Bei Alkohol-ProblemenKontrolliertes Trinken statt Abstinenz – kann das funktionieren?

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Kontrolliertes Trinken heißt nicht: nur noch mit Strohhalm. 

Köln – Zu Gerhard Henke kommen Menschen, die Probleme mit Alkohol haben. Manche trinken „bloß“ jeden Abend Wein, um sich zu entspannen. Andere eskalieren am Wochenende auf Partys bis zum Kontrollverlust. Sehr viele wollen mit dem Alkohol schlechte Gefühle betäuben. Wohl alles Situationen, die die meisten Menschen selbst schon erlebt haben. Alle wollen ihren Alkoholkonsum reduzieren, schaffen es aber nicht alleine und wenden sich deshalb an Gerhard Henke. Der Pädagoge und Familientherapeut versucht in seiner Fachpraxis für kontrolliertes Trinken in Köln, seinen Klienten einen maßvollen Umgang mit Alkohol beizubringen. Kann das funktionieren?

„Komplette Alkohol-Abstinenz kann nicht die einzige Lösung sein“

Für viele Menschen, die Probleme mit Alkohol haben, gibt es auf Dauer nur eine Lösung: komplette Abstinenz. Könnte es auch anders gehen? Können Menschen, die zu viel trinken, es schaffen, Alkohol kontrolliert und in einem vorgegebenen Maße zu konsumieren? Gerhard Henke meint: Ja. Mehr als 30 Jahre lang hat der 69-Jährige in Suchtkliniken nur den Ansatz der kompletten Abstinenz kennengelernt und sich irgendwann gedacht: „Das kann nicht der einzige Weg sein.“ Er absolvierte eine Weiterbildung zum Trainer für kontrolliertes Trinken und machte sich mit Beginn der Rente im Sommer 2017 selbstständig. Mittlerweile hat er 800 bis 1000 Sitzungen durchgeführt.

Zu ihm kommen Männer und Frauen gleichermaßen, die allermeisten von ihnen stehen mitten im Leben, haben Familie und einen festen Job. Sie „funktionieren“ gut und fallen nicht aus der Gesellschaft. „Ich vermeide das Wort Alkoholiker, weil es stigmatisierend ist. Zu mir kommen viele Genusstrinker, die irgendwann aus der Nummer nicht mehr herauskommen. Viele trinken abends Wein, um sich zu entspannen. Andere trinken auf Feiern, wollen auf Erfolge anstoßen und das Leben genießen. Wieder andere versuchen, mit dem Alkohol unangenehme Gefühle und emotionale Belastungen zu reduzieren. Manchmal kommt auch alles zusammen“, erklärt Henke. Außerdem gibt es Trinkerinnen und Trinker, die nicht mehr aufhören können, wenn sie einmal angefangen haben und bis zum Filmriss weiter machen. Anschließend lassen sie eine ganze Weile die Finger vom Alkohol. Und natürlich gibt es auch diejenigen, die immer eine bestimmte Alkoholmenge im Blut haben müssen, um zu funktionieren. Henke: „Die Menschen, die zu mir kommen, haben alle den Wunsch, weniger zu trinken. Sie schaffen es aber nicht alleine. Ich bin davon überzeugt, dass sie dafür nicht in eine Klinik müssen. Manchmal ist es besser, mitten im Leben zu bleiben.“

Kontakt

Fachpraxis für kontrolliertes Trinken Maastrichter Str. 22 50672 Köln 0170/5581910 info@kontrolliertestrinkenkoeln.de

Auch Felix N. (Name geändert) hat sich vor einigen Monaten für eine Behandlung bei Henke entschieden. „Ich habe irgendwann gemerkt, dass die Gelegenheiten zu trinken immer mehr wurden. Irgendwie hatte ich ständig ein Glas in der Hand: Nach der Arbeit, wenn ich gut drauf war, wenn ich schlecht drauf war, wenn ich in Gesellschaft war, wenn ich alleine war, wenn mir langweilig war oder um mich zu entspannen. Das war mir einfach zu viel. Ich habe mir schon oft vorgenommen, während der Woche nichts mehr zu trinken, aber ich habe es nicht oft genug geschafft“, erzählt der 37-Jährige. Zudem sei ihm bewusst geworden, dass er viel mehr trinke als gedacht und als er eigentlich wolle. „Ich hatte nicht mehr die Kontrolle darüber. Ich habe mich aber auch nicht bei den Anonymen Alkoholikern oder beim Blauen Kreuz gesehen. Ich brauchte einfach jemanden, der mir dabei hilft, mein Vorhaben durchzuziehen, unter der Woche nicht mehr zu trinken.“

