Wochenbett-DepressionWenn man wegen einer übergelaufenen Windel in Tränen ausbricht

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Die Tage nach einer Geburt gleichen einer Achterbahnfahrt der Gefühle. 

  • Die Zeit kurz nach der Geburt eines Kindes ist für viele Frauen ein Ausnahmezustand.
  • In den Niederlanden erhalten Mütter seit Jahrzehnten Unterstützung im Wochenbett, bezahlt von den Krankenkassen.
  • Charlotte Böddeker und Helga Singula haben sich in der „Aurora Mütterpflege Rhein-Sieg“ zusammengeschlossen und kümmern sich um Frauen im Wochenbett.

Es gibt Situationen im Leben, da wünscht sich eine Frau nichts sehnlicher als eine gute Fee, die durch die Tür kommt, den Nudelsalat unter dem Arm, und kurz darauf eine Waschmaschine anstellt. Ohne Kommentare, ohne Vorwürfe. Einfach machen.

Die Zeit kurz nach der Geburt eines Kindes ist für viele Frauen so eine Situation. Ein Ausnahmezustand. Das Wochenbett. Eine Zeit zwischen höchsten Glücksgefühlen, größten Sorgen um das neue Wesen in der Familie, vielen Fragen. Mittendrin: Eine Mutter, die sich von den Strapazen der Geburt erholen soll.

Der Wäscheberg wächst, die Spüle quillt über

Auch wenn es auch für Männer Elternzeit gibt, kommt meist der Zeitpunkt, an dem der Vater wieder arbeiten geht, und die Mutter alleine ist. Alleine mit ihrem Neugeborenen, alleine mit ihren Sorgen, alleine mit ihren Gedanken. Dann wächst der Wäscheberg, die Spüle quillt über, das Spielzeug der Geschwisterkinder ist überall verteilt. Vor allem in der Corona-Pandemie blieb dann auch noch der Besuch aus, der sonst schonmal mit angepackt hat.

Wie ein Hilfesystem aussehen kann, zeigt ein Blick zu den Nachbarn. In den Niederlanden ist es seit Jahrzehnten selbstverständlich, dass Mütter Unterstützung im Wochenbett erhalten, bezahlt von den Krankenkassen, vermittelt von zentralen Stellen. Genau das wollte Dorothea Heidorn, die Pionierin der Mütterpflege, wieder für Deutschland erreichen: Ausgebildete Wochenpflegerinnen gab es bis in die 1970er Jahre auch hier. Heidorn hat vor 25 Jahren das erste Institut in Deutschland gegründet, um Mütterpflegerinnen auszubilden. Jedes Jahr lernen etwa zehn Frauen nach dem Vorbild der niederländischen Kraamverzorgster in einem einjährigen Kurs, wie sie Mütter im Wochenbett unterstützen können. Am Ende sind sie „Familienlotsinnen", wie es Dorothea Heidorn nennt. Auch Charlotte Böddeker und Helga Singula haben bei ihr gelernt.

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Gerade während Corona waren Mütter und Babys häufig alleine.

Die beiden Frauen haben sich in der „Aurora Mütterpflege Rhein-Sieg“ zusammengeschlossen. Sie kochen, waschen, kaufen ein und räumen in Haushalten mit Neugeborenen zwischen Bonn und Much auf - und hören zu. Das war auch bei Johanna Lenau nötig – auch wenn es bei immer sauber und ordentlich war. Alleine mit ihren Sorgen um ihren Sohn Felix (Namen geändert) war sie dennoch. Und plötzlich brach sie in Tränen aus.

Allein mit einem Schreikind

Ihr Sohn kam in unter drei Stunden. Für ein erstes Kind ist das vor allem eines: eine überaus stressige Geburt, die viele Verletzungen und auch durchaus Traumata mit sich bringen kann. Da Felix mitten in der Corona-Pandemie zur Welt kam, hatte sie zudem keine Wochenbett-Besuche. „Alles ist an mir hängen geblieben“, erinnert sie sich. Dazu kam: Felix war ein Schreikind. „Er hat sechs Stunden täglich geschrieen, fünf Monate lang“, so die 31-Jährige.

„Wir haben alles versucht: Bauchmassagen, haben beim Arzt, beim Osteopathen um Hilfe gebeten – aber nichts hat geholfen.“ In der Zeit ging aber der Alltag weiter: Ihr Mann hatte noch keine Elternzeit, musste das Geld verdienen. Sie hingegen managte Haushalt, ging einkaufen, kochte das Essen und ging mit Felix zu den Arztterminen. „Das war eine sehr große Belastung“, so Lenau.

