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„Lebe deine Träume“ Teil 3Der Chirurg und sein 40-Tonner

Lesezeit 5 Minuten
Markus Studer lebt mit seiner Frau und drei Kindern in der Schweiz. Er war renommierter Herz-chirurg. Heute fährt er mit dem Reisebus quer durch Europa.

Markus Studer lebt mit seiner Frau und drei Kindern in der Schweiz. Er war renommierter Herz-chirurg. Heute fährt er mit dem Reisebus quer durch Europa.

Der Motor eines Lkw ist ihm so vertraut wie das menschliche Herz. Wenn’s hart auf hart kommt, könnte er beides wieder ans Laufen bringen. Markus Studer hat vom Herzchirurgen umgesattelt auf Truck-Fahrer und seinen großen Lebenstraum erfüllt – kleine Abweichung inklusive. „Meine Ladung spricht jetzt mit mir“, sagt Studer, der seinen 40-Tonner-Diesel aufgrund der Dumping-Preise im Frachtgeschäft eingetauscht hat gegen einen Reisebus – schweren Herzens.

Der 67-jährige Markus Studer ist ein sympathischer Exot. Die Schweiz ist seine Heimat, aber mehr noch das alte Europa, dessen Menschen und Kulturen er sich Kilometer für Kilometer „erfahren“ hat, als er den OP-Tisch verließ und sich in den Truck setzte. Am 25. und 29. November wird Markus Studer im Gürzenich erzählen, wie und warum er sich seinen großen Lebenstraum erfüllen musste (siehe Infokasten unten).

Die Karriere des Markus Studer hätte nicht besser verlaufen können. Als einer der renommiertesten Herzchirurgen der Schweiz, Oberarzt am Unispital Zürich und Mitbegründer des privaten Zürcher Herzzentrums Hirslanden, hat er mehr als 10 000 mal menschliche Herzen operiert, Bypässe und Herzklappen eingesetzt, Leben gerettet, Leben verlängert und sich dann entschlossen, sein eigenes Leben zu ändern – auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. „Ich wollte das nicht bis zu meiner Pensionierung machen. Ich habe erlebt, dass Kollegen zu lange gewartet haben, bis sie aufhörten. Das ist weder gut für den Patienten noch für den Chirurgen.“ Mitte 50 hat Studer das Skalpell hingelegt und das Lenkrad in die Hand genommen.

Skalpell gegen Lenkrad

Der eine oder andere tippte sich an die Stirn. Wie kann der nur sein Renommee, seine Einkünfte, seine Karriere sausen lassen? Studer konnte. Aber erst nach langen Gesprächen mit seiner Frau und den drei Kindern. „Hätte meine Familie nein gesagt, ich hätte es nicht getan.“ Fortan war Markus Studer als Brummifahrer unterwegs von Sonntag bis Freitag Abend. Er ging nicht Hals über Kopf und schon gar nicht unvorbereitet auf die Straße. Dazu ist er zu klug. Er hatte sich Geld auf die Seite gelegt, und bevor er den 40-Tonner kaufte, seinen fahrbahren Traum, stieg er als Beifahrer auf den Bock. „Ich bin mit Kollegen gefahren. Ich habe geprüft, ob mein Traum nicht realitätsfremd ist und geguckt, ob das meinen Vorstellungen entspricht. Ich war gut vorbereitet, als ich eingestiegen bin.“ In ein knallhartes Geschäft, doch für Studer die Faszination auf vier Rädern.

Eine Leidenschaft wurde befriedigt

Seine Leidenschaft fürs Reisen, seine Neugier auf Menschen und andere Kulturen wurde befriedigt. Belohnt wurde der Chirurg am Steuer mit tiefer Freundschaft zu seinen Fernfahrer-Kollegen, die ihn ohne Vorbehalte akzeptierten. „Es sind gute Typen dabei. Sie haben mir alles beigebracht. Ich habe nur noch gestaunt.“ Er wusste, mit welchen Kniffen man sich Zeit und Arbeit am Zoll ersparen kann, und wie man sich zurecht findet in der fremden, großen Welt der Häfen, wie beispielsweise Rotterdam. „Dort habe ich begriffen, wie diese gewaltigen Warenströme aus aller Herren Länder laufen. Welche riesigen Strecken Waren durch die ganze Welt zurücklegen, nur damit unsere Ansprüche erfüllt werden. Wir wollen alles und zu jeder Zeit. Dafür muss dieser gigantische Apparat funktionieren, dieses globalen Wirtschaftssystem, von dem ich nur in Ansätzen geahnt hatte, wie es ablaufen könnte.“

Einblicke hat er auch gewonnen in die ganz eigene Welt der Trucker. Markus Studer fuhr als Ein-Mann-Unternehmer flüssige Lebensmittel. „Ich habe den Job hundertprozentig gemacht, bin immer zügig gefahren.“ Zeitdruck kannte er nicht. Seine Kollegen schon. Vor allem, „wenn sie von den Chefs gehetzt wurden. Das war nicht lustig“.

In Unfälle war Studer, Gott sei dank sagt er, nicht verwickelt. Reifenpannen dagegen gab es öfter. „Nicht schön, wenn es auf der Autobahn bumm macht und der Reifen geht weg. Ein Reserverad hatte ich nie dabei. Das wiegt 120 Kilo. Viel zu viel Fracht. Da ruft man den Reifenservice.“ Markus Studer hat mit seinen Truckerfreunden unwiederbringlich schöne Zeiten verbracht. Sie hatten ihre speziellen Landgasthöfe, die sie anfuhren, Familienanschluss inklusive. „Wir stellten unsere Trucks ab, bekamen gutes Essen, gingen im nahen Fluss baden und haben manchmal die halbe Nacht geredet, bevor wir in unsere Kojen krochen.“ Studer hat mit seinem Truck auch einen neuen Wirtschaftszweig aufgetan: mitfahrende Gäste. Er hatte eine ellenlange Warteliste. „Als selbständiger Unternehmer konnte ich Gäste mitnehmen. Als angestellter Trucker geht das nicht. Das verbieten die Gesetze.“ Probleme mit seinen Reisebegleitern gab es nie. „Ich musste keinen am Bahnhof abliefern.“ Vielleicht weil klar war: „Der Studer sagt, was Sache ist.“ Er legte fest, wann es nach einem langen Arbeitstag in die Koje ging, wer oben und wer unten schläft. Studer sagt, er habe fantastische Gespräche mit den Gästen geführt. Missen möchte er keines.

Heute, als Reisebus-Chauffeur, redet der Ex-Mediziner und Ex-Trucker permanent mit seinen Gästen auf den Touren durch Frankreich, Italien, Spanien, Österreich, Deutschland und den skandinavischen Ländern. Markus Studer ist aufgrund seines Unterhaltungswertes heiß begehrt als Reiseleiter und Fahrer. „Als Trucker,“ sagt Studer, „haben wir die Busfahrer als Weicheier belächelt, weil die in Hotels schlafen. Heute bin ich selber so ein Weichei.“ Zwangsläufig. Nach neun Jahren als Unternehmer und Brummifahrer waren zwei Dinge ausschlaggebend für die neue Ausrichtung des Lebenstraums: Durch die Öffnung nach Osteuropa fährt die Konkurrenz zu billigen Preisen. „Da wollte und konnte ich nicht mithalten.“ Er rechnete und zog seine Schlüsse – mit schmerzendem Herzen, wie er bekennt. Er verkaufte seinen 40-Tonner und stieg ein als angestellter Reisebus-Chauffeur. Eines dieser Weicheier eben – aber ein ganz besonderes.

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