Genaue Dokumentation macht den Klienten den Konsum deutlich

An diesem Punkt greift Henkes Programm. Der zentrale Punkt in seiner Behandlung ist, dass die Klientinnen und Klienten sich darüber klar werden, warum und in welchen Situationen sie trinken und dann im Vorhinein diese Risikosituationen zu vermeiden. Das Programm ist auf elf Stunden angelegt, die Treffen sollten möglichst einmal pro Woche persönlich in der Praxis im Belgischen Viertel stattfinden. Telefonate zwischendurch sind ebenfalls möglich. Nach jedem Treffen gibt es ein kleines schriftliches Modul mit den wichtigsten Informationen über die schädigende Wirkung von Alkohol sowie Übungen und Quizfragen. „Das hat mir sehr geholfen, mich mehr und bewusster mit dem Thema zu beschäftigen und nicht immer die Augen zuzumachen. Wenn man sich das wirklich alles durchliest, überlegt man es sich nochmal genauer, ob man etwas trinken will“, sagt Felix.

Die Stunden werden von den Krankenkassen nicht übernommen, das Honorar legt Henke je nach Verdienst des Kunden fest. Die erste Stunde ist unverbindlich und kostenlos. Wenn beide sich für die Behandlung entscheiden, füllt der Klient zuhause einen ausführlichen diagnostischen Fragebogen über sich selbst und sein Trinkverhalten aus. Diese Anamnese dient einerseits dazu, den Menschen und seine Trinkgewohnheiten besser kennenzulernen und festzustellen, ob eine körperliche oder/und psychische Alkoholabhängigkeit vorliegt und wie schwer diese ist. Andererseits wird der Person mit dem Beantworten der Fragen bewusst, wann, wie oft, wie viel und warum sie trinkt.

Zu Anfang der Behandlung wird ein Trinkprofil erstellt

Nach der ersten Anamnese soll erstmal so weiter getrunken werden wie zuvor, allerdings müssen jeder Tropfen und seine Umstände notiert werden: Was habe ich getrunken? Wann? Wo? Wie viel? Welche Auslöser gab es dafür? Wer war dabei? War ich alleine? Wie habe ich mich gefühlt? „Die meisten Klienten sind überrascht, dass sie nicht gleich den Alkohol reduzieren sollen, wenn sie zu mir kommen, sondern so weiter machen sollen wie immer. Der Zauber des Programms ist die Dokumentation. Das ganz normale Trinkverhalten soll festgehalten werden, um ein Profil zu erstellen“, erklärt Henke. Anschließend folgt eine Woche Abstinenz. „Ich habe Patienten, die sich das nicht zutrauen und Panik bei dem Gedanken bekommen, eine ganze Woche lang nichts trinken zu dürfen. Denen empfehle ich dann Selbsthilfegruppen, eine ambulante Entwöhnung oder eine stationäre Behandlung“, sagt Henke.

Die Klienten legen selbst fest, wie viel sie trinken wollen

Für alle anderen beginnt nach der Abstinenz-Woche das kontrollierte Trinken. Die Klienten legen selbst fest, wann und wie viel sie pro Woche höchstens trinken wollen und sprechen ihren Plan mit Henke ab. Der Plan ist jederzeit nach oben und unten anpassungsfähig, auch das entscheidet jeder selbst. Gerechnet wird in Standard-Alkoholeinheiten von 20 Gramm Reinalkohol. Umgerechnet sind das entweder 0,2 Liter Wein oder Sekt, drei Schnäpse (0,2 cl) oder 0,5 Liter Bier. Manche sagen zum Beispiel, dass sie unter der Woche gar nicht trinken und sich freitags und samstags jeweils zwei Einheiten gönnen. Andere verteilen fünf Einheiten auf die Woche. „Meine Klienten definieren ihr Ziel selbst. Ich bewerte das nicht. Ich empfehle nur, dass das Ziel zugleich realistisch und ein bisschen anstrengend ist“, erklärt Henke.

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Felix hat sich zum Beispiel vorgenommen, einmal in der Woche zwei Standardeinheiten zu trinken und am Wochenende zweimal zwei Standardeinheiten. Der feste Rahmen tut ihm gut: „Ich habe gemerkt, dass ich mich ganz schwer disziplinieren kann, wenn ich einmal angefangen habe. Wenn ich aber schon vorher weiß, wo die Grenze ist und ich eine Kontrolle habe, geht es leichter. Ich muss dann auch nicht jedes Mal wieder neu mit mir diskutieren.“ Trotzdem fällt es ihm manchmal schwer, sich an seine eigenen Vorgaben zu halten: „Es ist halt immer irgendwas: Hier eine Feier, da ein schönes Treffen, da ein Essen. Man kann dann nicht mehr so spontan sein und sich in den Abend fallen lassen. Da muss man wirklich hart bleiben. Ich glaube, für mich ist es langfristig besser, unter der Woche gar nicht zu trinken und am Wochenende keine so feste Grenze zu haben, aber auf keinen Fall besinnungslos zu trinken.“

