„Braless”Im Lockdown ohne – warum immer mehr Frauen keinen BH tragen

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„Braless” – auf den BH verzichten seit dem Lockdown immer mehr Frauen (Symbolfoto).

  • Ist der BH ein Corona-Opfer? Möglich. Umfragen bestätigen, dass immer mehr Frauen auf das Kleidungsstück verzichten.
  • Diese Beobachtung hat unsere Autorin auch unter ihren Freundinnen gemacht.
  • Doch freischwingende Brüste sind immer noch ein Politikum, erklärt uns eine Modesoziologin – und der BH weit mehr als ein Stück Stoff.

Köln – BHs hat fast jede Frau im Kleiderschank wie Unterhosen oder Socken. Aber bei einigen Frauen wird die Schublade für die Büstenhalter gerade leerer oder einfach nicht mehr so oft geöffnet. Vor allem immer mehr junge Frauen verzichten auf das Wäschestück. „Braless“, ohne BH, heißt der Trend, den es schon vor Corona gab, der aber mit Lockdown und der Arbeit im Homeoffice einen Aufwind erfahren hat. Leitet also so manche Modezeitschrift zu Recht das Ende des Büstenhalters ein? Und ist es vielleicht sogar gesünder, die Brüste unter dem T-Shirt frei wippen zu lassen?

Die Vorstellung ohne das Kleidungsstück herumzulaufen, das die Brüste einpackt, ist ungewohnt. Den ersten BH gab es mit 13 oder 14 Jahren, ein kleiner Snoopy verzierte die gepolsterten Körbchen. Jahrelang waren es solche vorgeformten Körbchen, die bei mir und meinen Freundinnen die Brustform unter den T-Shirts bestimmte. Heute bin ich 31 Jahre alt und habe mir vor ein paar Monaten das erste Mal ein paar Bralettes zugelegt, also eher lockere Bustiers als einengende Körbchen.

BH einst als Befreiung vom Korsett

Dabei galt der BH ursprünglich als Befreiung, als er gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den westlichen Ländern in Mode kam. Die zuvor getragenen Korsetts waren einerseits durch frauenrechtliche Bestrebungen irgendwann nicht mehr angesagt. Andererseits spielte auch der Wunsch nach gesünderen Frauen, die sich besser der Mutterrolle widmen können, eine Rolle. Schließlich waren Atemprobleme, Fehlgeburten, Ohnmachten oder Organfehlstellungen die gesundheitlichen Folgen davon, seinen Oberkörper dermaßen einzuschnüren.

„Kleidung, so auch der BH, gibt immer Auskunft darüber, wie Körperbilder, Ideale und Geschlecht zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort gedacht werden“, erklärt Modesoziologin Melanie Haller von der Universität Paderborn. Waren in den 1920er Jahren schlanke, androgyne Frauenkörper mit flachen Brüsten en vogue, begann in den 1950er Jahren eine Hyperfeminität mit BHs, die die Brüste in eine spitze Form brachten. Doch auch damit war wenige Jahre später Schluss. „In den 1960er/70er Jahren haben sich Frauen von BHs befreit und im Büstenhalter die symbolische Form der männlichen Unterdrückung gesehen – wie es die Feministin Germaine Geer ausdrückte.“

Sexualisierung der weiblichen Brust

Weil die weibliche Brust eine der wesentlichen nach außen erkennbaren Geschlechtsdifferenzen sei, werde sie sexualisiert und politisiert. Das sei auch heute noch so. „Der weibliche Körper mit seinen Brüsten gehört scheinbar immer noch in den privaten und nicht in den öffentlichen Raum – er hat nicht die Macht, die der männliche Körper hat“, sagt Soziologin Haller. Weibliche Körper würden wenn erotisierend gezeigt, den öffentlichen Raum dürften sie aber nicht erobern und sei es nur in sozialen Medien, wo weibliche Brüste mit sichtbaren Brustwarzen zensiert würden, die männliche Brust aber nicht.

Auf Instagram zählt der Hashtag #freethenipple (befreit die Brustwarzen) 4,1 Millionen Beiträge. „Aus kulturwissenschaftlicher und feministischer Perspektive ist der befreite, weibliche, nackte Körper eben auch einer, der immer noch ein Kampfplatz ist“, sagt Melanie Haller.

Kampf, Befreiung oder reiner Komfort – während der Corona-Krise scheinen Büstenhalter für viele Frauen überflüssig geworden zu sein. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop in Frankreich tragen seit der Corona-Krise vor allem junge Französinnen keinen BH mehr. Waren es vor den Ausgangsbeschränkungen vier Prozent, sind es mittlerweile 18 (zwischenzeitlich waren es sogar 20 Prozent). Die meisten verzichten weil es bequemer ist, ein Drittel als politisches Statement gegen die Sexualisierung der Brust.

