Krank ohne BefundWenn der Körper verrückt spielt

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Kopfschmerzen ohne Befund und Ursache - eine Qual.

Kopfschmerzen ohne Befund und Ursache - eine Qual.

Köln – Gudrun Dankwart machte sich nicht sonderlich viele Gedanken, als sie vor gut acht Jahren eines Morgens mit starker Übelkeit aufwachte. „Wahrscheinlich ein Magen-Darm-Infekt, den fängt man sich ja schon mal ein“, vermutete sie. Erst als sich in fast regelmäßigen Abständen die Attacken von starker Übelkeit und Erbrechen wiederholten, wurde die 47-Jährige unruhig und suchte ihre Hausärztin auf. „Nur zur Sicherheit“ schickte sie Gudrun Dankwart zur Magenspiegelung – „ohne Befund“ wie es später im Arztbrief hieß. Das beruhigte die Vorstandssekretärin – einerseits. Andererseits blieben ihre Beschwerden. Immer wieder wurde Gudrun Dankwart (Name geändert) von den Übelkeitsattacken regelrecht überfallen. Sieben Jahre ging das so. Dankwart lief von einem Arzt zum anderen. Das Prozedere der Magenspieglung kannte sie nach all den Jahren, eine Diagnose erhielt sie nicht.

Trotz offensichtlicher Symptome

Wie der Kölnerin geht es vielen. Nach aktuellen Schätzungen verlässt jeder dritte Hausarzt-Patient die Praxis „ohne Befund“ – trotz offensichtlicher Symptome, die sich die Patienten nicht nur einbilden. Sie klagen über Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Herz-Rhythmus-Störungen, Magen-Darm-Probleme oder Schwindel – die Liste ließe sich fortsetzen. Gemein ist ihnen, dass die meisten eine zum Teil jahrelange verzweifelte Odyssee von Facharzt zu Facharzt auf sich nehmen – Experten sprechen deshalb von dem „Dicke-Akte-Syndrom“. Getrieben werden sie von der Hoffnung, dass ihnen endlich jemand helfen kann und erkennt, dass sie keine Simulanten sind.

Wie häufig steckt hinter körperlichen Symptomen ohne Befund eine organische Ursache?

Rückenschmerzen – 2 Prozent Bauchschmerzen – 1 Prozent Brustschmerzen – 10 Prozent Kopfschmerzen – 3 Prozent Schwindel – 10 Prozent Atemnot – 9 Prozent Taubheitsgefühl – 12 Prozent

(laut Untersuchung in US-Allgemeinarztpraxen mit 1000 Patienten)

Dass es in vielen dieser Fälle die kranke Seele ist, die schmerzt, zu Übelkeit führt oder einen schwanken lässt, können diagnostische Verfahren wie EEG oder Ultraschall nicht aufspüren – und wird auch von vielen Haus- und Fachärzten immer noch zu selten in Erwägung gezogen, wie der österreichische Neurologe, Psychiater und Buchautor Professor Manfred Stelzig beklagt. Er kritisiert, dass viele Patienten mit scheinbar unerklärlichen Beschwerden „einfach alleine gelassen und mit dem Satz, dass organisch alles in Ordnung ist, abgespeist werden“ – auch wenn für den Patienten damit noch lange nichts in Ordnung ist.

„Somatoforme Störungen“

Seit 1992 sind „somatoforme Störungen“ – so heißen die Beschwerden, die so wirken, als seien sie körperlich, aber für die sich keine organische Ursache finden lassen – im europäischen Krankenverzeichnis aufgeführt. Trotzdem dauert es meist viele Jahre, bis sich Betroffene in eine psychosomatische Behandlung begeben, wo nach möglichen seelischen Ursachen für die körperlichen Symptome gesucht wird. „Durchschnittlich haben die Patienten, die zu uns kommen, eine siebenjährige Leidensgeschichte hinter sich“, bestätigt Dr. Michael Schonnebeck, fachärztlicher Leiter der psychosomatischen Tagesklinik Köln.

Hippokrates

Natürlich müsse bei körperlichen Symptomen immer zuerst sicher ausgeschlossen werden, dass organische Ursachen dahinter stecken, betont Schonnebeck. Warum aber selbst bei sicherem Ausschluss organischer Ursachen immer noch viel zu selten nach seelischen Gründen gesucht werde, überrascht ihn. Dass Körper und Seele untrennbar miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, ist schließlich keine ganz neue Erkenntnis. Schon im 4. Jahrhundert vor Christus beschrieb der griechische Arzt Hippokrates, dass etwa das menschliche Herz sich bei Freude erweitert und bei Angst zusammenzieht. Im Mittelalter allerdings bestand die Kirche auf der strikten Trennung von Körper und Seele, und der französische Philosoph René Descartes kam im 17. Jahrhundert zu dem Schluss, dass eine Seele ohne Körper vorstellbar sei, also beide getrennt existieren müssten.