Tränen wegen einer übergelaufenen Windel

Dieser Alltag stresste. Und schließlich nahm die junge Mutter auch an sich selbst Veränderungen wahr. „Ich hatte Probleme Entscheidungen zu treffen“, erinnert sie sich. Schon die kleinsten Dinge überforderten sie. „Einmal war Felix Windel übergelaufen. Ich bin in Tränen ausgebrochen und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte mich nicht beruhigen. Diese Gefühle konnte ich nicht verstehen.“ Dann hörte sie unbewusst auch noch auf zu essen und zu trinken. Und im Supermarkt bekam sie Angstzustände. Ihre Welt stand Kopf.

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Mütterpflegerin Charlotte Böddeker packt mit an.

In ihrer Verzweiflung ging sie zu ihrer Frauenärztin mit der Bitte, wieder die Pille verschrieben zu bekommen. „Ich funktionierte einfach nicht mehr wie vor der Geburt“, fasste sie ihren Zustand zusammen. Ihre Hoffnung: Die Hormone würden sie wieder ins Gleichgewicht bringen. Doch ihre Ärztin wurde hellhörig und stellte dann die Diagnose: postpartale Depression – Wochenbettdepression. „Ich habe nie gedacht, dass ich so etwas bekomme“, sagt Lenau heute. „Ich habe einfach meine Selbstfürsorge vernachlässigt.“

Ein Lichtblick: Der Antrag auf eine Haushaltshilfe bei der Krankenkasse

Die Diagnose war also klar. Aber was nun? Der Mutter fehlte die Kraft, um selbst zu recherchieren, was ihr helfen könnte. Mithilfe ihres Mannes wandte sie sich an die Mutter-Kind-Ambulanz der LVR-Klinik Bonn. Im Gespräch mit einer Psychiaterin und einer Sozialarbeiterin wurde ihr der Lichtblick aufgezeigt: der Antrag auf Haushaltshilfe bei ihrer Krankenkasse.

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Die Tage nach der Geburt gleichen einer Achterbahnfahrt: Überglückliche Momente und das riesengroße Gefühl der Überforderung wechseln sich ab.

Kurze Zeit später betrat Johanna Lenaus gute Fee dann auch schließlich das Haus: die Mütterpflegerin Charlotte Böddeker. Montag bis Freitag kam sie jeweils für fünf Stunden. Ihre Aufgaben: Wäsche machen, putzen, kochen, einkaufen, Felix betreuen, wenn sich seine Mutter in Ruhe duschte oder einfach mal ausruhte. „Erst als Charlotte hier her kam und angefangen hat, mir zu helfen, habe ich gemerkt, wie sehr mir die Corona-Isolation zu schaffen gemacht hat“, sagt Lenau im Rückblick während sie Felix in einer Babytrage vor ihrer Brust schaukelt. Er ist eingeschlummert, mit dem Ohr an ihrem Herzen.

Kaffee trinken und reden

„Ich erinnere mich noch genau“, ergänzt die Mütterpflegerin: „Wir haben erst einmal zusammen einen Kaffee getrunken und geredet. Jedes Mal.“ Dann wurde besprochen, was in der Nacht passiert ist, ob die junge Mutter gegessen hat – alles mit Corona-Abstand und mit Masken. „Aber das war mir egal“, so Lenau. „Hauptsache, es war einer da. Wir hätten auch im ABC-Schutzanzug hier sitzen können.“

Acht Wochen blieb die Mütterpflegerin bei der Familie Lenau. „Der Druck ging raus. Ich habe mich so entlastet gefühlt“, sagt Johanna Lenau. Endlich hätte ihr jemand im Haushalt geholfen, sie konnte auch wieder einmal etwas für sich selbst tun. Ihr Mann sei unglaublich froh gewesen, dass jemand zuhause geholfen hat und es seiner Frau endlich besser ging. „Ich bekomme von den Familien immer einen immensen Vertrauensvorsprung“, gibt Charlotte Böddeker zu. Bei jeder neuen Familie dringt sie in die intimsten Zonen ihres Zuhauses ein, putzt die Bäder, sortiert die Unterwäsche. „Da muss die Chemie stimmen“, so Böddeker.