Verzicht auf den Büstenhalter im Alltag

„Viele Frauen sagen, dass den BH auszuziehen das Erste ist, was sie tun, wenn sie nach Hause kommen“, sagt Diana Weis, Professorin für Modejournalismus an der Business School Berlin. Sie hat auch von Studentinnen gehört, die sich den BH während des Lockdowns abgewöhnt haben. Doch was ist das Tragen von Büstenhaltern dann eigentlich? Es sei ein Zugeständnis an die Normen der Gesellschaft, dass man gefälligst seinen Busen irgendwie sozialverträglich präsentieren soll, meint die Modeexpertin. „Ich glaube aber in dem Maße, wie soziale Normen hinterfragt werden, werden das viele junge Frauen nicht mehr machen.“

Eine Freundin trägt schon seit Jahren keinen BH mehr, sie fühlt sich ohne wohler. „Oft ist mir schon unterstellt worden, dass ich damit Aufmerksamkeit erregen möchte“, sagt sie. Ihre direkten Kollegen hätten das mittlerweile akzeptiert, doch auf manchen Sitzungen merke sie, dass jemand auf ihre Brüste und den vermeintlich fehlenden BH schaut. Sie hat für sich einen Kompromiss gefunden und trägt sogenannte „Nipple-Patches“ (Aufkleber für die Brustwarzen), damit man ihre Brustwarzen nicht durch eine Bluse oder ein Kleid erkennen kann. Eine andere Freundin fühlt sich mit ihren größeren Busen ganz ohne BH unwohl – trägt Bralettes. „Bei manchen Oberteilen mag ich es auch nicht, wenn die Brüste zu weit auseinander stehen“, sagt sie.

Ist es gesünder, keinen BH zu tragen?

„Gerade wenn mehr Busen da ist, wird es oft als unangenehm empfunden, wenn der Busen sich beim Laufen bewegt. Dass Frauen selbst häufig Scham in Bezug auf ihren Busen empfinden, ist von der Kultur geprägt“, erklärt Diana Weis. Manche Frauen würden sich ohne BH auch ungeschützt und unwohl fühlen.

Die Soziologin Melanie Haller ergänzt, dass wir stark von dem Körperideal beeinflusst sind, das herrscht, wenn wir Teenager sind. Für mich und meine Freundinnen also die Zeit der Wonderbras mit hochgedrückten Busen, die alle zu runden Bällen geformt wurden. „Von unseren Körperbildern können wir uns nur schwer befreien, dazu gehört viel Selbstbewusstsein und dass wir schauen, woher diese ästhetischen Maßstäbe kommen.“ Zwar könnten Frauen heute alles tragen, doch es gäbe Situationen, wenn zum Beispiel ein Kollege oder eine Kolleginnen, die Chefin oder der Chef einen zur Seite nehmen und sagen, dass es nicht angemessen sei, keinen BH zu tragen. „Daran erkennen wir, dass es keine offensichtlichen Kleiderordnungen mehr gibt, aber eben implizite Kleiderregeln“, sagt Haller.

Neben gesellschaftlichen Konventionen können natürlich auch gesundheitliche Aspekte in der BH-Frage eine Rolle spielen. „Das Bindegewebe der Brust wird im Laufe des Lebens lockerer, die Milchdrüsen erleben nach dem Ende jeder Stillperiode einen Umbau, so dass die Brust einer älteren Frau eine andere Form hat als die Brust einer jüngeren Frau, unabhängig wie groß der Busen ist oder wie lange und konsequent ein BH getragen wurde“, sagt Christian Albring, Gynäkologe und Präsident des Berufsverbands für Frauenärzte. Die Brust enthalte keine elastischen Gewebe und folge auf Dauer ohne Unterstützung der Schwerkraft. „In vielen Fällen – beispielsweise während der Stillzeit, bei großen oder bei schmerzenden Brüsten und wenn die schöne Form erhalten bleiben soll – ist ein BH von Vorteil.“ Das zu enge BHs das Risiko für Brustkrebs erhöhen, sei nicht erwiesen. Allerdings könne ein zu enger Büstenhalter Druckschmerzen und auf Dauer eine Veränderung der Brustform verursachen.

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Läutet die Corona-Krise also das Ende des BHs ein? Auf jeden Fall würde die Pandemie mit mehr Arbeit im Homeoffice die Entwicklung beschleunigen, dass Kleiderordnungen an Bedeutung verlieren, meint Diana Weis. Und es löst ja etwas aus, wenn mehr und mehr Frauen sich ohne den strammen Büstenhalter wohlfühlen, sich dadurch ihre Körperwahrnehmung verändert und sie anfangen, ihre natürliche Brustform zu mögen, erklärt Melanie Haller.

Klar ist aber auch, wir werden wahrscheinlich nicht alle unsere BHs verbrennen wie die Feministinnen in den 70er Jahren. Zu stark hat sich das Körperbild, mit dem wir aufgewachsen sind, bei den meisten Frauen manifestiert. Und hängende, schlaffe, große, spitze oder gar amputierte Brüste, passen nicht zu diesem Ideal. Unter Hashtags wie #nobranoproblem oder #braless zeigen sich meist junge Frauen mit kleineren, straffen Brüsten. Der Trend ist also längst nicht etwas für Jede.

Frauen ohne BH unter dem T-Shirt oder gar oben ohne in der Öffentlichkeit – das wird es noch länger nicht ohne Kommentierung oder wertende Blicke geben. „Die weibliche Brust und Brustwarzen scheinen immer noch ein Politikum zu sein, was eigentlich lächerlich ist, schließlich wissen wir alle, wie nackte Körper aussehen. Was bitte ist die Aufregung daran?“, fragt sich Melanie Haller. 

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