Ausrutscher sind im Programm mit eingepreist

Jede Woche müssen die Teilnehmer dokumentieren, wann und mit wem sie getrunken haben und ob es bei den verabredeten Mengen geblieben ist. Für Felix ist das die beste Hilfe, weil er dadurch seine Erfolge genau sehen kann. „So wie man sich plötzlich viel mehr bewegt, sobald man einen Schrittzähler hat“, sagt er. Stolperfallen gibt es natürlich immer noch, deshalb sind Ausrutscher im Programm mit eingepreist. Henke: „Nicht zu trinken ist eine Übung, Ausrutscher gehören dazu. Es ist nicht realistisch zu glauben, dass jemand, der zumeist jahrelang Alkoholmissbrauch betrieben hat, sein Trinkverhalten binnen drei Monaten perfekt unter Kontrolle hat.“ Er empfiehlt deshalb einen pragmatischen Umgang mit Ausrutschern: „Eine Verteufelung würde nur dazu führen, dass man sich wie ein Versager fühlt und denkt: Ach, jetzt ist es eh egal. Ich schaffe es sowieso nicht, also kann ich auch weiter trinken.“

Ernst genommen werden müssen die Ausfälle aber auf jeden Fall. Henke rät zu einem Ausrutscher-Vertrag mit Freunden oder Verwandten, der vorsieht, dass innerhalb von 24 Stunden „gebeichtet“ werden muss, dass man sein Maß nicht eingehalten hat. Außerdem sollte danach eine längere Abstinenz eingelegt werden, um wieder in die Spur zu kommen. Felix kommt diese Sichtweise sehr entgegen, denn auch bei ihm hat es die eine oder andere Abweichung vom Plan gegeben. Er hat aber das Gefühl, dass die Ausnahmen weniger werden. „Ich denke immer öfter, dass ich mich nicht mehr selbst bescheißen und dass ich morgen kein schlechtes Gefühl haben will. Das ist tatsächlich viel Übung“, erzählt er.

Risikosituationen rechtzeitig erkennen und vermeiden

Zu Henkes Hauptarbeit gehört es, Trigger zu identifizieren, die die Menschen zum Trinken verleiten. Er spielt deshalb verschiedene Risikosituationen durch und macht Vorschläge, wie man diese vermeiden könnte. „Ich trainiere mit meinen Klienten, auch mal einen netten Abend mit Freunden zu haben, ohne Alkohol zu trinken“, sagt Henke. Wichtig ist vor allem, das Umfeld mit einzuweihen, damit es weniger Verführungen und Überredungsversuche gibt. Mit Menschen, die hauptsächlich in Stress-Situationen trinken, versucht er Alternativen zu finden: „Wir überlegen, was ihnen gut tut und was sie gerne machen und versuchen, von diesen Dingen mehr in den Alltag zu integrieren, um gar nicht erst diesen großen Druck aufkommen zu lassen.“ Bei Felix ist es ganz klar das Rausgehen aus der Situation, das ihm hilft: Raus aus der Wohnung, Bewegung, Luft. Und auch die regelmäßigen „Kontroll“-Telefonate, die Henke ihm angeboten hat, nimmt er gerne an. „Manchmal ist es nur ein Satz: ‚Ich habe es gestern und heute gut geschafft‘, aber der motiviert mich, bei meinem Vorhaben zu bleiben.“

Nach den elf Stunden gelingt es nach Henkes Aussage den allermeisten, ihre vorher festgelegte wöchentliche Trinkmenge einzuhalten. Nach Behandlungsende bietet er Nachsorge-Stunden an, in denen sich die Klienten in unregelmäßigen Abständen weiter mit ihm austauschen können. „Das erhöht die Chancen auf Erfolg“, sagt er. Und weiter: „Am Schluss sollte es sich so eingependelt haben, dass man ein Niveau hat, mit dem man selbst zufriedener ist und ein besseres Leben führt.“

Manche entscheiden sich nach den elf Stunden auch dafür, gar keinen Alkohol mehr zu trinken, was Henke nur recht ist: „Abstinenz ist eine tolle Entscheidung. Wenn jemand so leben kann: Wunderbar! Ich unterstütze das. Aber es ist einfach nicht für jeden realistisch, weil in unserer Gesellschaft ständig und überall getrunken wird. Es gibt eben Dinge, die sind nicht schwarz und weiß.“

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