Mittlerweile hat Johanna Lenau sich nicht nur besser organisiert, indem sie nicht mehr alles sofort erledigen will. Charlotte Böddeker hat ihr auch geholfen, ihre To-Do-Listen aufzuteilen: „Für heute“, „Für die Woche“, „Für Zeit und Lust“ und „Deligieren“ steht nun auf dem Blatt Papier. Es muss eben nicht immer alles eine einzelne Person schaffen.

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Außerdem ist Lenau jetzt medikamentös eingestellt. Antidepressiva lindern ihre Angstzustände und unterstützen sie im Alltag – alles unter ärztlicher Kontrolle. Bald kann sie endlich einen Therapieplatz antreten. Dann wird sie diese schwierige Zeit aufarbeiten. „Depression ist kein Schnupfen“, sagt sie selbstbewusst. „Wenn ich das nicht aufarbeite, werde ich sie nie los.“

Die Zeit, die Charlotte Böddeker bei der Familie Lenau verbracht hat, hat die Krankenkasse von Johanna Lenau finanziert. Dafür hat sie einen Antrag auf Haushaltshilfe gestellt, ihre Ärztin hat eine entsprechende Bescheinigung ausgestellt, dass diese Hilfe nötig ist. Die Haushalthilfe steht der Versicherten laut Sozialgesetzbuch zu, „soweit ihr wegen Schwangerschaft oder Entbindung die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist und eine andere im Haushalt lebende Person den Haushalt nicht weiterführen kann“.

Krankenkasse hilft auch bei Kaiserschnitt oder Zwillingen

Charlotte Böddeker und ihre Kolleginnen helfen aber nicht nur in solchen Härtefällen wie bei der Familie Lenau. Auch ein Kaiserschnitt, eine Zwillingsgeburt, eine Brustentzündung, Geburtsverletzungen, Blutverlust oder Überlastung und die daraus folgenden Beschwerden können Gründe für die Unterstützung durch eine Haushaltshilfe sein. Wie viele Stunden Hilfe bezahlt werden, hängt von der ärztlichen Verordnung ab. Sie werden von manchen Kassen komplett oder teilweise übernommen. Die meisten Mütterpflegerinnen berechnen etwa 35 Euro pro Stunde. 2019 gab es knapp 60.000 genehmigte „Haushaltshilfen“ im Sinne der Mütterpflege, was die Krankenkassen mehr als 60 Millionen Euro gekostet hat.

Die Corona-Pandemie hat den meisten Mütterpflegerinnen in Deutschland noch mehr Anfragen beschert. Das bestätigt auch Tamara Kibys von der Gesellschaft für Geburtsvorbereitung (GfG) aus Berlin, die ebenfalls Mütterpflegerinnen ausbildet. „Gerade in den Städten haben viele Mütter keine Familie vor Ort und können aufgrund der eingeschränkten Reisemöglichkeiten nicht auf die Unterstützung durch die eigenen Eltern zählen“, berichtet sie. Für Tamara Kibys ist zudem klar, dass die Corona-Kontaktbeschränkungen die Isolation im Wochenbett verstärken und postnatale Depressionen so noch öfter entstanden sind.

Ruhe im Lockdown

Gleichzeitig berichten ihr aber auch Familien, dass der Lockdown ihnen Ruhe verordnet habe und sie die Schwangerschaft und auch das Wochenbett ungestörter genießen konnten. Vor der Corona-Pandemie sei der gesellschaftliche Druck auf die Mütter erheblich höher gewesen, schnell wieder zu funktionieren. „Dass es einen Lockdown braucht, um ein angemessenes Wochenbett überhaupt erst zu ermöglichen, ist schrecklich", sagt die Mütterpflegerin. „Das bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, dass Mütter Distanz, Isolation und Einsamkeit brauchen. Sie brauchen Ruhe und Schutz, aber auch Unterstützung.“

Die Unterstützung kommt in Deutschland in der Regel von Hebammen. Ein wunder Po, Babys erstes Bad oder die ersten Bauchschmerzen: Diese Tipps im Umgang mit dem Nachwuchs geben Hebammen. Die Mütterpflegerin steht lediglich ergänzend zur Seite, um sich fast ausschließlich um das Wohlbefinden der Frau zu kümmern, nicht um die medizinische Versorgung des Babys oder der Wöchnerin. Grundsätzlich begrüßen die meisten Hebammen die Unterstützung durch die Mütterpflegerinnen. „Alles, was junge Eltern rund um die ersten Wochen nach der Geburt unterstützt, ist gut“, sagt Ursula Jahn-Zöhrens vom Deutschen Hebammenverband. „Eine Mütterpflegerin kann hilfreich sein, Entlastung im Haushalt bringen, sich um ältere Kinder kümmern, aber es muss eine klare Abgrenzung zu unseren Aufgaben geben.“

