Diagnose DemenzWas Experten darunter verstehen – und wie man vorbeugen kann

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Dr. Özgür Onur ist leitender Oberarzt für Neurologie an der Uniklinik Köln. Er weiß, was im Gehirn von dementen Personen vorgeht.

  • Mit den drei Universitätskliniken Köln, Bonn, Düsseldorf und akademischen Lehrkrankenhäusern ist die Region ein Spitzenstandort der medizinischen Forschung.
  • Wer hier wohnt, an Krebs erkrankt, an Hör- oder Gelenkschäden leidet, sich vor Demenz fürchtet oder allergisch auf bestimmte Arzneimittel reagiert, kann unmittelbar vom Know-how der Spezialisten profitieren.
  • Wie sehr, das zeigt die Serie des Kölner Stadt-Anzeiger mit Experten-Interviews, vor allem aber durch die Erfahrungsberichte erfolgreich behandelter Menschen.
  • Dr. Özgür Onur ist leitender Oberarzt an der Klinik für Neurologie der Uniklinik Köln. Er klärt im Interview über Demenz auf.

Herr Prof. Onur, Demenz ist mittlerweile nach Krebs die meist gefürchtete Krankheit der Bundesbürger. Umgangssprachlich wird Demenz mit Alzheimer gleichgesetzt. Dr. Özgür Onur: Das ist falsch. Demenz ist der Oberbegriff. Alzheimer ist nur eine Form von vielen. Wir haben gelernt, verschiedene Demenzformen zu unterscheiden und zu differenzieren. Deshalb sehen wir auch immer neue Unterschiede, was das Therapeutische angeht. Wir sind mittlerweile überzeugt, dass viele Studien zu Alzheimer-Medikamenten fehlgeschlagen sind, weil wir ein Gemisch aus Demenzformen mit verschiedenen beteiligten Proteinen untersucht haben und selbst von Alzheimer gibt es Unterformen.

Äußern sich diese anders?

Da steht dann nicht die Vergesslichkeit im Vordergrund. Ich hatte einen an sich unauffälligen Patienten, der anfänglich hauptsächlich Koordinationsprobleme hatte. Er konnte z.B. nicht ins Auto einsteigen. Drei meiner Patienten irrten von Augenarzt zu Augenarzt, weil sie schlecht sahen. Ihre Augen waren aber gesund. Die Sehrinde im Gehirn war von Alzheimer-typischen Eiweißverklumpungen betroffen. Einige Demenzformen überlappen mit Parkinson.

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Wie wird eine Demenz seriös und sicher diagnostiziert?

Der erste Schritt nach der Anamnese (Arzt-Gespräch über Vorgeschichte einer Krankheit) ist immer die neuro-psychologische Testung. Zeigen sich hierbei keine Defizite, machen wir in der Regel keine weiteren Tests. Denn die bloße Tatsache, ein bisher irrelevantes Risiko zu kennen, kann an sich belastend sein. Veränderungen im Gehirn sind teilweise 10, 20 Jahre vorab feststellbar, immer ohne zu wissen, wie schnell sie fortschreiten. Aber Angst, Stress und Depressionen vor lauter Sorge können an sich Risikofaktoren sein, dass man später tatsächlich Alzheimer oder eine andere Form von Demenz entwickelt.

Was passiert bei auffälligem Test-Befund?

Der nächste Schritt ist die Bildgebung, eine Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT). Danach eine Nervenwasserpunktion. Der Nachweis typischer Eiweißablagerungen (Amyloide) und des pathologischen Tau-Proteins ist mit ca. 90-prozentiger Sicherheit Alzheimer. Ist auch dieser Befund unklar, schließt eine PET-Diagnostik (Positronen-Elektronen-Tomographie) an.

Welche Demenz-Formen treten in jüngeren Jahren auf?

Zahlen- und anteilsmäßig rückt in jüngeren Jahren, obwohl auch dort Alzheimer die häufigste Demenz-Form ist, die Frontotemporale Demenz (FTD) in den Vordergrund. Das bei der FTD betroffene TDP 43-Protein wurde zufällig bei HIV, später auch ALS gefunden. Von beiden Krankheiten gibt es übrigens Unterformen mit Demenz. Menschen mit FTD verwechseln z.B. Worte, die Sprache verarmt. Sie sprechen immer weniger, irgendwann gar nicht mehr. Ich kenne eine Akademikerin, eine hochgebildete Frau, die das Wort Islam las und nicht mehr wusste, was das ist. Typisch für die FTD sind auch Verhaltensänderungen. Die Patienten zeigen inadäquates, manchmal asoziales Verhalten. Das kann manchmal lustig ins Persönliche gehen – wir haben hier einen Klienten, der umarmt jeden – andere werden in hohem Alter sexuell aktiv, aggressiv oder betteln Leute an. Im MRT und auch im PET zeigt die Frontotemporale Demenz ein deutlich anderes Muster als andere Demenzformen. Die Schrumpfung der Hirnmasse erfolgt eher im vorderen Hirnbereich, also frontal (im Stirnlappen) und temporal (im Schläfenlappen), daher der Name. FTD-Betroffene haben aber ein ganz normales unauffälliges Hirnwasser. Das veränderte TPD 43-Protein ist erst in speziellen Hirnschnitten nach dem Tod feststellbar. Über FTD wird in Medien viel berichtet. Aber selbst in unserer sehr großen Ambulanz sehen wir sie relativ selten, vielleicht bei drei von rund 50 Patienten pro Monat.

