrer oder andere Eltern sich ans Jugendamt wenden.

Sie sprechen da einen wichtigen Punkt an. Das Unvorstellbare an Missbrauchsfällen ist ja oft, dass der Täter aus dem eigenen Umfeld stammt. Das können und wollen sich viele Erwachsene überhaupt nicht vorstellen. Dauert es deshalb oft so lange, bis Fälle ans Licht kommen?

Ganz genau. Weil es um etwas Unvorstellbares geht. Dass jemand Kindern so etwas antut. Sich vorzustellen, dass ein Mensch, dem man vertraut oder den man liebt, dem eigenen Kind etwas zufügt, ist wirklich unvorstellbar. Dann ist es leichter zu sagen, das Kind hat eine blühende Fantasie. Dann bleibt alles beim Alten. Dann muss man nicht sein ganzes Leben in Frage stellen.

Die erste Aufgabe im Kinderschutz ist: Man muss Kindern glauben. Wenn man ihnen nicht glauben will, dann bleiben sie alleine. Wenn man dagegen ernst nimmt, was Kinder sagen, muss man als Privatperson im Zweifelsfall damit rechnen, dass die eigene Welt sich verändern wird. Dass eine Trennung folgt, etwas zerbricht. Es wird sich alles ändern, in dem Moment, in dem man Kindern glaubt. Das ist für viele Erwachsene undenkbar.

Schweigen deshalb so viele betroffene Kinder, weil sie Angst haben, dass ihnen nicht geglaubt wird?

Ja, weil sie ja wissen, dass Erwachsene im Prinzip andere Erwachsene immer ernster nehmen als Kinder. Es ist gesamtgesellschaftlich so üblich, dass man Kinder nicht so ernst nimmt und sie eher an zweiter Stelle stehen, wenn es um Glaubwürdigkeit geht. Besonders für Kinder mit Beeinträchtigung ist es schwierig, Gehör zu finden. Oft glaubt ihnen keiner.

Vor Missbrauch schützen kann man Kinder leider nicht. Aber kann man sie handlungsfähig machen, dass sie sich im Zweifelsfall besser wehren können?

Körperliche Gegenwehr scheidet fast immer aus, weil Kinder meist schwächer sind. Außerdem beginnen die meisten Missbrauchssituationen so, dass Kinder verwirrt und eingewickelt werden. So eine Tat bahnt sich ja langsam an. Jemand ist nett zu ihnen, hört ihnen zu, macht Geschenke, gibt ihnen Anerkennung und schenkt ihnen Zeit. Und die ersten Berührungen sind eben meist nicht eklig. Sie werden oft mit Raufen und Zärtlichkeit vermischt. Dagegen wehren sich die meisten Kinder nicht. Und wenn es dann anders und komisch wird, ist das Kind dem Menschen schon so nah, dass es nicht plötzlich anfängt, sich körperlich zu wehren, zu schreien oder loszutreten. Es wird eher still und dreht sich weg. Was einem entschlossenen Täter egal ist.

Was man aber Kindern grundsätzlich mitgeben kann, ist das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper. Sie sollten von klein auf im Alltag erfahren, dass man ihre Grenzen respektiert – zum Beispiel, indem sie nicht einfach geküsst, angefasst, geknuddelt oder auf den Schoß gezogen werden, wenn sie das nicht wollen. Viele Erwachsene tun das auch unbedacht. Gerade Eltern sind so hin und weg von ihren Kindern, dass sie die Grenzen oft nicht so gut wahren. Und damit machen sie es denjenigen leicht, die es darauf anlegen, die Grenzen der Kinder zu überschreiten.

Kinder, die es gewohnt sind, dass ihre Grenzen respektiert werden und die diese auch ganz selbstbestimmt setzen können, die werden irritiert sein über das, was der Täter oder die Täterin tun. Und wenn sie bemerken, dass etwas komisch ist, entscheiden sie sich eher dazu, dort nicht mehr hinzugehen oder es jemanden zu erzählen.

KStA abonnieren