Mütterpflegerinnen ersetzen keine Hebammen

Es gebe aber viele komplexe Interaktionen im Wochenbett, deren Beobachtung sich nur schwer delegieren ließe: Die Eltern-Kind-Beziehung und das Stillen begleiten, eine mögliche Wochenbett-Depression erkennen. „Wir haben da eine hohe Verantwortung für zwei Menschen“, sagt Jahn-Zöhrens und macht deutlich: Mütterpflegerinnen ersetzen keine Hebamme.

Mütterpflege: Finden und bezahlen

In Deutschland gibt es keine zentrale Anlaufstelle für die Vermittlung von Mütterpflegerinnen. Wer sich für das Programm von Dorothea Heidorn oder eine ihrer „“Familienlotsinnen" interessiert, findet an Heidorns Institut Informationen: www.familienlotsinn.de. Die „Aurora Mütterpflege“, die vor allem im Rhein-Sieg-Kreis aktiv ist, findet sich ebenfalls im Internet: www.aurora-muetterpflege.de

Die Gesellschaft für Geburtsvorbereitung bietet Informationen rund um Familienbildung und Frauengesundheit – und Unterstützung bei der Suche nach Mütterpflegerinnen. Auch Hebammen können oft mit Kontakten aushelfen. www.gfg-bv.de

Mütterpflegerinnen können von den Krankenkassen bezahlt werden, dafür muss die Versicherte eine „Haushaltshilfe“ beantragen. Der Arzt kann eine Verordnung ausstellen, dass die Wöchnerin Unterstützung im Alltag braucht, zum Beispiel aufgrund eines Kaiserschnitts, einer Krankheit, oder weil sonst niemand den Haushalt führen kann. Auch eine Mehrlingsgeburt, Geburtsverletzungen, Blutverlust, eine Brustentzündung oder Überlastung können Gründe sein, um eine Mütterpflegerin zu engagieren.

Die bezahlten Stunden hängen von der Verordnung ab, und werden von manchen Kassen komplett oder teilweise übernommen. Die Familien können die Mütterpflegerin auch privat bezahlen, Kostenpunkt: ab 18 Euro pro Stunde, die meisten Familienlotsinnen kosten rund 35 Euro pro Stunde.

Vor Vertragsabschluss sollten die Familien mit der Mütterpflegerin absprechen, welche Aufgaben übernommen werden sollen, und auch, ob die Mütterpflegerin haftpflichtversichert ist - sie arbeitet schließlich mit dem wertvollsten Mitglied der jungen Familie.

Jedoch befürchtet der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen, dass es künftig noch schwieriger für Mütter werden könnte, eine Hebamme für die Nachsorge zu finden. Seit Januar 2020 werden Hebammen an Hochschulen ausgebildet, und der Verband hat Sorge, „dass die ,akademisierten’ Hebammen ihren künftigen Schwerpunkt nicht in den ,einfachen’ Tätigkeiten im Wochenbett sehen werden“. Eine Verknappung des Versorgungsangebot erscheine daher „nicht unwahrscheinlich“. Eine weitere Hürde für Mütter und ihre Pflegerinnen: Eine zentrale Anlaufstelle für Familien, die sich eine Mütterpflegerin wünschen, gibt es in Deutschland nicht. Die Lobby der jungen Familien ist klein, die Stimme der jungen Familien zu leise. 

Fest steht aber: Ohne Mütterpflegerin hätte Johanna Lenau die erste Zeit ihrer Erkrankung nicht geschafft. „Es ist so schade, dass es nicht mehr Mütterpflegerinnen gibt“, sagt sie. „Und dass diese Form der Hilfe nicht mehr gesellschaftlich anerkannt ist.“ Ein afrikanisches Sprichwort sagt, es brauche ein ganzes Dorf um ein Kind zu erziehen. Wenn dieses Dorf – wegen eines Coronavirus oder wegen zu wenig Familie in der Umgebung – nicht erreichbar ist, braucht es eben externe Hilfe. Mütterpflegerinnen können diese Hilfe sein – und somit wichtige gute Feen für junge Familien.

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