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Chronisches ErschöpfungssyndromWenn schon ein Brot schmieren zu anstrengend ist

Lesezeit 7 Minuten
Karin-Münster-Wohnung

Diagnose chronisches Erschöpfungssyndrom: Jede noch so kleine Tätigkeit wird an schlimmen Tagen zum Marathon, zum unbezwingbaren Kraftakt.

Es ist eine einfache Bewegung. Den Arm anheben, ausstrecken, zugreifen und wieder zurückführen. Doch ihre Arme fühlen sich an, als würden schwere Betonklötze an ihnen hängen. Ihre Hände zittern, sie schafft es nicht, nach der Butter zu greifen. Die Aufgabe, an der sie scheitert, scheint so banal, so alltäglich: Karin Münster* wollte sich nur ein Brot schmieren. Ihre Krankheit lässt das aber nicht zu.

Jede noch so kleine Tätigkeit wird an schlimmen Tagen zum Marathon, zum unbezwingbaren Kraftakt. Hinzu kommen die Schmerzen im ganzen Körper. Die 33-Jährige lebt nun seit etwa eineinhalb Jahren mit diesem Zustand – sie hat ME/CFS. Das steht für Myalgische Enzephalomyelitis (ME) und Chronic Fatigue Syndrom (CFS). Hinter diesem komplizierten Namen steckt eine komplexe organische, chronische Krankheit, die ein normales Leben für Betroffene nahezu unmöglich macht.

Einmalige Anstrengungen sind so kräftezehrend, dass Erkrankte sich davon tagelang erholen müssen

Denn alle Symptome eines Betroffenen treten verstärkt nach geringer körperlicher und geistiger Anstrengung auf. Bekannt ist ME/CFS aber vor allem für die chronic Fatigue – im Deutschen auch oft als chronisches Erschöpfungssyndrom übersetzt.

Dadurch wird die Krankheit jedoch verharmlost dargestellt, denn Betroffene wie Münster sind nicht einfach nur erschöpft wie jeder gesunde Mensch nach einer Ertüchtigung. Eine einmalige Anstrengung ist oft so kräftezehrend, dass Erkrankte danach tagelang, manche sogar wochenlang im Bett bleiben müssen, um sich davon zu erholen. In Extremfällen schaffen es ME/CFS-Kranke nicht mehr selbstständig zu laufen, zu sprechen oder zu essen.

Forscher der Aalborg University in Dänemark haben in einer Studie mehrere chronische Krankheiten miteinander verglichen und ordnen ME/CFS den Erkrankungen mit der niedrigsten Lebensqualität zu. Die Schmerzen und die körperliche Einschränkung, die Betroffene tagtäglich ertragen, sind demnach oft schlimmer als beispielsweise bei Multiple-Sklerose-Kranken oder Krebspatienten.

Zur Erschöpfung kommen Herzrasen, Schwindel, Infektanfälligkeit, Schlafstörungen und vieles mehr

Laut Sebastian Musch, einem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, verlieren Menschen mit einem leichten Krankheitsverlauf bereits 50 Prozent ihres vorherigen Leistungsniveaus. Ihre täglichen Energieressourcen sind meistens nach dem Aufstehen, Zähneputzen und Frühstücken verbraucht.

Zusätzlich leiden ME/CFS-Patienten unter zahlreichen weiteren Symptomen, die sich von Fall zu Fall individuell zusammensetzen und ausprägen. Herzrasen, Schwindel, geschwollene Lymphknoten, erhöhte Infektanfälligkeit, Gelenk- und Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Zuckungen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Reizüberempfindlichkeit – das sind nur einige Beispiele, denn die Liste ist lang.

Zuerst wird bei Karin Münster das Pfeiffersche Drüsenfieber diagnostiziert

Bei Münster fängt alles mit starken Halsschmerzen an. Als sie sich deshalb beim Arzt untersuchen lässt, kollabiert ihr Kreislauf und sie kommt ins Krankenhaus. Dort stellen die Mediziner eine Erstinfektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) fest – die damals 32-Jährige hat das Pfeiffersche Drüsenfieber. Wochenlang wohnt sie bei ihren Eltern, denn sie kommt nicht mehr zu Kräften. In der Nacht schwitzt Münster oft die Bettwäsche durch, ihr rast das Herz und ihre gute Aufnahmefähigkeit, auf die die junge Frau immer stolz war, existiert plötzlich nicht mehr.

Zwar leidet Münster schon seit einigen Jahren an chronischen Kopfschmerzen, doch kommt mit der EBV-Infektion ein neuer, ihr bis dahin unbekannter Kopfschmerz hinzu. Die Ärzte schreiben die Symptome dem Pfeifferschen Drüsenfiebers zu. Wie Münster berichten viele ME/CFS-Patienten vom Ausbruch der Krankheit nach einem viralen Infekt, wie der Grippe, dem Norovirus oder dem Pfeifferschen Drüsenfieber. Die genauen Ursachen der Krankheit sind bislang jedoch noch unklar. Einige Studien legen nahe, ME/CFS könnte eine Autoimmunerkrankung sein und geht mit einer schweren Störung im Energiestoffwechsel einher.

Münster ahnt nicht, dass sie nie wieder so gesund wie zuvor sein wird

Münster ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der ME/CFS-Erkrankung und der Tatsache, dass sie ihren früheren Gesundheitszustand nie zurückerlangen wird. Die junge Frau ist eigentlich eine gelernte Kinderkrankenschwester. Seit dem Auftreten der Symptome kann sie aber nicht mehr arbeiten und verbringt den Großteil des Tages auf dem Sofa.