All diese Unterschiede klingen, als wäre ein nicht auf Demenz spezialisierter Arzt schnell mit der Diagnose überfordert.

Demenz-Diagnosen sind eher selten total klar. Wir haben an der Uniklinik Köln ein Demenz-Board, wo wir an einem großen Tisch mit allen beteiligten Disziplinen die Befunde besprechen. Etwas Vergleichbares gibt es weltweit nur selten. Wir betreiben allerdings auch viel Grundlagenforschung. Diese Forschung ist hochrelevant für die Zukunft. So sind wir gut vorbereitet, wenn es neue Behandlungsansätze gibt.

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Gibt es denn auch Erkenntnisse, die schon Hier und Jetzt Hoffnung machen?

Es gibt sehr viele Hinweise, dass geistig aktive Menschen sehr viel später massive Ausfälle entwickeln. Ich betreue eine pensionierte Ärztin, ihr Gehirn ist hochgradig krankhaft verändert, aber außer dass sie Sachen durcheinanderbringt, geht es ihr sehr gut. Kürzlich hat sie drei Termine gemacht, mit demselben Anliegen, weil sie immer wieder vergaß, dass sie bereits einen hatte. Aber es gibt viele andere Patienten mit deutlich weniger pathologischen Veränderungen, die viel, viel schlechter dran sind als diese Frau, was zeigt, dass die reine Anatomie kein Maßstab ist. Das Gehirn ist trainierbar.Wer in jungen und mittleren Jahren Reserven aufbaut, kommt im Alter besser klar. Eine vielleicht angelegte Demenz tritt dann nicht mit 70, sondern erst mit 80, 90 oder 100 Jahren auf. Diese Phase erlebt dieser Mensch dann vielleicht gar nicht mehr. In England hat man ein Dorf intensiv untersucht und eine 20-Jahres-Prognose über die Zahl der von Demenz Betroffenen gestellt. Ergebnis: Die Menschen sind so alt geworden wie vorhergesagt, aber der Anteil der Demenz-Betroffenen war sehr viel geringer als gedacht. Auch Sport und Bewegung, eigentlich gedacht fürs Herz, wirkt positiv auf das Gehirn. Dieser Effekt ist bei Männern übrigens noch ausgeprägter als bei Frauen.

Ist Stress ein Risiko-Faktor?

Stress spielt im Zusammenhang mit der Entstehung von Demenz eine sehr große Rolle. Positiver Stress hilft dem Hirn. Aber wenn die Belastung in eine dauerhafte Überforderung kippt, wirkt sich das negativ auf den Pegel des Stresshormons Cortisols aus. Ständig erhöhte Cortisolwerte führen schneller zu einem atrophischen, also schrumpfenden Gehirn. Dieser Prozess betrifft Menschen mit Depressionen, Burnout und chronischem emotionalem Stress, der schlecht verarbeitet wird. Ich bin selber türkischstämmig und treffe viele Menschen, die unter sehr schweren Bedingungen gearbeitet habe. Obwohl sie als überdurchschnittlich gesunde Arbeitskräfte einwanderten, brechen in dieser Bevölkerungsgruppe Demenzerkrankungen früher und häufiger aus, als man es erwarten würde. Aber auch der Ford-Arbeiter, der jahrelang im Akkord geschuftet hat und dann früh mit einer Abfindung aus dem Job ausscheidet, trägt ein spezielles Risiko. Denn umgekehrt wirkt sich auch in Untätigkeit zu verfallen erwiesenermaßen schlecht auf die Hirnfunktion aus. Es gibt erste Zahlen, die genau dies zeigen.

Raten Sie zu Demenz-Früherkennung? Ab wann?

Hirnscans werden gegen Bares ja durchaus angeboten. Seit fünf, sechs Jahren sehen auch wir an der Uniklinik einen gewissen Trend zur Früherkennung auf Demenz. Immer mehr Menschen, teils schon ab Mitte 40 oder 50, sorgen sich, weil sie schwere Fälle von Demenz in der Familie hatten, oder glauben, Ausfälle zu haben, und wollen sich testen lassen, selbst wenn wir ihnen sagen, dass wir – noch – keine therapeutischen Möglichkeiten haben, falls wir etwas Auffälliges feststellen sollten. Letztendlich führen wir die weitergehende Diagnostik nicht durch, wenn wir keinerlei Defizite finden. Lassen sich Defizite objektivieren, auch bei Jüngeren, bieten wir Folgeuntersuchungen an.