Seine Überzeugung setzte sich durch, und über Jahrhunderte konzentrierte sich die Medizin fast ausschließlich auf das rein Körperliche. Erst im 20. Jahrhundert änderte sich der Blick auf den Menschen und seine Krankheiten erneut. Die ganzheitliche Betrachtung des Menschen und damit auch das Zusammenspiel von Körper und Seele rückte wieder ins Blickfeld der Medizin – nicht zuletzt auch dank Sigmund Freud, der zwar die Psychosomatik nicht erfand, ihr aber durch seine psychoanalytischen Ansätze den Weg bereitet.

Als Makel empfunden

Auch wenn die Psychosomatik längst die Exotenecke verlassen hat und eine Vielzahl an Erkrankungen bekannt ist, die eine psychosomatische Ursache haben (siehe Kasten) und nachweislich mit Erfolg behandelt werden können – über eine Überweisung zu einem Psychosomatiker sind viele Patienten zunächst nicht glücklich. Ein psychosomatisches Leiden wird schließlich oft noch als Makel empfunden. Deshalb ist es Schonnebeck auch wichtig klarzustellen: „Jeder Mensch reagiert körperlich, wenn die seelische Belastung ausreichend groß ist“. Er selbst habe im Medizinstudium die Erfahrung gemacht, als sein Körper auf die körperliche und psychische Belastung auf einer onkologischen Station mit einer Vergrößerung der Lymphknoten reagierte. „Das war ein Befund, der meinem Hausarzt Sorgen gemacht hat und den ich fachärztlich abklären lassen musste.“ Erst als ein erfahrener Stationsarzt ihm klar gemacht habe, dass Studenten oft mit körperlichen Symptomen auf die neu kennengelernten Belastungen und Leiden der Patienten reagierten, seien diese Symptome von selbst verschwunden.

„Wunder Punkt“

Wie sich tatsächlich im Einzelnen ein Übermaß an Stress körperlich äußere, könne ganz unterschiedlich sein. Der „Locus minoris resistentiae“, also der „Punkt mit der geringsten Widerstandskraft“, so Schonnebeck, sei individuell verschieden und hänge von genetischen Faktoren genauso ab wie von unserer psychosozialen Prägung, etwa wie wir gelernt hätten, mit Belastungen umzugehen. Dass dieser „wunde Punkt“ bei immer mehr Menschen getroffen werde und die in uns schlummernden körperlichen Symptome auf einmal klinisch relevant werden, hänge mit einem ganzen Konglomerat von Stressfaktoren zusammen, glaubt Schonnebeck. Die zunehmende Arbeitsverdichtung und -flexibilisierung, zudem die Fokussierung auf den Beruf als einzige Größe, die einen auszeichnet – all das führe zu einer höheren Belastung für jeden Einzelnen und könne krank machen. Erst recht, wenn dann auch noch soziale Netzwerke wegbrechen und Gefühle verdrängt werden.

„Seelentomographie“

Nötig sei dann eigentlich eine Art „Seelentomographie“. Für die freilich stünden den Psychosomatikern nur wenige diagnostische Werkzeuge zur Hand. „Da sind wir eigentlich immer noch nicht viel weiter als Freud und seine Zeitgenossen“, sagt Michael Schonnebeck. „Wir lassen den Patienten erzählen.“ Durch genaues Zuhören und behutsames Nachfragen, durch Selbst- und Fremdbeobachtung des Patienten sowie durch Beobachtung des Patientenverhaltens mit oft eindrucksvollen Reinszenierungen des früher Erlebten, gelte es nach und nach auf die richtige Spur zu kommen. Wie bei Gudrun Dankwart. Nach fast acht Jahren hat ein Arzt sie in die psychosomatische Tagesklinik zu Dr. Schonnebeck geschickt. In zahlreichen Einzel- und Gruppengesprächen stellte sich schließlich heraus, dass hartnäckige und früh eingeprägte Trennungsängste hinter ihrer Übelkeit steckten. Diese verhinderten, dass sie Konflikte selbstbewusst austrug, ihre Interessen deutlich vertrat, sich selbstbewusst abgrenzen konnte. „Das ist ja zum Kotzen“ sei für sie ein gleichermaßen inbrünstig ausgerufener wie therapeutisch hilfreicher Ausruf gewesen, erklärt Schonnebeck. Mit dem allmählichen Erwerben von angemessenen Selbstbehauptungsstrategien kam Gudrun Dankwart allmählich in die Lage, ihre beruflichen Fähigkeiten zurückzugewinnen und sogar ihren Lebenstraum zu verfolgen: Losgelöst von ihrer Ursprungsfamilie und den Einwänden von Bekannten, reduzierte sie ihre Stelle und zog mit ihrem Partner aufs Land.

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