Irgendwann hält Münster das Nichtstun nicht mehr aus und beschließt trotz ihres unveränderten Zustands die Tätigkeit als Krankenschwester wieder aufzunehmen. Drei Stunden Arbeitszeit pro Tag legt sie gemeinsam mit ihrer Hausärztin im Wiedereingliederungsplan fest.

Erst nach mehreren Monaten erhält Münster die richtige Diagnose

Karin Münster kämpft sich von da an durch jeden einzelnen Arbeitstag. Sie ist sehr infektanfällig – ständig steckt sie sich im Krankenhaus an und wird schließlich vom Patientenkontakt abgezogen. Im Schlaflabor der Klinik wertet Münster deshalb Daten aus. Doch die Krankenschwester kann sich kaum konzentrieren und ihr Herz klopft wie verrückt. Jede Nacht wacht Münster nassgeschwitzt auf. Langsam werden in ihr Zweifel wach, ob ihr körperliches Befinden wirklich nur auf das Pfeiffersche Drüsenfieber zurückzuführen ist.

Auch Münsters Vorgesetzter, der Chefarzt der Kinderklinik in München, vermutet eine komplexere Krankheit bei seiner Angestellten und verweist sie an eine ehemalige Studienkollegin. So landet Karin Münster schließlich bei Uta Behrends, der oberärztlichen Leiterin der Spezialsprechstunden für Hämatologie und Immunologie an der Kinderklinik München-Schwabing. Die Ärztin erforscht mit EBV-assoziierte Krankheiten und somit auch ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen und kommt zum Schluss: Münster leidet tatsächlich unter ME/CFS.

Die Versorgungslage in Deutschland macht Betroffenen das Leben zusätzlich schwer

Mit diesem Wissen gehört Münster zu einer Minderheit – man geht davon aus, dass die Krankheit bei rund 90 Prozent der Betroffenen nicht oder nicht richtig erkannt wird, wie Sebastian Musch, Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für ME/CFS, erklärt. Denn gegenüber schätzungsweise 240.000 Betroffenen in Deutschland stehen nur zwei Ambulanzen – eine an der Charité in Berlin und eine an der Kinderklinik München-Schwabing. Die Immundefektambulanz in Berlin nimmt aufgrund der hohen Nachfrage jedoch nur noch Patienten aus Berlin und Brandenburg auf und in München haben sowieso nur Kinder und Jugendliche eine Chance auf Fachärztliche Betreuung. Karin Münster ist hier eine Ausnahme.

Es gibt keine Behandlung und kein Medikament gegen die Krankheit

Obwohl Münster nun von ihrer Erkrankung weiß und eine kompetente Spezialistin an ihrer Seite hat, gibt ihr die Diagnose keine Zuversicht. Denn für ME/CFS gibt es bisher keine Behandlung, die eine Heilung in Aussicht stellt. Betroffene können lediglich lernen, mit ihrer Energiekapazität vorsorglich zu wirtschaften, um eine Verschlimmerung der Symptome zu verhindern. „Es gibt kein Medikament, die Krankheit ist noch nicht so richtig erforscht und niemand kann mir eine Prognose geben. Ich weiß nicht, wie es mir in sechs Monaten gehen wird – das ist eine wahnsinnige psychische Belastung für mich“, erzählt Münster.

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„Als hätte ich Betonklötze an den Beinen“

Die Krankheit ist plötzlich so schlimm wie noch nie. Zu den zahlreichen bereits vorhandenen Symptomen kommen auch noch Muskel- und Gelenkschmerzen hinzu – Münsters Nerven sind überempfindlich. An besonders heftigen Tagen schläft die junge Frau schlecht, jegliche Berührung ihres Körpers mit der Bettdecke schmerzt. „Nach dem Aufstehen muss ich für die wenigen Schritte vom Bett bis zum Bad unglaublich viel Energie tanken, als wäre ich ein Gewichtheber, der hundert Kilo stemmt. Nach dem ersten Schritt merke ich dann bereits, dass weder meine Muskeln, noch meine Gelenke meinen eigenen Körper halten können. Als hätte ich Betonklötze an den Beinen“, so beschreibt Münster den Morgenprozess an schlechten Tagen.

„Ich musste meine Persönlichkeit wegen der Krankheit aufgeben“

Momentan hat sich Karin Münsters Zustand wieder etwas gebessert. Den normalen Alltag kann sie meistens bewältigen. Das Leben, welches sie vor der Erkrankung geführt hat, scheint für sie trotzdem unendlich fern. Am sozialen und gesellschaftlichen Leben teilhaben – das ist für die junge Frau kaum noch möglich. Ihre Energie reicht selbst an guten Tagen gerade einmal aus, um etwa mit einer Freundin Kaffee trinken zu gehen.

„Ich musste meine Persönlichkeit wegen der Krankheit aufgeben. Eigentlich bin ich eine junge Frau, die leben will und nicht nur überleben. So kommt es mir aber seit 16 Monaten vor“, beschreibt Münster ihre aktuelle Situation.

Für die Zukunft hat sie sich trotzdem Ziele festgesetzt. Mit ihrer Psychotherapeutin arbeitet sie gerade an einer Methode, um zumindest die ständigen Schmerzen ertragbarer zu machen. So hofft Karin Münster, irgendwann mit ihrer Krankheit besser umgehen zu lernen, um wieder arbeiten zu können. Die junge Frau möchte außerdem gemeinsam mit ihrer Ärztin Uta Behrends eine Selbsthilfegruppe aufbauen, um anderen Betroffenen irgendwann die Bewältigung des alltäglichen Lebens mit ME/CFS zu erleichtern.

*Name von der Redaktion geändert

Dieser Artikel ist zuerst bei Focus Online erschienen.

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