Aber was passiert, wenn dann statt der Beruhigung eine Bestätigung kommt…

Die Diagnose ist auch bei frühem Erkennen ein großer Schock. Aber viele Patienten kommen auch ein Jahr später wieder und sagen: das klingt zwar komisch, Dr. Onur, aber mir geht es besser, weil ich weiß, warum ich diese Defizite habe und meine Familie und ich können mit diesem Wissen besser mit den Problemen umgehen. Die Zahl derer, die offen mit Demenz umgehen, steigt. Es ist ein Fakt, dass unser Hirn mit dem Alter schrumpft, Zellen absterben. Das wird im Laufe seines Lebens jeder erleben, es passiert sehr langsam. Bei Demenzen betrifft die Schrumpfung erst bestimmte Hirnbereiche, bleibt aber nicht stehen, sondern schreitet fort und breitet sich über das gesamte Gehirn weiter aus. Diese Prozesse zu bremsen oder zu verhindern ist die große Herausforderung für uns Ärzte.

Wie kann ich selber vorbeugen?

Gesund leben. Sich bewegen, geistig und sozial aktiv sein. Im mittleren Alter ist das schlechte Hören ein sehr großer Risikofaktor. Es steigert das Risiko an einer Demenz zu erkranken um fast 8 Prozent. Da empfehlen sich frühzeitig Hörgeräte um vorzubeugen. Ich mit meinen 43 Jahren trage selber zwei. Wer systematisch vorsorglich etwas tun möchte: Die Kollegen der Psychiatrie an der Uniklinik Köln haben das erste Präventionszentrum für Demenz in Deutschland gegründet. Hier können sich Menschen speziell beraten, in Info-Listen einschreiben, sich testen lassen und an eventuell passenden Studien teilnehmen. Wir vermuten sehr stark, dass man größere therapeutische Effekte erzielen kann, wenn man in einer frühen Phase möglichst noch vor Ausbruch der Demenz interveniert, gerade nicht-medikamentös. Schon ein sechswöchiges Training kann das Gehirn positiv verändern, zeigte ein Versuch mit einer Art Gesellschaftsspielen. Auch Meditation kann zur Besserung beitragen. Die entsprechende Studie wurde gerade abgeschlossen.

Formen der Demenz

1) Lewy-Körperchen-Variante

Die Lewy-Körperchen-Variante ist eine Kombination aus Demenz und Parkinson, die eher jüngere Senioren trifft. Sie zeigt andere spezielle Schrumpfungsmuster im Gehirn und Betroffene haben häufig schon sehr früh Halluzinationen und Phasen von Abwesenheit.

2) Vaskuläre Demenz

Bei der Vaskulären Demenz sieht man im MRT Mikro-Durchblutungsstörungen als größere weiße Flecken, sie sind Folge von Mini-Schlaganfällen. Sie müssen schon ein gewisses Ausmaß haben, um demenztypische Ausfälle zu bewirken. Gründe der weißen Flecken können ein schlecht eingestellter Blutdruck, Diabetes, starkes Rauchen sein. Insofern können Betroffene selber dazu beitragen, dass diese Form nicht fortschreitet.

3) Korsakow-Syndrom

Das gilt auch für das Korsakow-Syndrom, eine alkoholbedingte Demenz. Letztendlich ist Alkohol ein Nervengift, das zu viel, zu lange, zu häufig konsumiert zu Schrumpfungen in bestimmten Hirnarealen führt. Ein Glas Wein mag gut fürs Herz sein, fürs Gehirn ist dies der Alkohol nie. Obschon auch das seelische Vergnügen am geselligen, genussvollen Konsum ein gewisser Nutzen sein kann.

4) Altershirndruck

Ab 60, 70 Jahren ist der sog. Altershirndruck noch eine relevante Ursache für eine Gedächtnisstörung, wobei es sich aber nicht um eine Demenz handelt. Dabei ist zu viel Nervenwasser im Kopf. Wenn sich die flüssigkeitsgefüllten Räume erweitern, entsteht eine Druckerhöhung. Das passiert hauptsächlich im Schlaf. Ein Altershirndruck wird mittels testweiser Punktion von 30 bis 40 ml Hirnwasser festgestellt. Wenn sich die Symptome hierdurch bessern, setzt der Neurochirurg einen sog. Shunt, einen feinen Schlauch, ein, der kontinuierlich Nervenwasser ableitet. Dann kann sich das Gedächtnis wieder bessern.

5) LATE

Und bei sehr alten Menschen, die sich verhalten, als hätten sie Alzheimer, ohne dass im Nervenwasser die sonst sicheren Belege hierfür zu finden sind, gibt es eine ganz neu entdeckte Form, abgekürzt LATE. Das Wissen hierüber ändert in der Akutsituation der Betroffenen nichts, es macht aber z.B. keinen Sinn diese Menschen mit Alzheimer-Medikamenten zu behandeln und Angehörige können ihren Umgang mit diesem Menschen entsprechend anpassen.

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